Rechtes Christentum
Der kanadische Religionsphilosoph Charles Taylor hat in seinem Buch Das säkulare Zeitalter den Begriff „Soziales Vorstellungsschema“ entwickelt. Er beschreibt damit Überzeugungen, Verhaltensweisen, normativen Erwartungen und unbewussten Annahmen, die Angehörige einer Gesellschaft teilen und die ihren Alltag prägen. Zusammengefasst ist das soziale Vorstellungsschema die Art und Weise, wie Menschen sich die Welt vorstellen und intuitiv in ihr handeln.
Wie deutlich sich das Soziale Vorstellungsschema in den letzten Jahren auch in kirchlichen Kreisen gewandelt hat, offenbart ein frischer Text aus der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Martin Fritz geht dort der Frage nach, was „rechte Christen“ sind und wie man mit ihnen umgehen soll. Kurz: Wer die Sexuelle Revolution für eine Fehlentwicklung hält, wer für das Lebensrecht eintritt, wer gelebte Homosexualität nicht bejaht, wer die Verflüssigung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterrollen (vgl. Judith Butler) ablehnt, ist laut Fritz im Netz einer rechtschristlichen Anti-Haltung gefangen. Wörtlich schreibt er:
Die Basis rechtschristlicher Anti-Haltung ist ein umfassendes Krisenbewusstsein. Die Protagonisten leiden an den kulturellen Wandlungen, die sie oftmals mit dem Symboljahr „1968“ verbinden und als allgemeinen „Linksruck“ beschreiben. Sexuelle Revolution, Straffreiheit von Abtreibung, Legalisierung und Akzeptanz der Homosexualität (bis hin zur „Homo-Ehe“), Verflüssigung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterrollen („Genderismus“) – der Umbruch in diesen sexual- und genderethischen Fragen wird von vielen als „Kulturbruch“ empfunden. Hinzu kommen die ethnisch-kulturellen Verschiebungen durch die „Masseneinwanderung“, gerade aus mehrheitlich muslimischen Ländern, aber auch die Transformationswirkungen von globalisiertem Kapitalismus und technischem Fortschritt, die in der Wahrnehmung vieler eine geistentleerte Kultur der Zerstreuung und des Konsumismus hervorgebracht haben. Die öffentlich und mit Nachdruck erhobenen Forderungen radikalen Umdenkens und Umsteuerns in Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung und Diskriminierungsprävention (Postkolonialismus, „Wokismus“, Gendersprache) sowie des Umwelt- und Klimaschutzes („Ökologismus“) werden schließlich von nicht wenigen als bedrohliche Eingriffe in ihre bewährten Selbstverständnisse und Lebensgewohnheiten erlebt.
Nun enthalten diese Behauptungen ja nichts Neues. Bezeichnend für den Wandel des Soziales Vorstellungsschemas ist die Tatsache, dass diese Zuschreibungen, die wir seit Jahren aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU oder TAZ kennen, aus der EZW stammen.
Die EZW ist die Nachfolgeorganisation der Apologetischen Centrale, die nach dem Ersten Weltkrieg durch Innere Mission in Berlin gegründet wurde. Geleitet wurde sie viele Jahre von Walter Künneth (1901–1997). Künneth hat den Einsatz für das Lebensrecht, die historische christliche Sexualethik und die binäre Geschlechterordnung als wesensmäßig für den christlichen Glauben verstanden. Auch wenn er Vorbehalte gegenüber den Ideen einer „Schöpfungsordnung“ oder dem „Naturrecht“ hegte (weil er hier die Auswirkungen der Sünde zu wenig berücksichtigt fand), trat er doch entschieden für eine göttliche „Erhaltungsordnung“ ein, die der Kirche in der Botschaft der Heiligen Schrift anvertraut ist.
Aus der Sicht von Martin Fritz sind „ordnungstheologische Figuren“, egal, wie sie letztlich genannt werden, bereits Kennzeichen eines „rechten Christseins“ und damit Verirrungen. Es werden weltliche Vorstellungsschemata herangezogen, um christliches Denken und Leben zu dekonstruieren.
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