Philosophie

Die Entweihung des Menschen

Soziologen und Philosophen haben versucht, mit markanten Begriffen charakteristische Eigenschaften der Moderne bzw. Spätmoderne zu beschreiben. Sehr bekannt geworden sind „Entzauberung“ (Max Weber -> Moderne) und „Verflüssigung“ oder „Liquidität“ (Zygmunt Bauman -> Spätmoderne). Carl Trueman, Redner auf der E21-Hauptkonferenz im Juni (vgl. hier), fügt diesen beiden Kategorien noch eine dritte hinzu: die „Entweihung“.

Trueman schreibt:

Die Abschaffung des Menschen, wie Lewis sie beschreibt, findet vor dem Hintergrund zweier Aspekte der Moderne statt: der Entzauberung und der sich beschleunigenden Liquidität. Allerdings, so meine ich, ist für ein angemessenes Verständnis unserer Zeit eine dritte Kategorie hinzuzufügen: die der Entweihung. Der Mensch ist erschaffen nach dem Bild Gottes. Das macht die Abschaffung des Menschen zu einem theologischen Akt mit theologischen Konsequenzen. Für sich genommen bringen weder Entzauberung noch Liquidität diesen Aspekt des Problems angemessen zum Ausdruck, das theologische Konzept der Entweihung hingegen schon.

Das wird uns klarer, wenn wir über die erklärungsschematischen Grenzen von Entzauberung und Liquidität nachdenken. Die erste besteht darin, dass diese Konzepte nur auf den Verlust von etwas hinweisen, was einmal war. Entzauberung verweist auf den Verlust von Verzauberung. Während einst das Übernatürliche das Natürliche durchdrang und das Transzendente die Bedingungen für das Immanente festlegte, bleiben heute nur noch das Natürliche und das Immanente übrig. Ähnlich verhält es sich mit der Liquidität: Wir haben nicht mehr, wie Marx es ausdrückt, ständische und stehende Verhältnisse. Alles richtig – aber der Zustand der Moderne beschränkt sich nicht, wie wir sehen werden, auf diese Verluste.

Das zweite Problem ist, dass Entzauberung und Liquidität einen Mangel an menschlichem Handlungsvermögen suggerieren. Beide sind das Ergebnis unpersönlicher sozialer Prozesse: Industrialisierung, Bürokratisierung, Technologisierung, Globalisierung. Verbunden mit diesen Prozessen ist die Verdinglichung der Phänomene, auf die sie sich beziehen, im allgemeinen Sprachgebrauch: Industrie, Bürokratie, Technologie, die globale Wirtschaft. Jedes dieser Phänomene nimmt in unserem Denken ein Eigenleben an; in diesen Prozessen treten wir Menschen als austauschbare Objekte auf, nicht als aktive Subjekte oder Personen. Doch die Prozesse selbst sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Wenn wir zu Rädchen in der Maschine geworden sind, dann deshalb, weil wir die Maschine gebaut haben.

Darüber hinaus dürfen wir den Einfluss und das Wirken kultureller Eliten – der Rechts-, Bildungs-, Technologie-, Kunst-, Manager- und politischen Klassen – nicht außer Acht lassen. In der Vergangenheit sahen sich diese Eliten mit der Aufgabe betraut, Kontinuität zu garantieren; das geschah durch die Wertevermittlung von Generation zu Generation und die sorgfältige Pflege der für diese Aufgabe notwendigen Institutionen und sozialen Praktiken. Heute ist der vorherrschende Impuls unserer Eliten Zerrüttung, Zerstörung und Zerstückelung. Die Abschaffung des Menschen ist ein bewusstes Projekt der Offiziersklasse unserer Kultur, nicht einfach nur das Ergebnis unpersönlicher sozialer und technologischer Kräfte. Für sich genommen, reichen die Kategorien der Entzauberung und Liquidität nicht aus, um dieses Projekt angemessen zu verstehen.

Das dritte Problem besteht darin, dass weder Entzauberung noch Liquidität die theologische Signifikanz der Veränderungen berücksichtigt, die die Moderne in Bezug auf das Verständnis des Menschseins mit sich gebracht hat. Man muss kein Christ (und nicht einmal Theist) sein, um zu begreifen, dass diese Transformationen theologisch bedeutsam sind. Sowohl bei Marx als auch bei Nietzsche ist „Entweihung“ ein Teil ihres Verständnisses der modernen Welt. In derselben Passage des Kommunistischen Manifests, in der verkündet wird, dass alles Stehende verdampft, wird erklärt, dass alles Heilige entweiht wird. Und Nietzsches „toller Mensch“ macht sehr deutlich, dass Gott nicht nur in der moralischen Vorstellung aufgehört hat zu existieren, sondern tot ist – mehr noch, dass wir ihn getötet haben. Diese Tötung Gottes ist sicherlich der ultimative Akt aktiver Entweihung.

Sowohl Nietzsche als auch Marx bewerten diese Entweihung positiv. Für Marx ist Religion ein Opiat, das das Proletariat daran hindert, den vollen Schmerz zu spüren, den der Kapitalismus verursacht. Religionskritik ist daher von zentraler Bedeutung für das revolutionäre Projekt. Entweihung ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie. Für Nietzsche ist der Tod Gottes, auch wenn er eine erschreckende Verantwortung auf die Schultern der Menschen legt, eine notwendige Voraussetzung für die Selbsttranszendenz des Menschen. Die Frage ist nur, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Immanuel Kant wurde vor 300 Jahren geboren

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Wie verhalten sich Glaube und Vernunft zueinander? Vor der so genannten Aufklärung wurden sie selten als Gegensätze gesehen. Seit Beginn dieser Bewegung im 17. Jahrhundert wurde der Glaube zunehmend durch die Vernunft in seine Schranken verwiesen. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung unter dem Einfluss des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, der vor 300 Jahren geboren wurde. Seine Philosophie hat die Theologie der Neuzeit entscheidend geprägt. Das Jubiläum bietet eine Gelegenheit, sich mit den Sichtweisen des vielleicht einflussreichsten Philosophen der Moderne vertraut zu machen.

Hier ein Auszug aus einem Artikel, der bei Evangelium21 erschienen ist:

Wie stand Kant nun zu Glaubensfragen und Religion? In seiner religionsphilosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die als Buch 1793 erschien (2. Aufl. 1794), präsentiert Immanuel Kant seine Sicht auf eine auf Vernunft beruhende Religion. Er erteilt darin der mittelalterlichen Metaphysik und Theologie eine Absage, weil sie Dinge verhandelt, die jenseits unserer Erfahrung liegen und damit nicht Gegenstand des wirklichen Wissens sein können. Trotzdem wollte er die metaphysischen Fragen nicht einfach wegwischen, denn: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (KrV A VII).

Vernünftige Philosophie muss seiner Meinung nach die Idee eines Gottes zulassen, damit das Streben nach höchstem Glück und das moralische Handeln zusammengehalten werden. Diese Einheit lässt sich zwar nicht mehr unabhängig von der menschlichen Vernunft denken (wie früher in der Metaphysik angenommen), ist aber immer noch eine Idee, die uns vor aller Erfahrung in der Vernunft notwendig gegeben ist und die Einheit der Welt verbürgt. Kant verjagte also die Religion aus dem Bereich des Wissens in den Raum der praktischen Vernunft. Gott ist nur noch Gegenstand des vernünftigen Hoffens. Kant wollte „das Wissen aufheben, um zu Glauben Platz zu bekommen“ (KrV B XXX).

Seine Religionsschrift setzt seine drei kritischen Werke voraus. Allerdings wird er in einigen Punkten unmissverständlicher und setzt sich direkt mit dogmatischen und praktischen Fragen des christlichen Glaubens auseinander. Kant erörtert übernatürliche Offenbarungen, geht auf die Erbsünde ein, diskutiert Christologie, Rechtfertigungs- und Gnadenlehre sowie die letzten Dinge (auch Eschatologie genannt). Freilich interpretiert er all diese Themen aus der Perspektive seiner Vernunftreligion. Die Glaubensaussagen, die sich etwa in großen Bekenntnistexten oder Katechismen finden, werden neu ausgelegt. Jüdische Elemente, die in der Bibel enthalten sind, werden herausgefiltert. Die Trinitätslehre lehnt Kant ab. Jesus ist keine göttliche Person, sondern personifizierte Idee des guten Prinzips. Die Gnadentheologie und der Sühnegedanke bereiten ihm größte Schwierigkeiten. „Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen)“ (Religion B302). Das „Pfaffentum“ ist eine Form des Afterdienstes (Religion B270 ff.). Wenn es Wunder gäbe, führt Kant aus, wäre unsere Vernunft sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht unbrauchbar (vgl. KrV B 122–124). Die biblischen Geschichten werden von ihrer „mystischen Hülle entkleidet“, die den Vorstellungen alter Kulturen geschuldet ist, um schließlich ihren Vernunftsinn für alle Welt und alle Zeiten offenzulegen (Religion B 114). Das Reich Gottes ist irdisch gedacht als das Reich der Sinne und des Verstandes, – ein moralisches Reich, in dem Menschen ihre Pflichten erkennen (vgl. KrV, B 142).

Mehr: www.evangelium21.net. Etwas ausführlicher an dieser Stelle: mbstexte198_phil_anstoesse_deu.pdf.

Christentum und funktionaler Liberalismus

Unter einem „theologische Liberalismus“ können sich viele Leute etwas vorstellen. Sie denken dabei beispielsweise an Friedrich Schleiermacher oder Ernst Troeltsch. Aber schon mal was von einem „funktionalen Liberalismus“ gehört?

Der funktionale Liberalismus unterscheidet sich vom bekannten „alten Liberalismus“, indem er den Lehrbekenntnissen offiziell zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, „indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt“.

Doug Ponder und Bryan Laughlin haben das näher herausgearbeitet: 

Während Machen über das Christentum und den Liberalismus schrieb, schreiben wir, dazu ergänzend, eine Art Anhang über das Christentum und den funktionalen Liberalismus.13 Wir nennen ihn „funktionalen Liberalismus“ (und nicht Liberalismus simpliciter), weil diese Sorte des Virus im Gegensatz zur Bedrohung zu Machens Zeiten nicht die gleichen Symptome aufweist (auch wenn er eine ähnliche Ursache hat). Machens Liberale waren Modernisten, die offen die Zuverlässigkeit der Bibel, die Realität des Übernatürlichen, die Notwendigkeit des Sühneopfers und die physische Auferstehung Jesu Christi von den Toten leugneten. Wie die berühmte Karikatur von E.J. Pace aus dem Jahr 1922 illustriert, vollzog sich die Abkehr der Liberalen vom Glauben oft in Etappen, wobei die Wahrhaftigkeit der Bibel als Erstes infrage gestellt wurde. Es gibt noch einige wenige Liberale dieser Art. Aber diejenigen, die an dem Glauben festhalten, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist (vgl. Jud 3), sind – zum großen Teil dank Machen und seinen Erben – nicht versucht, sie als Teil des Leibes Christi anzuerkennen (vgl. 1Joh 2,19).

Das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist von einer etwas anderen Art. Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt. Wir sind nicht die Ersten, die diese Beobachtung machen. Irgendwo in den Annalen von D.A. Carsons gewaltigem Werk findet sich ein Vortrag, in dem er eine eindringliche Warnung ausspricht: „Die Zukunft des Liberalismus in den amerikanischen Gemeinden wird nicht so aussehen wie vor einem Jahrhundert. In konservativen Seminaren und Gemeinden wird es keine schamlose Verleugnung zentraler Lehrsätze geben, um die in der Vergangenheit Schlachten ausgetragen wurden. Stattdessen werden dort Leute auftreten, die behaupten, die Lehren zu bekräftigen, während sie sie durch subtile, aber substanzielle Neuinterpretationen untergraben.“

Ein wichtiger Aufsatz, auch wenn seine Beispiele alle aus Nordamerika stammen.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Michel Foucault

Michel Foucault gehört zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Er hat es geschafft, seine Ideen in der breiten Gesellschaft zu etablieren und spielt heute zum Beispiel in der Pädagogik eine große Rolle. Ich habe im TheoBlog mehrfach Stellung bezogen und etwa darauf verwiesen, dass zumindest für den frühen Foucault zur Entzauberung des Subjekts die Abschaffung von Verboten gehörte: „Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufbrechung aller Verbote und Einschließungen, durch die sich die normative Individualität konstituiert und sichert. Ich denke da an alle Erfahrungen, die unsere Zivilisation verworfen hat oder nur in der Literatur zuläßt“ (Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, 1987, S. 95).

Es ist erfreulich, dass der christliche Denker Christopher Watkin ein Buch über Michel Foucault geschrieben hat. Daniel Vullriede stellt es vor und erwähnt Stärken wie Schwächen:

Ein überaus einflussreicher Denker des letzten Jahrhunderts war der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984). Wer sich z.B. ernsthaft mit dem Phänomen der Postmoderne auseinandersetzen möchte, wird um diesen intelligenten atheistischen Denker nicht herumkommen.

Auch wenn Foucault sich selbst nicht als postmodernen Denker sah und nicht die einzige Schlüsselperson für diese Epoche ist; auch wenn der Höhepunkt der Foucault-Renaissance längst überschritten ist – seine Thesen und Anfragen waren rückblickend ein Katalysator für den westlichen Kulturkreis. Sie lassen sich noch heute im Bereich der Philosophie, Soziologie, Pädagogik, Kunst, sowie in den Politik-, Geschichts-, Kultur-, Medien- und Sprachwissenschaften, und nicht zuletzt in den unterschiedlichsten Ansätzen der Gender Studies ablesen. Doch wofür stand der französische Philosoph und wie können sich Christen zu ihm positionieren?

Um Foucaults Werk und Person zu verstehen, bietet Christopher Watkin eine kompakte, gut lesbare und zugleich tiefgehende Einführung. Der britische Autor arbeitet als Professor für französische Literatur und Philosophie an der australischen Monash University (Melbourne). Er zeigt, wie man sich Foucault neugierig und kritisch nähern kann, entwickelt dabei aber einen ganz eigenen Ansatz, der den Lesern kernige Alternativen zu Foucault bietet.

Für wen ist dieses Buch interessant? Christen, die philosophisch, theologisch oder apologetisch interessiert sind, werden hier eine gelungene Analyse finden; ebenso Gläubige, die im Bereich der Sozial- und Verhaltenswissenschaften unterwegs sind. Auch Leser mit ganz anderen Überzeugungen und einer atheistischen Weltanschauung können viel von Watkins Studie lernen und ihn als angenehmen, fairen und herausfordernden Gesprächspartner wahrnehmen.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Emmanuel Todd: Niedergang des Westens

1976 sagte der französische Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Jetzt spricht er davon, dass der Westen untergeht, weil es nichts mehr gibt (vor allem keine Religion), was ihn zusammenhält. Mich kann er nicht in allem überzeugen. Doch erkenne ich indem, was er in seinem Buch La Défaite de l’Occident und der WELT in einem Interview gesagt hat, einige Wahrheitsmomente. Wenn er das sinkende Bildungsniveau benennt und davon spricht, dass die Trans-Ideologie Ausdruck des Nihilismus ist, der sich im Westen ausgebreitet hat, dann stimme ich zu.

Hier zwei Zitate: 

In meinem Buch lasse ich die Luft aus dem Bruttoinlandsprodukt der USA und zeige die tief greifenden Ursachen für den industriellen Niedergang des Landes auf: die unzureichende Ausbildung von Ingenieuren und ganz allgemein ein seit 1965 sinkendes Bildungsniveau. Der zweite Faktor, der maßgeblich zum Untergang des Westens beigetragen hat, ist das Verschwinden des amerikanischen Protestantismus. Mein Buch ist im Grunde eine Fortsetzung von Max Webers Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.

Ich wurde von einer Großmutter aufgezogen, die mir erklärte, dass in sexueller Hinsicht alle Vorlieben auch in der Natur vorkommen, und ich bin meinen Vorfahren treu. Willkommen also, LGB. Was das T betrifft, also das Thema Trans, das ist doch etwas anderes. Die betroffenen Personen müssen natürlich geschützt werden. Doch die Fixierung der westlichen Mittelschicht auf dieses Thema, das doch nur eine winzige Minderheit betrifft, wirft eine soziologische und historische Frage auf. Am sozialen Horizont jedoch die Vorstellung zu konstituieren, dass ein Mann tatsächlich eine Frau und eine Frau ein Mann werden kann, das bedeutet, etwas biologisch Unmögliches zu behaupten, die Realität zu leugnen und etwas Falsches zu verbreiten. Die Trans-Ideologie ist meiner Ansicht nach eine der Fahnen des Nihilismus, die mittlerweile den Westen bestimmen, und ein Drang zur Zerstörung, nicht einfach nur der Dinge und Menschen, sondern auch der Realität.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Die Lehre vom Zweifel

Michael Polany bläst hier in das gleich Horn wie Alvin Plantinga (Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie, 2023, S. 445–446):

Mein Entschluss, meine Grundüberzeugungen mit philosophischen Mitteln zu bekunden, muss erst noch in ganzheitlicher Form dargelegt werden. Doch zunächst müssen wir uns von einem Vorurteil befreien, das sonst die Moral unseres ganzen Unterfangens untergräbt.

Während der gesamten kritischen Periode der Philosophie galt es als selbstverständlich, dass die Bejahung unbewiesener Überzeugungen die bequeme Straße in Richtung Finsternis darstellt, während man sich der Wahrheit auf dem geraden und engen Pfad des Zweifels nähert. Es wurde die Warnung ausgesprochen, dass uns seit frühester Kindheit eine Vielzahl unbewiesener Überzeugungen eingeflößt worden sei. Religiöse Dogmen, die Autorität der antiken Denker, die Lehren der Scholastiker, die Sprüche der Kinderstube – sie alle formten zusammen ein Korpus von Überlieferungen, die wir nur deshalb zu akzeptieren geneigt seien, weil diese Überzeugungen vorher schon von anderen vertreten worden waren, die wollten, dass wir sie auch unsererseits übernähmen. Wir wurden dazu angehalten, uns gegen den Druck dieser traditionsgebundenen Indoktrinierung zu wehren, indem wir das Prinzip des philosophischen Zweifels dagegen in Stellung brächten. Descartes erklärte, der universelle Zweifel solle seinen Geist von allen Meinungen säubern, die bloß auf Treu und Glauben angenommen worden waren, um ihn der fest in der Vernunft wurzelnden Erkenntnis zu öffnen. In seinen strikteren Formulierungen verbietet uns das Prinzip des Zweifels, überhaupt etwas glauben zu wollen, und es verlangt, dass wir den Geist lieber leer lassen sollen, als zu gestatten, dass Überzeugungen von ihm Besitz ergreifen, die nicht unwiderleglich sind. In der Mathematik, sagt Kant, gibt es keinen Platz für bloßes Meinen, sondern nur für echtes Wissen: »man muss wissen, oder sich alles Urteilens enthalten.«

Die Methode des Zweifels ist eine logische Folge des Objektivismus. Sie verlässt sich darauf, dass die Ausmerzung aller willensgebundenen Komponenten des Glaubens einen Wissensrest übrig lässt, der zur Gänze von objektiven Belegen bestimmt wird. Auf diese Methode hat sich das kritische Denken uneingeschränkt verlassen, um Irrtümer zu vermeiden und die Wahrheit zu erhärten.

Nun möchte ich keineswegs behaupten, dass diese Methode während der Periode des kritischen Denkens immer oder überhaupt irgendwann einmal in strenger Form angewandt worden ist (das ist ja nach meiner Überzeugung unmöglich). Vielmehr möchte ich bloß sagen, dass man sich emphatisch zu ihrer Anwendung bekannt hat, während man sich nur unauffällig und nebenbei dafür ausgesprochen hat, sie zu lockern. Zugegeben, Hume war in dieser Hinsicht ziemlich freimütig. An den Stellen, wo er den Schlussfolgerungen der eigenen Skepsis nicht aufrichtig Folge leisten zu können meinte, beschloss er unverhohlen, sie beiseitezuschieben. Dennoch unterließ auch er es einzuräumen, dass er damit seine eigenen persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck brachte. Ebenso wenig hat er sein Recht in Anspruch genommen und seine Pflicht angenommen, sich zu diesen Überzeugungen zu bekennen, sobald dies darauf hinauslief, Zweifel zu ersticken und die strikte Objektivität fallenzulassen. Seine Abweichungen von der Skepsis blieben streng genommen inoffiziell und gehörten nicht in expliziter Form zu seiner Philosophie. Kant hingegen nahm diesen Widerspruch ernst. Er unternahm die übermenschliche Anstrengung, sich der durch Humes Erkenntniskritik sichtbar gewordenen Situation zu stellen, ohne eine Lockerung des Zweifelsprinzips zuzulassen. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten schreibt Kant: »Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwütfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen kann. Es ist hiebei gar nichts zu furchten, wohl aber zu hoffen, nämlich, daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet.«

Schon seit Langem hat sich gezeigt, dass Kants Hoffnungen auf ein unbestreitbares Reich der Vernunft zu hoch gegriffen sind. Aber die Leidenschaft des Zweifelns ist auch heute noch spürbar.

Michael Polany: Personales Wissen – endlich in deutscher Sprache

Endlich ist das Buch Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie von Michael Polany in deutscher Sprache erschienen. Der renommierte Übersetzer philosophischer Werke, Joachim Schulte, hat es für den Suhrkamp Verlag glanzvoll übertragen. Rebekka Ladewig hat das Projekt geleitet und das Buch mit einem Nachwort und Register versehen. Der Verlag schreibt über das Buch:

In seinem zum Klassiker gewordenen Buch Personales Wissen von 1958 legt Michael Polanyi das Augenmerk auf die personengebundenen Elemente wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse – auf Erfahrung und Vorwissen, Geschicklichkeit und Können. Mit dieser Intervention leuchtet er den blinden Fleck einer am Objektivitätsideal ausgerichteten Wissenschaftslogik aus, nämlich den verkörperten, vergesellschafteten Forscher selbst. Als „personales“ und in der Folge als „implizites Wissen“ konzeptualisiert, ist sein epistemologischer Ansatz zu einem der wichtigsten Beiträge der gegenwärtigen Wissenschaftsforschung avanciert. Polanyis Hauptwerk liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Hier die ersten drei Absätze aus dem Vorwort von 

In der vorliegenden Untersuchung geht es vor allem um das Wesen die Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis. Doch Überlegungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen darüber dahinaus zu einem weiten Bereich außerwissenschaftlicher Fragen.

Zunächst lehne ich das Ideal der wissenschaftlichen Distantanz ab. Dabei ist dieses Ideal in den exakten Wissenschaften vielleicht harmlos, denn faktisch wird ihm dort von den Wissenschaften keine Beachtung geschenkt. Doch wie wir sehen werden, in der Biologie, der Psychologie und der Soziologie einen destruktiven Einfluss aus und verfälscht unsere ganze Einstellung in einem weit über den Bereich der Wissenschaft hinausgehenden Maß. Ich möchte, ganz allgemein gesprochen, ein alternatives Ideal Wissen aufstellen.

Daher rühren die große Reichweite dieses Buchs sowie die Prägüng des neuen Ausdrucks, den ich zur Formulierung des Titels „personales Wissen“. Vielleicht hat es den Anschein, diese Wörter widersprächen einander, denn wahres Wissen gilt unabhängig, allgemein begründet, objektiv. Aber der Widerspruch lässt sich auflösen, indem wir unsere Vorstellung vom Wissen und Erkennen modifizieren.

Warum Judith Butler ihre Perspektive auf Israel immer wieder vorträgt

Warum ist Judith Butler so sehr daran gelegen, die antisemitische Gewalt und den Israelhass der Hamas zu verstehen – den Staat Israel dagegen zu delegitimieren? Der Literaturwisschaftler Magnus Klaue meint, es habe etwas mit ihren Aversionen für das abendlänische Denken zu tun: 

Das Programm der postmodernen Performativitätstheorie lässt sich so zusammenfassen: Sie versucht die Probe aufs Exempel ihrer eigenen These zu machen, dass Lüge durch Wiederholung zur Wahrheit wird. Wahrheit, darin sind sich, bei aller Differenz ihrer philosophischen und politischen Anschauungen, Jacques Derrida, Michel Foucault und Gilles Deleuze mit der amerikanischen Philosophin Judith Butler einig, bezeichnet keine „Essenz“, wie Butler derlei metaphysische Restbestände abendländischen Denkens nennt, sondern eine arbiträre Vereinbarung, an die umso fester geglaubt wird, je häufiger man sie wiederholt.

Entsprechend rituell wiederholt Butler, seit sie im Nachgang von 9/11 ihre kaum verhohlene Sympathie mit dem islamistischen Terror von Hisbollah und Hamas zu legitimieren sucht, ihre Theorie der Anerkennung als Mittel zum Verständnis antisemitischer Gewalt.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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