Philosophie

Christentum und funktionaler Liberalismus

Unter einem „theologische Liberalismus“ können sich viele Leute etwas vorstellen. Sie denken dabei beispielsweise an Friedrich Schleiermacher oder Ernst Troeltsch. Aber schon mal was von einem „funktionalen Liberalismus“ gehört?

Der funktionale Liberalismus unterscheidet sich vom bekannten „alten Liberalismus“, indem er den Lehrbekenntnissen offiziell zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, „indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt“.

Doug Ponder und Bryan Laughlin haben das näher herausgearbeitet: 

Während Machen über das Christentum und den Liberalismus schrieb, schreiben wir, dazu ergänzend, eine Art Anhang über das Christentum und den funktionalen Liberalismus.13 Wir nennen ihn „funktionalen Liberalismus“ (und nicht Liberalismus simpliciter), weil diese Sorte des Virus im Gegensatz zur Bedrohung zu Machens Zeiten nicht die gleichen Symptome aufweist (auch wenn er eine ähnliche Ursache hat). Machens Liberale waren Modernisten, die offen die Zuverlässigkeit der Bibel, die Realität des Übernatürlichen, die Notwendigkeit des Sühneopfers und die physische Auferstehung Jesu Christi von den Toten leugneten. Wie die berühmte Karikatur von E.J. Pace aus dem Jahr 1922 illustriert, vollzog sich die Abkehr der Liberalen vom Glauben oft in Etappen, wobei die Wahrhaftigkeit der Bibel als Erstes infrage gestellt wurde. Es gibt noch einige wenige Liberale dieser Art. Aber diejenigen, die an dem Glauben festhalten, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist (vgl. Jud 3), sind – zum großen Teil dank Machen und seinen Erben – nicht versucht, sie als Teil des Leibes Christi anzuerkennen (vgl. 1Joh 2,19).

Das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist von einer etwas anderen Art. Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt. Wir sind nicht die Ersten, die diese Beobachtung machen. Irgendwo in den Annalen von D.A. Carsons gewaltigem Werk findet sich ein Vortrag, in dem er eine eindringliche Warnung ausspricht: „Die Zukunft des Liberalismus in den amerikanischen Gemeinden wird nicht so aussehen wie vor einem Jahrhundert. In konservativen Seminaren und Gemeinden wird es keine schamlose Verleugnung zentraler Lehrsätze geben, um die in der Vergangenheit Schlachten ausgetragen wurden. Stattdessen werden dort Leute auftreten, die behaupten, die Lehren zu bekräftigen, während sie sie durch subtile, aber substanzielle Neuinterpretationen untergraben.“

Ein wichtiger Aufsatz, auch wenn seine Beispiele alle aus Nordamerika stammen.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Michel Foucault

Michel Foucault gehört zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Er hat es geschafft, seine Ideen in der breiten Gesellschaft zu etablieren und spielt heute zum Beispiel in der Pädagogik eine große Rolle. Ich habe im TheoBlog mehrfach Stellung bezogen und etwa darauf verwiesen, dass zumindest für den frühen Foucault zur Entzauberung des Subjekts die Abschaffung von Verboten gehörte: „Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufbrechung aller Verbote und Einschließungen, durch die sich die normative Individualität konstituiert und sichert. Ich denke da an alle Erfahrungen, die unsere Zivilisation verworfen hat oder nur in der Literatur zuläßt“ (Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, 1987, S. 95).

Es ist erfreulich, dass der christliche Denker Christopher Watkin ein Buch über Michel Foucault geschrieben hat. Daniel Vullriede stellt es vor und erwähnt Stärken wie Schwächen:

Ein überaus einflussreicher Denker des letzten Jahrhunderts war der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984). Wer sich z.B. ernsthaft mit dem Phänomen der Postmoderne auseinandersetzen möchte, wird um diesen intelligenten atheistischen Denker nicht herumkommen.

Auch wenn Foucault sich selbst nicht als postmodernen Denker sah und nicht die einzige Schlüsselperson für diese Epoche ist; auch wenn der Höhepunkt der Foucault-Renaissance längst überschritten ist – seine Thesen und Anfragen waren rückblickend ein Katalysator für den westlichen Kulturkreis. Sie lassen sich noch heute im Bereich der Philosophie, Soziologie, Pädagogik, Kunst, sowie in den Politik-, Geschichts-, Kultur-, Medien- und Sprachwissenschaften, und nicht zuletzt in den unterschiedlichsten Ansätzen der Gender Studies ablesen. Doch wofür stand der französische Philosoph und wie können sich Christen zu ihm positionieren?

Um Foucaults Werk und Person zu verstehen, bietet Christopher Watkin eine kompakte, gut lesbare und zugleich tiefgehende Einführung. Der britische Autor arbeitet als Professor für französische Literatur und Philosophie an der australischen Monash University (Melbourne). Er zeigt, wie man sich Foucault neugierig und kritisch nähern kann, entwickelt dabei aber einen ganz eigenen Ansatz, der den Lesern kernige Alternativen zu Foucault bietet.

Für wen ist dieses Buch interessant? Christen, die philosophisch, theologisch oder apologetisch interessiert sind, werden hier eine gelungene Analyse finden; ebenso Gläubige, die im Bereich der Sozial- und Verhaltenswissenschaften unterwegs sind. Auch Leser mit ganz anderen Überzeugungen und einer atheistischen Weltanschauung können viel von Watkins Studie lernen und ihn als angenehmen, fairen und herausfordernden Gesprächspartner wahrnehmen.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Emmanuel Todd: Niedergang des Westens

1976 sagte der französische Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Jetzt spricht er davon, dass der Westen untergeht, weil es nichts mehr gibt (vor allem keine Religion), was ihn zusammenhält. Mich kann er nicht in allem überzeugen. Doch erkenne ich indem, was er in seinem Buch La Défaite de l’Occident und der WELT in einem Interview gesagt hat, einige Wahrheitsmomente. Wenn er das sinkende Bildungsniveau benennt und davon spricht, dass die Trans-Ideologie Ausdruck des Nihilismus ist, der sich im Westen ausgebreitet hat, dann stimme ich zu.

Hier zwei Zitate: 

In meinem Buch lasse ich die Luft aus dem Bruttoinlandsprodukt der USA und zeige die tief greifenden Ursachen für den industriellen Niedergang des Landes auf: die unzureichende Ausbildung von Ingenieuren und ganz allgemein ein seit 1965 sinkendes Bildungsniveau. Der zweite Faktor, der maßgeblich zum Untergang des Westens beigetragen hat, ist das Verschwinden des amerikanischen Protestantismus. Mein Buch ist im Grunde eine Fortsetzung von Max Webers Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.

Ich wurde von einer Großmutter aufgezogen, die mir erklärte, dass in sexueller Hinsicht alle Vorlieben auch in der Natur vorkommen, und ich bin meinen Vorfahren treu. Willkommen also, LGB. Was das T betrifft, also das Thema Trans, das ist doch etwas anderes. Die betroffenen Personen müssen natürlich geschützt werden. Doch die Fixierung der westlichen Mittelschicht auf dieses Thema, das doch nur eine winzige Minderheit betrifft, wirft eine soziologische und historische Frage auf. Am sozialen Horizont jedoch die Vorstellung zu konstituieren, dass ein Mann tatsächlich eine Frau und eine Frau ein Mann werden kann, das bedeutet, etwas biologisch Unmögliches zu behaupten, die Realität zu leugnen und etwas Falsches zu verbreiten. Die Trans-Ideologie ist meiner Ansicht nach eine der Fahnen des Nihilismus, die mittlerweile den Westen bestimmen, und ein Drang zur Zerstörung, nicht einfach nur der Dinge und Menschen, sondern auch der Realität.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Die Lehre vom Zweifel

Michael Polany bläst hier in das gleich Horn wie Alvin Plantinga (Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie, 2023, S. 445–446):

Mein Entschluss, meine Grundüberzeugungen mit philosophischen Mitteln zu bekunden, muss erst noch in ganzheitlicher Form dargelegt werden. Doch zunächst müssen wir uns von einem Vorurteil befreien, das sonst die Moral unseres ganzen Unterfangens untergräbt.

Während der gesamten kritischen Periode der Philosophie galt es als selbstverständlich, dass die Bejahung unbewiesener Überzeugungen die bequeme Straße in Richtung Finsternis darstellt, während man sich der Wahrheit auf dem geraden und engen Pfad des Zweifels nähert. Es wurde die Warnung ausgesprochen, dass uns seit frühester Kindheit eine Vielzahl unbewiesener Überzeugungen eingeflößt worden sei. Religiöse Dogmen, die Autorität der antiken Denker, die Lehren der Scholastiker, die Sprüche der Kinderstube – sie alle formten zusammen ein Korpus von Überlieferungen, die wir nur deshalb zu akzeptieren geneigt seien, weil diese Überzeugungen vorher schon von anderen vertreten worden waren, die wollten, dass wir sie auch unsererseits übernähmen. Wir wurden dazu angehalten, uns gegen den Druck dieser traditionsgebundenen Indoktrinierung zu wehren, indem wir das Prinzip des philosophischen Zweifels dagegen in Stellung brächten. Descartes erklärte, der universelle Zweifel solle seinen Geist von allen Meinungen säubern, die bloß auf Treu und Glauben angenommen worden waren, um ihn der fest in der Vernunft wurzelnden Erkenntnis zu öffnen. In seinen strikteren Formulierungen verbietet uns das Prinzip des Zweifels, überhaupt etwas glauben zu wollen, und es verlangt, dass wir den Geist lieber leer lassen sollen, als zu gestatten, dass Überzeugungen von ihm Besitz ergreifen, die nicht unwiderleglich sind. In der Mathematik, sagt Kant, gibt es keinen Platz für bloßes Meinen, sondern nur für echtes Wissen: »man muss wissen, oder sich alles Urteilens enthalten.«

Die Methode des Zweifels ist eine logische Folge des Objektivismus. Sie verlässt sich darauf, dass die Ausmerzung aller willensgebundenen Komponenten des Glaubens einen Wissensrest übrig lässt, der zur Gänze von objektiven Belegen bestimmt wird. Auf diese Methode hat sich das kritische Denken uneingeschränkt verlassen, um Irrtümer zu vermeiden und die Wahrheit zu erhärten.

Nun möchte ich keineswegs behaupten, dass diese Methode während der Periode des kritischen Denkens immer oder überhaupt irgendwann einmal in strenger Form angewandt worden ist (das ist ja nach meiner Überzeugung unmöglich). Vielmehr möchte ich bloß sagen, dass man sich emphatisch zu ihrer Anwendung bekannt hat, während man sich nur unauffällig und nebenbei dafür ausgesprochen hat, sie zu lockern. Zugegeben, Hume war in dieser Hinsicht ziemlich freimütig. An den Stellen, wo er den Schlussfolgerungen der eigenen Skepsis nicht aufrichtig Folge leisten zu können meinte, beschloss er unverhohlen, sie beiseitezuschieben. Dennoch unterließ auch er es einzuräumen, dass er damit seine eigenen persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck brachte. Ebenso wenig hat er sein Recht in Anspruch genommen und seine Pflicht angenommen, sich zu diesen Überzeugungen zu bekennen, sobald dies darauf hinauslief, Zweifel zu ersticken und die strikte Objektivität fallenzulassen. Seine Abweichungen von der Skepsis blieben streng genommen inoffiziell und gehörten nicht in expliziter Form zu seiner Philosophie. Kant hingegen nahm diesen Widerspruch ernst. Er unternahm die übermenschliche Anstrengung, sich der durch Humes Erkenntniskritik sichtbar gewordenen Situation zu stellen, ohne eine Lockerung des Zweifelsprinzips zuzulassen. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten schreibt Kant: »Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwütfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen kann. Es ist hiebei gar nichts zu furchten, wohl aber zu hoffen, nämlich, daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet.«

Schon seit Langem hat sich gezeigt, dass Kants Hoffnungen auf ein unbestreitbares Reich der Vernunft zu hoch gegriffen sind. Aber die Leidenschaft des Zweifelns ist auch heute noch spürbar.

Michael Polany: Personales Wissen – endlich in deutscher Sprache

Endlich ist das Buch Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie von Michael Polany in deutscher Sprache erschienen. Der renommierte Übersetzer philosophischer Werke, Joachim Schulte, hat es für den Suhrkamp Verlag glanzvoll übertragen. Rebekka Ladewig hat das Projekt geleitet und das Buch mit einem Nachwort und Register versehen. Der Verlag schreibt über das Buch:

In seinem zum Klassiker gewordenen Buch Personales Wissen von 1958 legt Michael Polanyi das Augenmerk auf die personengebundenen Elemente wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse – auf Erfahrung und Vorwissen, Geschicklichkeit und Können. Mit dieser Intervention leuchtet er den blinden Fleck einer am Objektivitätsideal ausgerichteten Wissenschaftslogik aus, nämlich den verkörperten, vergesellschafteten Forscher selbst. Als „personales“ und in der Folge als „implizites Wissen“ konzeptualisiert, ist sein epistemologischer Ansatz zu einem der wichtigsten Beiträge der gegenwärtigen Wissenschaftsforschung avanciert. Polanyis Hauptwerk liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Hier die ersten drei Absätze aus dem Vorwort von 

In der vorliegenden Untersuchung geht es vor allem um das Wesen die Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis. Doch Überlegungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen darüber dahinaus zu einem weiten Bereich außerwissenschaftlicher Fragen.

Zunächst lehne ich das Ideal der wissenschaftlichen Distantanz ab. Dabei ist dieses Ideal in den exakten Wissenschaften vielleicht harmlos, denn faktisch wird ihm dort von den Wissenschaften keine Beachtung geschenkt. Doch wie wir sehen werden, in der Biologie, der Psychologie und der Soziologie einen destruktiven Einfluss aus und verfälscht unsere ganze Einstellung in einem weit über den Bereich der Wissenschaft hinausgehenden Maß. Ich möchte, ganz allgemein gesprochen, ein alternatives Ideal Wissen aufstellen.

Daher rühren die große Reichweite dieses Buchs sowie die Prägüng des neuen Ausdrucks, den ich zur Formulierung des Titels „personales Wissen“. Vielleicht hat es den Anschein, diese Wörter widersprächen einander, denn wahres Wissen gilt unabhängig, allgemein begründet, objektiv. Aber der Widerspruch lässt sich auflösen, indem wir unsere Vorstellung vom Wissen und Erkennen modifizieren.

Warum Judith Butler ihre Perspektive auf Israel immer wieder vorträgt

Warum ist Judith Butler so sehr daran gelegen, die antisemitische Gewalt und den Israelhass der Hamas zu verstehen – den Staat Israel dagegen zu delegitimieren? Der Literaturwisschaftler Magnus Klaue meint, es habe etwas mit ihren Aversionen für das abendlänische Denken zu tun: 

Das Programm der postmodernen Performativitätstheorie lässt sich so zusammenfassen: Sie versucht die Probe aufs Exempel ihrer eigenen These zu machen, dass Lüge durch Wiederholung zur Wahrheit wird. Wahrheit, darin sind sich, bei aller Differenz ihrer philosophischen und politischen Anschauungen, Jacques Derrida, Michel Foucault und Gilles Deleuze mit der amerikanischen Philosophin Judith Butler einig, bezeichnet keine „Essenz“, wie Butler derlei metaphysische Restbestände abendländischen Denkens nennt, sondern eine arbiträre Vereinbarung, an die umso fester geglaubt wird, je häufiger man sie wiederholt.

Entsprechend rituell wiederholt Butler, seit sie im Nachgang von 9/11 ihre kaum verhohlene Sympathie mit dem islamistischen Terror von Hisbollah und Hamas zu legitimieren sucht, ihre Theorie der Anerkennung als Mittel zum Verständnis antisemitischer Gewalt.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Judith Butlers philosophischer Ausfall

Die Philosophin Seyla Benhabib wirft dem Aufruf „Philosophy for Palestine“, der auch von Judith Butler und Nancy Fraser unterzeichnet wurde, intellektuelles Versagen vor. Christian Geyer-Hindemith hat sich das angeschaut und bringt es gut auf den Punkt: 

Benhabib, wie Butler und Fraser ausge­wiesen in sozialpolitischer Ideen­geschichte, feministischer Theorie und Kritischer Theorie, trägt als zentralen Einwand gegen den Text ihrer Kolleginnen vor, „dass er den Konflikt zwischen Israel und Palästina nur durch die Linse des ,Siedlerkolonialismus‘ sieht und die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu einem Akt des legitimen Widerstands gegen eine Besatzungsmacht erhebt“.

Die Yale-Professorin nennt es einen „kolossalen Fehler“ des von ihr kritisierten Textes, dass er für die Beschreibung der Hamas den falschen Kontext aufmache. Gestärkt werde nämlich die propagandistische Selbstbeschreibung der Hamas, als angebliche Avantgarde des palästinensischen Befreiungskampfes zu agieren. Stattdessen handelt es sich – so die kühle Analyse Benhabibs von Akteur und Aktion – um eine nihilistische Organisation, welche die Geiselnahme Palästinas und die Ermordung jüdischer Menschen von der Dschihad-Ideologie her begreift, die in der Pornographie der Gewalt schwelgt. Ja, es stimme, wenn Amnesty International erkläre: „Gaza ist das größte Freiluftgefängnis der Welt“, aber das liege auch daran, dass die Hamas eine Vernichtungsagentur sei, deren Charta die Zerstörung des Staates Israel befürworte.

Welch ein monströser philosophischer Ausfall, wenn ebendiese nihilistische Eigenart der Hamas im Aufblättern von Kontexten verwischt wird, wenn Gewalt in Gewaltgeschichte versandet, unförmig wird. In den Worten von Benhabib nicht nur an Butler und Fraser: „Welche moralische und politische Logik leitet Ihre Argumentation?“ Es ist ein intellektuelles Versagen, das hier als rhetorische Frage namhaft gemacht wird, aus berufenem Mund sozusagen.

Hier: www.faz.net.

Die Postmoderne verfängt sich in ihren eigenen Logiken

Anna Mayr beschreibt in dem Artikel „Warum sich die postmoderne Linke soschwertut, den Terror gegen Israel zuverurteilen“, wie sich die Postmodernen angesichts der Krise im Nahen Osten selbst zerlegen. Die Theoretiker der Postmoderne von gestern haben den Diktatoren von heute einen roten Teppich ausgelegt. Wenn sich Probleme nicht mit vernünftigen Argumenten lösen lassen, werden die Säbel gezogen. 

Mayr schreibt: 

Es gibt ein Video im Internet, das ganz gut erklärt, warum diese Positionierung vielen nicht gelang. Darin sitzt die Sängerin Achan Malonda neben dem Autor Fabian Wolff, der sich jahrelang als Jude ausgegeben hatte, auch als jüdischer Autor bei ZEIT ONLINE Texte veröffentlichte, ohne wirklich Jude zu sein. Die beiden sprechen über die Solidarität zwischen People of Color und Juden. Malonda fragt darin Wolff, den sie zu dem Zeitpunkt wohl für einen Juden hält: „Denkst du, dass sie euch im Prinzip whiteness ge-offered haben?“ Übersetzung: Denkst du, Juden können sich aktiv dafür entscheiden, Weiße zu sein? Er stimmt ihr zu. Juden hätten die Wahl, ob sie zu den Diskriminierten gehören wollten oder nicht.

Wenn man das weiterdenkt, können Juden alles nur falsch machen: Werden sie zu Weißen, sind sie Teil der Mehrheitsgesellschaft. Lassen sie sich unterdrücken, sind sie selber schuld, denn sie hätten sich anders entscheiden können.

Judith Butler, postmoderne Vordenkerin, hat vor einigen Tagen einen Essay veröffentlicht, in dem nichts drinsteht. Eigentlich hat Butler die Hamas einst unterstützt, als Freiheitskämpfer für die Palästinenser. Doch in ihrem neuen Essay steht zig Absätze lang immer wieder das Gleiche: Die Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, und man muss dennoch die Gewalt der Besatzungsmacht Israel sehen. Es wird deutlich, dass sie(nachvollziehbarerweise) nicht weiß, wohin sie noch denken soll. Von radikalen angloamerikanischen Postmodernen wird sie bereits geächtet; sie sei wohlauch nur eine reaktionäre, weiße Progressive, schreibt einer auf Twitter. Butler ist jüdisch.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.zeit.de.

VD: JL

Silke Edelmann: „Lassen wir uns von dem Buch zum radikalen Weiterdenken herausfordern“

Silke Edelmann schreibt in ihrer ausführlichen Rezension des Buches Der Siegeszug des modernen Selbst von Carl Trueman (Bulletin, Nr. 27-28, 2023):

Das Verständnis von Sexualität und Sexualethik in der westlichen Welt, die man gemeinhin als christliche Zivilisation bezeichnet, hat sich in den letzten 60 Jahren rasant verändert. Wie es dazu kam, dem geht der englische Theologe und Kirchenhistoriker Carl R. Trueman nach. Die gesellschaftliche Debatte ist moralisch aufgeladen, doch die Ursachen des Wandels liegen tiefer. Wurde die Sexualität des Menschen seit jeher in einem spirituell-metaphysischen Rahmen gedeutet, wurde die metaphysische Rückbindung in der Neuzeit zunehmend aufgekündigt. Immer mehr verlagerte sich die maßgebliche moralische Instanz in das Innere des Subjekts, während äußere Maßgaben zunehmend hinterfragt wurden.

Anhand der Ideengeschichte arbeitet Trueman heraus, warum das Bekenntnis zu traditionellen Moralvorstellungen heute eine so heftige Gegenreaktion hervorruft. Gemäß den gängigen postmodernen Narrativen beruht die Rückbindung des Menschen an eine metaphysische Realität auf einer Fiktion. Im Rückgriff auf das marxsche Diktum, Religion sei Opium für das Volk, argumentieren vor allem linke Denker, dass jede metaphysische Weltanschauung das Instrument einer Elite zur Durchsetzung ihrer Interessen darstellt.

Christen, die ihre ethischen Erwägungen metaphysisch verankert wissen möchten, müssen ein Verständnis dafür entwickeln, wie der neuzeitliche Subjektivismus, der auch die Theologie geprägt hat, diese Verankerung erodiert, um Perspektiven aufzuzeigen, wie christliche Apologetik dem entgegenwirken könnte. 

Mehr: www.dijg.de.

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