Der Psychiater Manfred Lütz, bekannt als Atheismus- und Evangelikalenkritiker (Gott: Eine kleine Geschichte des Größten), rechnet in einem Beitrag für den Rheinischer Merkur mit den Moden- und Milieustudien ab und warnt die Kirchen davor, jedem neuen Trend hinterherzulaufen:
Aber auch weniger revolutionäre Menschen brauchen ihre unhinterfragten Normalitäten. Als die Kirchen sich jüngst überlegten, wie sie die Menschen besser da abholen könnten, wo sie sind, mietete man einige gescheite Soziologen; die stellten erwartungsgemäß genau das fest, was Soziologen immer feststellen: Dass es nämlich »die Menschen« gar nicht gibt. Es gebe, so hätten sie herausgefunden, ganz verschiedene sogenannte Sinusmilieus, in denen sich das unstillbare Normalitätsbedürfnis der Menschen heute austobt. Solche gesellschaftlichen Kuschelecken sind vor allem durch ihre unvergleichliche Ästhetik charakterisiert. Da gibt es das »traditionsverwurzelte« rustikale Milieu mit dem röhrenden Hirsch über der Wohnzimmercouch, die »etablierte« abgefahrene Wohnungsinstallation mit hypermoderner Kunst und die »postmaterielle« ökologisch durchgestylte Wohnlandschaft, von der in künftigen Jahrhunderten archäologisch nichts mehr gefunden wird, da sie dann längst vollständig kompostiert worden ist. Auch die genauso eintönigen Mainstream-Milieus, in denen Normalität normal ist, und die hedonistischen Milieus, in denen Spaß haben Bürgerpflicht ist, machen die Sache nicht besser.
Es gibt nun Kirchenvertreter, die passgenaue Botschaften in diese Milieus senden wollen. Doch damit ist die Funktion seriöser Religion verkannt. Religion ist eine wichtige Irritation, die die Menschen aus ihrer Alltäglichkeit herausreißen kann. Sie könnte im Grunde all die blödsinnig normalen, gegen anders eingerichtete sorgfältig abgeschotteten Kreise erfolgreich aufmischen. Das hätte Pep. Dagegen ist eine stromlinienförmig angepasste Soft-Religion, die so blödsinnig normal wird, wie es die blödsinnig Normalen sowieso schon sind, überflüssig wie ein Kropf. Manchmal weiß man nicht, wen man verrückter finden soll: diejenigen, die in derartigen Welten leben, oder diejenigen, die an diese Welten wirklich glauben, als seien sie nicht bloß interessante soziologische Beschreibungen, sondern handfeste urwüchsige Realitäten. Doch in Sinusmilieus ist überhaupt nichts verrückt, da ist alles exakt an seinem Platz.
Hier der vollständige Artikel: www.merkur.de.
Sein neues Buch:
- Manfred Lütz: Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen – Eine heitere Seelenkunde, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, 192 S., 17,95 Euro
kann hier bestellt werden (die Seite bietet auch ein Werbevideo zum Buch an):
Interessieren würde mich, inwiefern Lütz ein Evangelikalenkritiker ist
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