Soziologie

Die falschen Freunde der Linken

Ivo Goldstein, Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Zagreb, untersucht in seinem FAZ-Gastbeitrag „Die falschen Freunde der Linken“, weshalb der Islamismus so anziehend auf die westliche Linke wirkt:

In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Konzept der Dekolonisierung an westlichen Universitäten und Kulturinstitutionen zu einem intellektuellen und moralischen Imperativ. Der Gedanke, wonach moderne Ungerechtigkeiten auf die Kolonialgeschichte zurückgehen, ist in den Sozialwissenschaften, der feministischen Theorie und im politischen Aktivismus tief verwurzelt. Innerhalb dieses Diskurses wird der Kampf der Palästinenser oft als ein Dekolonisierungsprozess und Kampf gegen „Siedlerkolonialismus“ interpretiert.

Der radikale Islamismus übernahm diese Sichtweise sehr geschickt. Statt auf rein religiöse Rhetorik zu setzen, verwenden islamistische Narrative Begriffe wie „Befreiung“, „Gerechtigkeit“ und „Widerstand“. Ihre Vision ist zwar theokratisch und autoritär, doch die Möglichkeit, sich als die Stimme der Unterdrückten zu präsentieren, verleiht ihnen in den Augen mancher Linken eine zeitweilige moralische Legitimität.

Ein entscheidender Faktor ist die Logik, wonach „der Feind meines Feindes mein Freund ist“. Die liberale Linke und der radikale Islamismus haben gemeinsame Feinde: das kapitalistische System, die US-amerikanische Hegemonie und die israelische Militärmacht. Für Teile der Linken steht Israel für neoliberalen Militarismus und einen technokratischen Westen, der die globale Ungleichheit perpetuiert. Für Islamisten ist Israel der Feind des Islams und ein Anhängsel der „ungläubigen“ Zivilisation.

Michal Cotler-Wunsh und Nadav Steinman kommen in dem Artikel „How antisemitism is entering mainstream culture“, den sie für die Washington Post verfasst haben, zu einem ganz ähnlichen Urteil. Darin suchen sie nach plausiblen Erklärungen für das Phänomen, dass sich westliche Künstler für die Freilassung des palästinensischen Terroristen Marwan Barghouti einsetzen, der wegen 26 Fällen von Mord und versuchten Mordes angeklagt wurde. Sie schreiben:

Der Brief, in dem die Freilassung von Barghouti gefordert wird, muss vor dem Hintergrund dieses umfassenderen kulturellen Wandels verstanden werden. Er spiegelt ein Umfeld wider, in dem Gewalt gegen Israelis romantisiert und Antizionismus als moralische Pflicht dargestellt wird, verpackt in Menschenrechtssprache. Sobald Antisemitismus den Anschein von Legitimität erhält, verbreiten sich die Rechtfertigungen für Extremismus über dieselben Kanäle. Die Normalisierung eines sich ständig wandelnden Antisemitismus schafft die Voraussetzungen für Hass, der nicht bei Juden Halt macht, denn es geht nie nur um Juden. Was sich etabliert, ist eine brutale Mentalität, in der jede Zielgruppe dämonisiert und Menschen zu ihrer eigenen „Sicherheit“ aus dem öffentlichen Raum verbannt werden können. Die tiefere Bedrohung durch den zunehmenden Antisemitismus ist die allgemeine Aushöhlung grundlegender Prinzipien des Lebens und der Freiheit. Der Brief zu Barghouti zeigt nicht nur den moralischen Verfall (mehrerer Dutzend) Prominenter. Er ist eine Sirene, die sich vielen anderen anschließt und vor einem Feuer warnt, das noch lange nicht gelöscht ist. Die Feuerwehr braucht die Hilfe von Millionen Menschen, Juden wie Nichtjuden, die die Prinzipien des Lebens und der Freiheit schätzen.

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Gegen die Logik der Effizienzgesellschaft

Hartmut Rosa wünscht sich seit vielen Jahren mehr Resonanz (vgl. Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung). Er versteht darunter eine gelingende, lebendige Beziehung zwischen Subjekt und Welt, die sich von bloßem Haben, Kontrollieren oder Konsumieren unterscheidet. In einem aktuellen FAZ-Interview erwähnt er, dass unsere Optimierung- und Kontrollsehnsucht der Rezonanz eher im Weg steht. Das klingt so: 

Wir suchen oft nicht mehr den direkten Kontakt zu Menschen, sondern über Apps. Um Freunde zu finden oder etwa Lebenspartner. Damit wollen wir Enttäuschung minimieren und den Erfolg maximieren. Gerade dieser Optimierungs- und Kontrollversuch verhindert aber oft Resonanz. Die Optimierungsgesellschaft zeigt sich auch im Verhältnis zu mir selbst – etwa wenn ich meine Schritte zähle und meine Ernährung anpasse, um bestimmten Idealen zu entsprechen. Nach der Logik der Effizienzgesellschaft ist es irrational, sich auf Resonanz einzulassen, weil es dann als unkontrollierbar und ineffizient gilt.

Und auf die Frage: „Stimmt das überhaupt? Wenn ich ein Produkt kaufe, geht es doch um ein Angebot, das individuell zu mir passt. Die Wirtschaft wirbt doch mit Resonanzerfahrungen“, antwortet Rosa:

Ja, aber das ist eine Täuschung. Uns wird vorgegaukelt, dass diese eine Creme, diese eine Kreuzfahrt, dieses eine T-Shirt genau zu mir passen und Ausdruck meiner Selbstverwirklichung sind. Unternehmen verkaufen aber keine Produkte und Dienstleistungen, um uns zufrieden zu machen, sondern in erster Linie, um Geld zu verdienen. Gerade, weil sich dabei Resonanz oft nicht einstellt und wir unzufrieden sind, kaufen wir das nächste Produkt, damit sich das hoffentlich bald ändert. Resonanz und ein gelingendes Leben lassen sich aber nicht kaufen.

Mehr: www.faz.net.

Doku: The Nomi Song

Vor 15 Jahren erwähnte ich hier im Blog den deutschen Künstler Klaus Nomi, der Pop-Sänger wie Madonna, Lady Gaga, Bjork oder David Bowie beeinflusste. Anlass war die Dokumentation The Nomi Song von Andrew Hornüber über sein Leben, die die Tragik seiner „Karriere“ herausstreicht. Damals schrieb ich:

Nomi zog 1973 nach New York und bewegte sich dort in den Künstlerkreisen des East Village, wo sich unter anderem durch Andy Warhol inzwischen eine lebendige Musik- und Kulturszene entwickelt hatte. Als homosexueller Künstler fand Nomi hier Gleichgesinnte und etablierte sich in der New Wave Underground-Szene. Sogar David Bowie wurde auf ihn aufmerksam und engagierte ihn für einen Auftritt bei „Saturday Night Live“. Nomi trat auf wie ein Außerirdischer und sang wie eine Diva (Countertenor). Der androgyne Nomi ist so etwas wie eine Ikone für die Verschränkung von Kunst und Pop, in der Kunstszene auch „crossover“ genannt. Selbst seine Plattenfirma wusste nicht, ob sie seine Alben unter Klassik oder Pop einsortieren sollte.

Anfang der 80er Jahre schaffte Nomi mit zwei Alben und zahlreichen Auftritten in Europa (besonders in Frankreich) seinen internationalen Durchbruch. Gleichzeitig brach bei ihm eine merkwürdige Krankheit aus, die damals noch Schwulenkrebs („gay cancer“) genannt wurde.

Klaus lag als einer der ersten prominenten AIDS-Patienten im Krankenhaus. Seine schwulen Freunde haben ihn – wie die Dokumentation The Nomi Song von Andrew Horn eindrücklich zeigt –, in seinen schwersten Stunden ausgegrenzt und im Stich gelassen. Sie wollten das Leid nicht mit ansehen. Einige, darunter engste Weggefährten, haben sich noch nicht einmal von ihm verabschiedet. Nomi, keine 40 Jahre alt, starb sehr einsam.

Die Dokumentatoni ist inzwischen in voller Länge bei YouTube abrufbar.

Zeitgemäße Sexualethik fördern?

Ich hatte ja schon mehrmals den Verdacht, dass die Studien des Forschungsinstituts empirica interessengeleitet sind. Wenn ich den IDEA-Artikel zur Studie „Glaube und Sexualität“ richtig verstehe, geht es genau darum: Die Studie soll eine zeitgemäße Sexualethik fördern:

Das Forschungsinstitut empirica erforscht seit 2006 christliche Lebenswelten und Lebensweisen. Leiter des Instituts ist der Rektor der CVJM Hochschule Kassel, Professor Tobias Faix, und der Professor für Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit, Tobias Künkler. Mit der Studie wolle man die Gesprächskultur über Sexualität und eine „zeitgemäße Sexualethik fördern“, so die Studienmacher. So komme es darauf an, Schuld und Scham zu reduzieren und in Liturgie und Predigt Körperlichkeit und Sexualität positiv zu deuten. Zudem gehe es darum, die „Diversität in sexualethischen Überzeugungen anzuerkennen“ und die „Inklusivität für LGBTQ+-Personen zu stärken“.

Laut der Studie sind die Teilnehmer „deutlich jünger, weiblicher, queerer und religiöser“ als im Bevölkerungsschnitt. So seien „bisexuell und homosexuell orientierte Menschen deutlich überrepräsentiert“. 86 Prozent der Befragten erklärten, heterosexuell zu sein, 7 Prozent bisexuell, 6 Prozent homosexuell und 0,5 Prozent gaben „weder noch“ an.

Wenn das so ist, hat das mit wissenschaftlicher Arbeit oder seriöser Theologie wenig zu tun. Es handelt sich dann vielmehr um einen Versuch, den Zeitgeist in die Gemeinden hineinzulocken, quasi um eine Alfred Kinsey-Strategie für Evangelikale. Da sollten sich Christen nicht blenden lassen.

Mehr: www.idea.de.

Neue Sehnsucht: Wieder Mann sein wollen

Über einen Beitrag der Nachrichtenagentur IDEA habe ich erfahren, dass der katholische Philosoph Alexander Görlach (New York University) in der WELT darüber berichtet hat, dass sich Männer aus der Generation Z (der zwischen 1997 und 2012 Geborenen) vermehrt dem christlichen Glauben zuwenden. Und zwar vornehmlich der Katholischen Kirche. 

Auch das Interesse an „einem klassischen Männlichkeitsbild“ soll wachsen:

Junge Frauen bezeichnen sich zwar nach wie vor als spirituell, doch der institutionalisierten Religion stehen sie kritisch gegenüber, nicht zuletzt wegen der Fragen nach selbst verantworteter Sexualität, Verhütung und Abtreibung. Zudem sind die weiblichen Gen Z in der Zeit der MeToo-Bewegung groß geworden, die auch Sexismus in den Kirchen anprangerte. Junge Männer beschäftigen diese Fragen nicht. Denen, die sich den Kirchen mit einem klassischen Männlichkeitsbild anschließen, geht es um ihre Identität als Mann, die sie von der gegenwärtigen Kultur infrage gestellt sehen. Sie sind zudem weniger gebildet als ihre weiblichen Altersgenossen. Zahlen aus Großstädten wie New York und Washington belegen, dass sie auch weniger verdienen – was zu einem angegriffenen Selbstwertgefühl beitragen mag.

Das Phänomen, dass junge Männer wieder „echte Männer” sein wollen, findet sich auch außerhalb der Kirchen in den USA. Donald Trump hat sich in seinem Wahlkampf im vergangenen Jahr explizit in Podcasts interviewen lassen, die sich exklusiv an Männer richten. Verteidigungsminister Pete Hegseth und Trump-Berater Elon Musk sind nur zwei Männer aus der Entourage des US-Präsidenten, die sich gegen den woken Zeitgeist wenden, der angeblich klassisch männliche Eigenschaften verschmähe. Auf beiden Seiten des Atlantiks bietet das religiös geprägte Männlichkeitsmodell einen Rahmen für Identität und geht mit einer Rückkehr zu traditionellen, hierarchischen Geschlechterrollen einher. Junge Gen-Z-Männer äußern häufiger den Wunsch nach Familiengründung als ihre weiblichen Peers.

Der kanadische Psychologe Jordan Peterson ist zu einer Art Stimme für diese Bewegung geworden. Er behauptet, dass der Niedergang traditioneller Männlichkeit die westliche Zivilisation an den Abgrund führe. Die Rede von „toxischer Männlichkeit“ im liberalen Mainstream übersehe, dass Männer, die Verantwortung übernähmen und Stärke zeigten, maßgeblich zum Erhalt der christlichen Kultur beitrügen. Auch dem aggressiven männlichen Verhalten spricht er grundsätzlich Positives zu. Es müsse allerdings zum Wohl der Gesellschaft kanalisiert werden.

Was verband Adorno und Gehlen?

Wie kam es in den sechziger Jahren zu einer Nähe zwischen dem Linken Theodor W. Adorno und dem Rechten Arnold Gehlen? Thomas Wagner spürt in seinem Buch Abenteuer der Moderne der merkwürdigen Nähe der beiden Denker nach. Mark Siemons hat es für die FAZ gelesen und hervorragend besprochen.  

Unter anderem schreibt er: 

Das Buch steckt voller produktiv verwirrender Anekdoten, und es ist mit zahlreichen Vor- und Rückblenden so geschickt montiert und flüssig geschrieben, dass man von der ersten bis zur letzten Seite mit nicht nachlassender Neugier auf die nächste Volte gespannt bleibt. Etwa wenn Wagner die Kalte-Kriegs-Atmosphäre innerhalb des doch eigentlich als neomarxistisch geltenden Instituts für Sozialforschung schildert, wo sich Adorno demonstrativ vom „Galimathias“ des dialektischen Materialismus in der DDR absetzte. 1958 klagte Horkheimer bei Adorno einmal über einen „studentischen Propagandisten“, der am Institut „nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub“ leiste – gemeint war niemand anderes als der junge Habermas. In den frühen Fünfzigerjahren war das Institut sogar an der Vorbereitung der Wiederbewaffnung Westdeutschlands beteiligt; es erarbeitete eine Studie über die Auswahl demokratisch gesinnter Offiziere für die zu gründende Bundeswehr. Das Institut nahm da nur insofern Rücksicht auf seinen linken Ruf, als es das Projekt geheim hielt.

Schon die Ostberliner Szene, mit der das Buch beginnt, weckt die höchsten Erwartungen: Der marxistische Philosoph Wolfgang Harich und Manfred Wekwerth, Chefregisseur des Berliner Ensemble, hören da im Sommer 1965 atemlos die Aufzeichnung eines der Radiogespräche Adornos mit Gehlen. Die Pointe ist, dass die beiden auf der Seite des konservativen Gehlen und nicht der des Neomarxisten Adorno sind. Stabile Institutionen seien wichtig, damit die Einzelnen nicht entgleisen, während Emanzipierung der Individuen vom Institutionellen abzulehnen sei. Harich, so erfahren wir, war da schon lange Gehlen-Fan: In den Fünfzigerjahren hatte er noch darauf gehofft, dass Gehlen sich dem Kommunismus anschließt und ihm Bücher von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Lucacs und Bloch geschickt. Er wollte ihn sogar dazu bewegen, einen Lehrstuhl in Ostberlin anzunehmen. Und Bertolt Brecht erhielt noch kurz vor seinem Tod von Harich Gehlens Buch „Urmensch und Spätkultur“, wo Brechts „Stilprinzip der Verfremdung“ lobend erwähnt wurde.

Mehr: www.faz.net.

Die Abdankung der Transzendenz

Peter L. Berger schreibt über den (angeblichen) Verlust der Transzendenz in unserer modernen Kutlur – letztlich in der Tradition von Schleiermacher stehend (Auf den Spuren der Engel, 1991, S. 20): 

Die Entmachtung oder Abdankung der Transzendenz hat verschieden getönte Reaktionen ausgelöst: prophetischen Zorn, tiefe Trauer, Triumph – oder auch nur eine von keinerlei Gefühl getrübte Sachlichkeit. Der konservative Wortführer der Religion, der ein gottloses Zeitalter verdonnert, der „fortschrittliche“ Intellektuelle, der es willkommen heißt, und der kühle Analytiker, der es lediglich registriert, haben jedoch eines gemeinsam: sie halten diese Lage in einer Zeit, in der sich das Göttliche – mindestens in seinen klassischen Formen – in den Hintergrund menschlicher Belange und Vorstellungen zurückgezogen hat, für unausweichlich.

Das Wort „übernatürlich“  (oder auch „transzendent“) ist zu Recht auf Kritik aus den verschiedensten Lagern gestoßen. Religionshistoriker und Kulturanthropologen weisen darauf hin, daß es eine Ieilung der Wirklichkeit suggeriert: ein geschlossenes System rational faßbarer „Natur“ und, jenseits und außerhalb, ein geheimnisvolles Irgendwo. Eine solche Vorstellung ist für die Moderne bezeichnend und führt sogleich in die Irre, wenn man mit ihr an primitive oder archaische Kulturen herangeht. Alttestamentler bemängeln, das Wort „übernatürlich“ werde der Konkretheit und Historizität der jüdischen Religion nicht gerecht, christliche Theologen, daß es zu einer der Inkarnations-, wenn nicht schon der Schöpfungslehre innewohnenden Weltbejahung im Widerspruch stehe. Dennoch trifft es, vor allem in seiner alltäglichen Bedeutung, eine fundamentale Kategorie der Religion: nämlich die Überzeugung oder den Glauben, daß es eine andere Wirklichkeit gibt, und zwar eine von absoluter Bedeutung für den Menschen, welche die Wirklichkeit unseres Alltags transzendiert. Diese Grundvorstellung von Wirklichkeit, nicht nur von irgendeiner ihrer historischen Varianten, ist es, was angeblich in der modernen Welt abgestorben oder im Absterben begriffen ist.

Säkularisierungstempo nimmt zu

Die Kirchen in Deutschland verlieren massiv Mitglieder. Im Jahr 2023 werden mehr als 400.000 Katholiken und 380.000 Protestanten ausgetreten sein. Das Phänomen ist noch nicht wirklich verstanden. Derzeit gibt es zwei große Erklärungsansätze: Es könnte sich einmal um einen sogenannten „Kohorteneffekt“ handeln. Demnach wäre der Mitgliederverlust der Kirchen damit zu erklären, dass Menschen jüngerer Kohorten zwar noch getauft und religiös sozialisiert wurden, diese Bindung aber schwach geblieben ist und mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter endet. Demgegenüber postuliert andererseits die Theorie des „Periodeneffekts“ zur Erklärung der Kirchenaustritte, dass bestimmte Ereignisse, wie z.B. die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle in den beiden deutschen Amtskirchen, auch ältere, religiös gefestigte Menschen dazu veranlasst haben, ihre Religionsgemeinschaft zu verlassen.

Der Soziologie Daniel Lois hat sich mit beiden Ansätzen beschäftigt und der Artikel „Wie der Mitgliederverlust der Kirchen zu erklären ist“ erlaubt Einblicke in die Debatte. Alles in allem zeigt sich, dass das Säkularisierungstempo zunimmt:

Für die Kirchen sind das alles schlechte Nachrichten. Die aktuelle Entwicklung ihrer Mitglieder sei durch drei parallel wirkende Mechanismen gekennzeichnet, die das Säkularisierungstempo weiter beschleunigten: Ungebrochen negative Kohorteneffekte gingen einher mit sich jüngst verstärkenden, negativen Periodeneffekten sowie einer zunehmenden Abkopplung von der Kirche bei jungen Erwachsenen. Das heißt, auch wenn die Kirchen in Zukunft keine negativen Schlagzeilen mehr produzieren, werden sich die Kohorteneffekte noch verstärken: Die Kinder von bereits religiös kaum noch sozialisierten Personen werden selbst kaum noch den Kirchen beitreten.

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Verlässliche Familienstrukturen begünstigen Lebenszufriedenheit und Gesundheit

Die Soziologin Bettina Hünteler erforscht am Max-Planck-Institut für demografische Forschung und an der Universität zu Köln, welche Familienkonstellation ein glückliches Leben fördert. Wenig überraschend fand sie heraus, dass verlässliche Familienstrukturen über Generationen hinweg zur psychischen Stabilität beitragen.

Zitat:

Wenn man über einen langen Lebenszeitraum mehrere Rollen gleichzeitig innehat, man also einerseits Kind seiner Eltern ist, anderseits aber auch selbst schon Kinder oder Enkel hat, dann scheint das für Menschen dieser Geburtsjahrgänge eher positiv gewesen zu sein. Beispielsweise haben Menschen, die in einer Vier-Generationen-Familie leben und spät die eigenen Eltern verlieren, in der Tendenz eine leicht erhöhte Lebenszufriedenheit.

Im Gegensatz dazu haben wir herausgefunden, dass Menschen, die kinderlos bleiben und auch früh ihre Eltern verlieren, eine geringere Lebenszufriedenheit und mehr funktionale Einschränkungen, also etwa Einschränkungen des Bewegungsapparats haben. Die Frage, wie lange wir in großen Familienstrukturen leben, scheint hier einen Unterschied zu machen. Menschen, die in einer Drei-Generationen-Familie mit Kindern und Enkelkindern leben, waren auch weniger von Depressivität oder funktionalen Einschränkungen betroffen. Je kleiner das Generationengefüge, desto schlechter war es um Gesundheit und Lebenszufriedenheit bestellt. 

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

„Generation Angst“

Ist die Nutzung von Smartphones durch Kinder und Jugendliche ein Menschenexperiment, dessen Folgen wir noch gar nicht absehen können? Das Manifest „Generation Angst“ betrifft uns alle. Denn die Technologie destabilisiert Geist und Leben, sagt der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt. Der Professor präsentiert dramatische Ergebnisse: „eine sprunghafte Zunahme von schweren Depressionen und Angststörungen bei jungen Amerikanern um rund 150 Prozent, also um das Zweieinhalbfache, ab dem Jahr 2010, eine Verdreifachung der Rate von Selbstverletzungen bei Mädchen sowie ein Ansteigen der Suizidrate um 188 Prozent.“

DIE WELT schreibt über das Buch Generation Angst [#ad] von Jonathan Haidt: 

„Generation Angst“ ist eine Selbstkorrektur mit atemberaubender Pointe: Nicht Ideologien, so Haidt, seien dafür verantwortlich, dass die junge Generation sich in „Wokeismus“ verliere. Sondern die Verfasstheit der jungen Generation sei ihrerseits Symptom einer kollektiven Psychopathologie, die dadurch verursacht wurde, dass junge Menschen in einer besonders vulnerablen Entwicklungsphase mit Systemen sozialisiert wurden, die von ihrer Funktionsweise her allem widersprechen, was den Menschen als Art in den letzten Hunderttausenden von Jahren ausgemacht hat.

Haidt nennt einige Beispiele: Der Mensch sei von jeher ein Wesen, dessen soziale Interaktionen davon gekennzeichnet sind, dass sie „eins-zu-eins“ oder „eins-zu-mehreren“ funktionieren: Man spricht mit einem oder mehreren Menschen und erhält dabei über das, was Haidt „Synchronizität“, also „Gleichzeitigkeit“ nennt, permanent subtile Hinweise über „das richtige Timing“, über die „Wechselseitigkeit“ der Kommunikation. Social-Media-Plattformen hebeln diese urmenschliche Seinsweise aus: indem sie strukturell eine radikal erhöhte Anzahl von „Eins-zu-mehreren“-Kommunikationen ermöglichen (einer postet, Tausende lesen) und gleichzeitig völlig bereinigt von jedem natürlichen Feedback wie Mimik und Körpersprache sind, wirken sie auf uns destabilisierend.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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