Dogmatik

Der neue Paulus

Die neutestamentliche Wissenschaft diskutiert seit vielen Jahren über die sogenannte „Neue Paulusperspektive“ (engl. „New Perspective on Paul“, abgekürzt meist als „NPP“, siehe dazu auch hier und hier). Die Bezeichnung, die auf einen Aufsatz von James D. G. Dunn aus dem Jahr 1983 zurückgeht, steht für eine theologische Strömung, die die Paulusexegese heute durchdringend prägt und der von manchen Bibelauslegern eine epochale Bedeutung zugeschrieben wird. Die „Neue Paulusperspektive“ tritt mit dem Anspruch auf: Die Paulusauslegung hat bisher versäumt, die Paulustexte innerhalb ihres historischen Kontextes zu deuten. Wenn wir die Brillen der theologischen Traditionen ablegen und zum Verstehen des Neuen Testaments das frührabbinische Judentum heranziehen, begegnen wir dem wahren Apostel Paulus. Der Apostel, den wir bisher zu kennen glaubten, ist nicht viel mehr als eine Fiktion gewesen.

Bei der neuen Sichtweise geht es nicht allein um einen akademischen Diskurs. Neben strittigen Themen wie etwa Antijudaismus, Bundestheologie, Gesetzesfunktion oder Reich Gottes werden auch Kernaspekte der Rechtfertigungslehre verhandelt. Im Raum steht nicht weniger als die große Frage: „Haben wir zentrale Gesichtspunkte des Evangeliums bisher falsch verstanden?“

So manche Entwicklungen in der Praktischen Theologie und Missionswissenschaft, denken wir nur an den missionalen Ansatz, die Transformationstheologie oder die aktuelle Faszination für die politische Theologie, haben mehr mit der NPP zu tun, als das auf den ersten Blick erkennbar ist. Die Befürworter der neuen Sicht betonen die Inklusivität des Evangeliums und das Herabkommen des Himmelreiches auf die Erde. Wir hören Sätze wie: „In der Bibel bedeutet Erlösung nicht: Gott errettet die Menschen aus der Welt heraus, sondern Erlösung ist die Errettung der Welt an sich.“

Ich habe den diesjährigen Sommerurlaub unter anderem dafür genutzt, einige Vorträge, die ich 2016 und 2017 zur „Neue Paulusperspektive“ gehalten habe, für ein kleines Buch mit rund 70 Seiten zu überarbeiten. Im ersten Teil stelle ich bedeutende Wegbereiter der „Neuen Paulusperspektive“ vor. Im anschließenden Kapitel mache ich die Leser mit zwei prominenten Verfechtern der neuen Sichtweise, die auch in bekenntnisorientierten Kreisen fleißig studiert werden und inzwischen eine entsprechende Wirkung entfaltet haben, vertraut. Im dritten Teil skizziere ich herausstechende Anliegen der neuen Paulusinterpretation. Der vierte Teil ist schließlich der kritischen Würdigung gewidmet. Ich versuche zu zeigen, dass die Strömung durchaus unser Bibelstudium stimulieren kann und uns zwingt, genauer hinzuschauen und unsere Exegese hier und da zu revidieren. Ich zeige allerdings ebenfalls, dass es allerlei gute Gründe dafür gibt, Erträge der „Neuen Paulusperspektive“ zu hinterfragen. Meine Kritik beschränkt sich dabei nicht auf die kontroverse Sichtweise der Rechtfertigungslehre. Freilich schenke ich Themen rund um das „Evangelium“ und die „Glaubensgerechtigkeit“ mehr Aufmerksamkeit als anderen. Die Arbeiten von N.T. Wright bekommen dabei besonders viel Raum. Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis liefern zahlreiche Anstöße zum Weiterdenken.

Die Abhandlung will nicht mehr als eine Handreichung sein. Der beibehaltende Vortragsstil nötigt, sich auf die „groben Linien“ zu konzentrieren. Gleichwohl hoffe ich, dass die Ausführungen Interessenten, Theologiestudenten und lehrenden Mitarbeitern in den Gemeinden dienlich sind und zur eigenen Auseinandersetzung mit der Strömung der „Neuen Paulusperspektive“ anregen.

Bestellt werden kann die Handreichung als Paperback- und als Kindle-Buch.

Vom Umgang mit den Mitteldingen

Wie gehen wir mit den Themen um, zu denen es durchaus unter Christen unterschiedliche Auffassungen geben darf? Thomas Jeising hat freundlicherweise den Aufsatz „Worüber die Meinungen geteilt sein können“ von D.A. Carson übersetzt (aus: Themelios 40.3 (2015): S. 383–388). Carson schließt seine Überlegungen zum Umgang mit den adiaphora (dt. Mitteldinge) so ab:

Ein großer Teil dieser Diskussion könnte auch als Test konstruiert werden, was Christen gerade noch erlaubt ist zu tun, oder etwas zynischer formuliert, womit sie noch bei Gott durchkommen können.

Eigentlich ist kein Punkt der Diskussion tatsächlich so gemeint (siehe besonders Punkt 4). Aber das menschliche Herz ist derart verdreht, dass es überraschend wäre, wenn niemand es sich so hindrehte.

Ernsthafte Christen werden jedoch eine Reihe anderer Fragen stellen: Was wird Gott Ehre geben? Was dient meiner Heiligung? Welches Verhalten wird mich dazu befähigen, das Evangelium auf den Leuchter zu stellen? Was bedeutet es, mein Kreuz auf mich zu nehmen und Jesus zu folgen? Was trägt dazu bei, mich für den neuen Himmel und die neue Erde vorzubereiten? Was trägt zu fruchtbarer Evangelisation bei? Was führt zu einem Über­strömen in Liebe, Glaube, Freude und Frieden? Welche Überzeugungen und welches Ver­halten schubst mich zurück zum Kreuz und vorwärts dazu, Gott mit Herz, Seele, Den­ken und Kräften zu lieben und meinen Nächsten wie mich selbst? Und nochmal: Was ehrt Gott?

Nehmen wir an, ein Christ ver­sucht zu entscheiden, ob er einen Film ansehen soll, der nicht nur keine Jugend­freigabe hat, sondern auch noch den gut bezeugten Ruf von spöttischer An­stößigkeit. Es wäre eine gute Übung, anhand der Linien dieses Artikels zu entscheiden, ob es eine nicht bestreitbare Notwendigkeit christlicher Moral darstellt, ihn zu verbannen oder ihn zu den adiaphora zu zählen. Man könnte zum Beispiel anerkennen, dass manche mit einem wirklich „schwachen“ Gewissen den Film nicht anschauen sollten. Andere mit einem „starken“ Gewissen sollten ihn nicht ansehen, weil das Auswirkungen auf das Gewissen der Schwachen hätte. So könnte man mit den verschiedenen Punkten weiter verfahren.

Aber Christen werden sich noch weitere Fragen stellen wollen: Wird das Anschauen des Films einen negativen Effekt auf meinen Wunsch nach Reinheit haben? Wird er meine Phantasie mit Bildern anfüllen, die ich nicht behalten will, aber nicht wieder loswerde? Gäbe es andere Dinge, die ich besser tun sollte? Würde ich Jesus dazu einladen, mich zu begleiten, wenn ich könnte? Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass das Anschauen dieses Films Gott ehren könnte?

Hier der vollständige Aufsatz: bibelbund.de.

Thomas Schreiner über Glaubensgerechtigkeit

Thomas R. Schreiner ist Professor für neutestamentliche Exegese am Southern Baptist Seminary in Louisville (Kentucky). Als Neutestamentler hat er sich in einer Vielzahl von Artikeln zum paulinischen Rechtfertigungsverständnis geäußert. In dem folgenden Interview, das bei Evangelium21 erschienen ist, beantwortet Schreiner Fragen zu einem biblischen Verständnis von Rechtfertigung und geht auch auf die Bedeutung dieser Wahrheit für das christliche Leben ein.

Was er sagt, klingt mehr lutherisch als baptistisch. So bekennt er:

Es war auch Luther, der sagte, dass wir erkennen müssen, dass wir niemals Lehrer, sondern immer Schüler dieser Wahrheit sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine Formel, die wir einfach auswendig lernen müssen. Wir verstehen die Rechtfertigung durch Glauben allein im Schmelzofen des Lebens. Wir vergessen diese Wahrheit sehr schnell. Wir sind nicht dadurch gerechtfertigt, dass wir diese Wahrheit perfekt verstehen und ausleben. Wir vergessen ständig! Wir versagen immer wieder und dann realisieren wir aufs Neue, wenn der Hl. Geist an unseren Herzen arbeitet, dass wir nichts zu bringen haben, sondern allein auf das Kreuz vertrauen können.

Das tägliche Nachdenken über das Evangelium und die Hl. Schrift wird uns helfen. Es würde uns auch helfen, einmal Luthers Auslegung des Galaterbriefs zu lesen. Das regelmäßige Hören auf die Verkündigung des Wortes Gottes ist eine große Stütze. Wir müssen täglich an diese Wahrheiten erinnert werden. Sollten wir jemals davon ausgehen, in dieser Sache ausgelernt zu haben, befinden wir uns in großer Gefahr. Gott führt uns deshalb manchmal in Anfechtungen, sodass wir mit Luther erkennen, dass wir nichts als Bettler sind.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Dogmatik und Gottesgelehrtheit

Die Unterscheidung zwischen objektiver Lehre und subjektiver Erkenntnis von Gott legt nahe, die objektive Lehre werde vor allem theoretisch erschlossen und stehe in den Büchern; die „Gottesgelehrtheit“ sei eher eine praktische Angelegenheit und auf das Leben ausgerichtet. Tatsächlich gehören objektive und subjektive „Dogmatik“ zusammen.

Nehmen wir einmal eine Aussage, die uns wahrscheinlich sehr bekannt vorkommt: „Die biblische Lehre ist die Grundlage für das Leben als Jünger Jesu.“ Diese Aussage ist einerseits korrekt, wenn wir hier mit „Lehre“ meinen, was die Schrift sagt. Meinen wir jedoch mit „Lehre“ dogmatische Aussagen, die von Menschen gemacht sind, ist die Sache etwas komplizierter.

Einerseits ist die Bibel tatsächlich Grundlage für das Leben. Andererseits ist die „Gottesgelehrtheit“ jedoch Voraussetzung für die dogmatische Arbeit. Wir können auch sagen, dass nur jener, der durch den Geist Gottes wiedergeboren ist und Vergebung seiner Sünden empfangen hat, Dogmatik im engeren Sinne treiben kann.

Ein Beispiel dafür finden wir in dem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus. Nikodemus war ein Lehrer in Israel und mit den alttestamentlichen Texten bestens vertraut. Trotzdem verstand er das Evangelium nicht (vgl. Joh 3,10). „Jesus entgegnete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wer nicht von oben geboren wird, kann das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Ohne Heiligen Geist können wir die göttlichen Dinge nicht verstehen.

Paulus schreibt in 1Kor 2,14–15:

„Der natürliche Mensch aber erfasst nicht, was aus dem Geist Gottes kommt, denn für ihn ist es Torheit; und er kann es nicht erkennen, weil es nur geistlich zu beurteilen ist. Wer aber aus dem Geist lebt, beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt. Denn wer hätte die Gedanken des Herrn erkannt, dass er ihn unterwiese? Wir aber haben die Gedanken Christi.“

Ein anderer Text des Apostels ist ebenso aufschlussreich. In Röm 12,1–2 schreibt Paulus:

„Ich bitte euch nun, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes: Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst! Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“

Ein erstaunlicher Gedanke. Christen sind aufgefordert, ihrer Leiber – hier stehend für das gesamte Leben –, Gott zur Verfügung zu stellen. Der vernünftige Gottesdienst, die Transformation unseres Denkens, ist Voraussetzung für die Erkenntnis des göttlichen Willens.

Schauen wir noch in einen dritten Text. In 1Kor 8,1–3 sagt Paulus:

„Nun zur Frage des Opferfleisches: Wir wissen ja, dass wir alle Erkenntnis besitzen. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf. Wer meint, etwas erkannt zu haben, hat noch nicht erkannt, was Erkenntnis heißt. Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt worden.“

Was sagt uns der Apostel hier? Wir können formulieren: Theoretisches Erkennen bläht auf. Im tieferen Sinn handelt es sich gar nicht um Erkenntnis, sondern um stolz machende „Pseudoerkenntnis“. Wer Gott und die Geschwister liebt (vgl. die ganze Debatte um das Götzenopferfleisch in 1Kor 8) empfängt göttliche Erkenntnis (dieser Abschnitt ist inspiriert von J. Frame: „Studying Theologie as a Servent of Jesus“, RTS, URL: Study_as_a_Servant.pdf).

Gott erkennen schließt die Vernunft ein. Das allerdings bedeutet nicht, dass ein großer Intellekt ausreicht, um Gott zu verstehen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Liebe, Gehorsam und der Erkenntnis Gottes. Wir können auch sagen: Dogmatik und Ethik lassen sich nicht voneinander trennen. Helmut Thielicke schreibt treffend: „Wer aufhört, ein geistlicher Mensch zu sein, treibt automatisch eine falsche Theologie, selbst wenn sie gedanklich stubenrein, orthodox und gnesiolutherisch ist“ (H. Thielicke, Kleines Exerzitium für Theologen, 1959, S. 42).

Gott offenbart sich Menschen, die ihn lieben. Nachlässigkeit und Ungehorsam, z.B. in Form von Faulheit oder Ehrsucht, verdunkeln hingegen die Erkenntnis Gottes.

Fundament und Norm dogmatischer Arbeit

Dogmatik ist die möglichst vollständige und zusammenhängende Darstellung der in der Heiligen Schrift vorliegenden Lehre. Dasjenige, was die Bibel in ihrer Vielgestaltigkeit an verschiedenen Orten über einzelne Glaubensartikel aussagt, das stellt die Dogmatik möglichst schlüssig, zweckmäßig und übersichtlich zusammen. Die Bibel ist ihre einzige verbindliche Quelle (Quod non est biblicum, non est theologicum).

Geistgewirkte mündliche oder schriftliche Unterweisung kommt aus dem Wort Gottes und dient der Verherrlichung Gottes durch Jesus Christus. Deshalb schreibt Petrus (1Petr 4,11):

„Wenn einer spricht, dann Worte Gottes; wenn einer dient, dann aus der Kraft, die Gott ihm schenkt, damit in allen Dingen Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus; ihm sei die Herrlichkeit und die Herrschaft in alle Ewigkeit, Amen.“

Martin Luther hat etwa in vielen seiner Schriften diesen Zusammenhang eindringlich herausgestellt. Für den Reformator sind Theologen nichts anderes als Schüler der Propheten. Sie erfinden nichts Neues, sondern predigen das, was sie von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt haben. Die Autorität kommt oder schwindet mit dem Maß der Übereinstimmung zwischen ihrer Verkündigung und dem Wort Gottes. Kommt das, was die Lehrer ihren Gemeinden sagen, aus dem Wort Gottes, sind sie von Gott bevollmächtigt und machen die Herzen der Gläubigen fest. Lehren sie etwas anderes, treiben sie Götzendienst und stiften Verwirrung.

Luther schrieb 1541 in einem Brief an Hans Worst dazu (WA, Bd. 51, 518–519, hier sprachlich leicht modernisiert):

„Das ist nun alles mit Bezug darauf gesagt, daß die Kirche allein Gottes Wort lehren und des gewiß sein muß, dadurch sie der Grund und Pfeiler der Wahrheit und auf den Felsen gebauet, heilig und unsträflich heißt, das ist, wie man recht und gut sagt: Die Kirche kann nicht irren, denn Gottes Wort, welches sie lehret, kann nicht irren. Was aber anders gelehret oder zweifelhaft ist, obs Gottes Wort sei, das kann nicht der Kirche Lehre sein, sondern muß des Teufels Lehre, Lüge und Abgötterei sein. Denn der Teufel kann nicht sagen (weil er ein Lügner und Vater der Lügen ist): Dies sagt Gott, sondern, wie Christus [in] Joh. 8, 44 sagt: von und aus sich selbst muß er reden, das ist: lügen. Ebenso müssen auch alle seine Kinder ohne Gottes Wort aus sich selbst reden, das ist: lügen.“

Luther hält es für bedrohlich, wenn etwas Fremdes in die Lehre eindringt. Die Kraft und Gewissheit der Lehre geht nämlich dadurch verloren. So hat er bemerkt, dass die katholische Lehre schon in ihren Grundlagen sehr stark von Aristoteles beeinflusst war, also aus verschiedensten Brunnen geschöpft hat. Der katholische Trienter Konzilstheologe Melchior Canus publizierte 1563 sein berühmtes Werk Loci Theologici, in dem er die Quellen für die dogmatische Arbeit erörtert. Seiner Meinung nach gibt es zehn Erkenntnisorte: (1) die Schrift, (2) die Tradition, (3) den Papst bzw. „katholische Gesamtkirche“, (4) die Konzile, (5) die röm. Kirche, (6) die Kirchenväter, (7) die Scholastiker, (8) die Vernunft, (9) die Philosophie und (10) die menschliche Geschichte.  Obwohl diese Erkenntnisorte nicht gleichbehandelt werden, formen „Schrift und Tradition, Liturgie und Lehramt“ keine abgrenzbaren Bereiche (siehe dazu: P. Hofmann, Katholische Dogmatik, 2008, S. 151).

All diese Quellen darf die Dogmatik berücksichtigen, aber sie wird sie immer vor dem Forum der Bibel prüfen und verwerfen, was ihre nicht entspricht. Schon eine Portion falsche Philosophie kann, so wie ein wenig Sauerteig den ganzen Teig verdirbt, die Theologie madigmachen. Luther schreibt in seiner Auslegung von Gal 5,9: „Darum muß die Lehre sein wie ein beständiger und runder goldener Ring, in dem kein Riß ist; wenn ein solcher Ring den geringsten Riß bekommt, ist er weiter nicht mehr ganz unversehrt.“  Ähnlich äußert sich Melanchthon: „Denn rechte Lehre dichten nicht neue oder besondere Lehre von Gott, sondern bleiben stracks in dem einigen Verstand, wie sich Gott durch diese Reden offenbart hat, die in den Schriften der Propheten und Apostel und in den Symbolen gefasst sind.“

Die Schriftgemäßheit der Dogmatik zeigt sich nicht nur durch ihre Herkunft vom Wort Gottes, sondern auch dadurch, dass sie nichts verschweigt, was dort steht (und zugleich nicht über sie hinausgeht).

Als der Apostel Paulus sich von den Ältesten der Gemeinde zu Ephesus verabschiedete, sprach er zu ihnen: „… ich habe es nämlich nicht versäumt, euch den ganzen Ratschluss Gottes mitzuteilen“ (Apg 20,27). Nach seiner Auferstehung befahl Jesus seinen Jüngern (Mt 28,19–20): „Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Ein Text bringt besonders eindrücklich zum Ausdruck, dass die gesamte (hier alttestamentliche) Schrift bei der Unterweisung zu berücksichtigen ist (2Tim 3,16–17, Elberfelder ÜS):

„Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig zugerüstet.“

„Die Lehre“, – ich zitiere nochmals Luther – „gleicht einem mathematischen Punkt und kann also nicht geteilt werden, d. h. sie verträgt keine Wegnahme und keine Hinzufügung.“

Freilich erntet so ein schriftbezogener dogmatischer Ansatz heute viel Häme. Franz Pieper beklagte bereits Anfang des letzten Jahrhunderts die Preisgabe des Schriftprinzips (F. Pieper, Christliche Dogmatik, 1946, S. 31):

„Niemand gründet seine Dogmatik in altprotestantischer Art auf die norma normans“, das ist, die Bibel (Nitzsch-Stephan, Dogmatik, S. 12 ff.), und sie bezeichnen das Festhalten am Schriftprinzip als Abnormität und als Repristination eines überwundenen theologischen Standpunktes. Wie ernstlich die Lossagung von der Schrift und damit von der doctrina publica seitens der modernen Theologen gemeint ist, geht daraus hervor, dass sie nicht bloß defensiv auftreten (z. B. durch die Behauptung, dass sie nur alte Wahrheit in neuer Weise lehren), sondern auch zu einer stark ausgeprägten Offensive übergehen und das Beziehen der christlichen Lehre aus der Schrift mit solchen Namen belegen wie:Intellektualismus, Biblizismus, Buchstabentheologie, mechanische Schriftauffassung, Auffassung der Schrift, als ob sie ein Lehrgesetzbuch, ein vom Himmel gefallener Gesetzeskodex, ein papierner Papst usw. wäre.“

Die Vorstellung, biblischer Lehre ließe sich einfach in der Schrift vorfinden, gilt folglich vielen als naiver Biblizismus bzw. als Wunschvorstellung oder gar als Fundamentalismus. Hinter dieser Kritik steht die Annahme, dass wir in der Bibel gar keine einheitliche Theologie finden. Die Bibel sei nicht die uns von Gott anvertraute Offenbarung, sondern lediglich das Zeugnis der Offenbarung. Die Bibel enthalte viele unstimmige oder gar widersprüchliche Erzählungen und Glaubenserfahrungen frommer Menschen. Die Leistung der Dogmatik liege gerade darin, hinter dieses Zeugnis zurückzugehen und dort die eigentliche Offenbarungswahrheit zu suchen. Emil Brunner, unbestritten einer der besten deutschsprachigen Dogmatiker des 20. Jahrhunderts, schreibt beispielsweise (E. Brunner, Die christliche Lehre von Gott, Bd. 1, 1953, S. 14–15.):

„Die Kirche hat ja nicht zu lehren, was Matthäus, was Paulus oder was Johannes lehren, sondern sie hat das Wort Gottes zu verkünden und also zu lehren, was in diesen verschiedenen, voneinander abweichenden apostolischen Lehren die Verschiedene Lehrtypen der Bibel eine göttliche Wahrheit ist. Gäbe es eine unbedingt einhellige und in ihrer Einhelligkeit unmissverständliche ‚apostolische Lehre‘ oder ‚Lehre des Neuen Testamentes‘, so möchte sich vielleicht die Arbeit der Dogmatik erübrigen.“

Sogar die Worte Jesu oder die Briefe eines Paulus können keine verlässlichen Bezugspunkte in der dogmatischen Arbeit mehr sein. Sie sind letztlich nur eine Folie, hinter der wir die Wahrheit zu suchen haben oder vielmehr „herstellen“. Brunner schreibt: „Auch hinter den Lehren Jesu und der Apostel, steht die rechte Lehre als das immer erst zu Suchende.“

Ganz ähnlich argumentiert aktuell Siegfried Zimmer, wenn er fordert, dass die Bibel von Jesus Christus her zu kritisieren sei. Es sei immer zu fragen: „Entspricht die Aussage dieses Bibeltextes dem Evangelium von Jesus Christus?“  Er schreibt weiter (S. Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, 2012, 4. Aufl., S. 91):

„Biblische Texte, die etwas Anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. Das Gottesverständnis Jesu, der Lebensstil Jesu und das Evangelium von Jesus Christus sind für uns der Maßstab, an dem wir alles Andere in der Bibel messen. Dann können wir nicht mehr alle Geschehnisse, die in biblischen Texten auf Gott zurückgeführt werden (…), auf Gott zurückführen. Was wir auf Gott zurückführen können und müssen, entscheidet sich an dem, wie Gott sich in Jesus offenbart hat.“

Zimmer blendet aus, dass Jesus die Schrift nicht nur nicht kritisiert, sondern sie in allem bestätigt und erfüllt hat (vgl. Mt 5,17). Er übersieht ausserdem, dass wir Jesus nur aus der Schrift kennen. Der Jesus, von dem her seiner Meinung nach die Schrift zu beurteilen ist, ist das Produkt der menschlichen Phantasie, denn er ist nicht der Christus der Schrift, sondern der, der hinter der Schrift vermeintlich gefunden wurde. Wir finden aber die Wahrheit nicht hinter der Schrift, sondern nur in der Schrift. Deshalb bleiben wir bei der Schrift. Die Bezeugung der Gesamtlehre der Bibel ist das Anliegen der Dogmatiker. Sie sind unermüdlich darum bemüht, ihrer Generation die Lehre der Schrift verständlich zu erklären und zu lehren. Selbstverständlich gehen sie dabei auf Fragen ihrer Zeit ein. Ihre Antworten auf diese Fragen kommen aber aus dem Wort Gottes. Der christliche Lehrer rückt nicht von der göttlichen Wahrheit ab und verlegt die Antworten in den Bereich der subjektiven und zeitabhängigen Meinung. Die christliche Lehre ist ja gerade Gottes Wort im Gegensatz zu von Menschen erdichteten Lehren. „Denn“ – so heißt es in 2Petr 1,20 „das sollt ihr vor allem andern wissen – keine Weissagung der Schrift verdankt sich menschlicher Anschauung. Denn was an Weissagung einst ergangen ist, geht nicht auf den Willen eines Menschen zurück, vielmehr haben, getrieben vom Heiligen Geist, Menschen im Auftrag Gottes gesprochen.“

Es ist geradezu das Hervorstechende der kirchlichen Lehre, dass sie Gottes Sichtweise zur Sprache bringt. Schauen wir uns dazu einige Bibeltexte an:

Jer 14,14:

„Und der HERR sprach zu mir: Lüge prophezeien die Propheten in meinem Namen! Ich habe sie nicht gesandt und sie nicht beauftragt, und ich habe nicht zu ihnen gesprochen. Sie prophezeien euch Lügenschauung und leere Weissagung und selbst ersonnenen Betrug. Darum, so spricht der HERR über die Propheten, die in meinem Namen prophezeien, obwohl ich sie nicht gesandt habe, und die sagen: Schwert und Hunger wird es nicht geben in diesem Land! — Durch das Schwert und durch Hunger werden diese Propheten ihr Ende finden.“

Jer 23,16:

„So spricht der HERR der Heerscharen: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie täuschen euch, sie verkünden die Schauung ihres eigenen Herzens, nicht das, was aus dem Mund des HERRN kommt.“

Jer 27,14–16:

„Und hört doch nicht auf die Worte der Propheten, die euch sagen: Ihr werdet dem König von Babel nicht dienen müssen! Denn Lüge ist, was sie euch weissagen. Denn ich habe sie nicht gesandt, Spruch des HERRN, und verlogen weissagen sie in meinem Namen, damit ich euch versprenge und ihr umkommt, ihr und die Propheten, die euch weissagen. Und zu den Priestern und zu diesem ganzen Volk habe ich gesprochen: So spricht der HERR: Hört doch nicht auf die Worte eurer Propheten, die euch weissagen: Seht, in Kürze werden die Geräte des Hauses des HERRN zurückgebracht aus Babel! Denn Lüge ist, was sie euch weissagen.“

Hes 13,2–3:

„Du Mensch, weissage für die Propheten Israels, die da weissagen! Und sprich zu denen, die aus sich heraus weissagen: Hört das Wort des HERRN! So spricht Gott der HERR: Wehe den törichten Propheten, die ihrem eigenen Geist folgen, ohne etwas gesehen zu haben!“

1Tim 6,3–5:

„Wer aber andere Lehren verbreitet und sich nicht an die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus hält und an die Lehre, die der Frömmigkeit entspricht, ist ein Narr. Nichts hat er verstanden, sondern krank ist er vor lauter Streitereien und Wortgefechten, bei denen nichts anderes herauskommt als Neid, Streit, Lästerungen, üble Verdächtigungen – ein fortwährendes Gezänk verwirrter Menschen, die sich um die Wahrheit gebracht haben, weil sie meinen, die Frömmigkeit sei ein einträgliches Geschäft .“Hätte die Gemeinde Jesu diese Anweisungen befolgt, würde es möglicherweise deutlich besser um die Verkündigung bestellt sein. Die Bibel fordert nicht nur die Lehrer auf, Sprachrohre Gottes zu sein, sie warnt außerdem davor, Lehrern, die das nicht sind, Aufmerksamkeit und Gemeinschaft zu geben.

2Joh 8–11:

„Gebt acht auf euch, dass ihr nicht verliert, was wir erarbeitet haben, sondern den vollen Lohn erhaltet. Jeder, der darüber hinausgeht und nicht in der Lehre Christi bleibt, hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt, der hat sowohl den Vater als auch den Sohn. Wer zu euch kommt und nicht diese Lehre bringt, den nehmt nicht ins Haus auf und den Gruß entbietet ihm nicht. Denn wer ihm den Gruß entbietet, hat schon teil an seinen bösen Werken.“

Röm 16,7:

„Ich ermahne euch aber, liebe Brüder und Schwestern: Habt ein Auge auf die, welche Anlass zu Spaltung und Ärgernis geben; sie widersprechen der Lehre, die ihr gelernt habt. Geht ihnen aus dem Weg!“

Eduard Böhl (1836–1903) beschrieb die Situation der modernen Dogmatik bereits 1887 mit strengen Worten zutreffend:

„Unsere älteren Theologen hatten noch den Mut, die Dogmen oder die Glaubenslehre selbständig aus der heiligen Schrift zu schöpfen, und sie getrösteten sich der Hilfe des heiligen Geistes, der sie nicht verlassen werde (Joh 16,13). Calvin nennt seine Dogmatik institutio, d.h. Unterricht. Diesen Mut haben die neueren Theologen schon seit einem Jahrhundert verloren. Es ist ihnen ergangen wie dem Elymas (Apg 13,11). Sie suchen andere Führer, nachdem sie durch göttliches Verhängnis blind geworden, oder mit anderen Worten, nachdem die Erleuchtung von oben ausblieb.“

Prüfstein der Dogmatik wie der Theologie überhaupt ist also die Heilige Schrift. Dogmatik will sich nicht von der Schrift emanzipieren, sondern sie verstehen und zusammenhängend lehren. Zugleich müssen wir allerdings die Lehre der Bibel von unserer Dogmatik unterscheiden. Dogmatik ist und bleibt eine menschliche Leistung.

Die lutherische Orthodoxie brachte m. E. diesen Kontrast gebührend zum Ausdruck, indem sie zwischen vorbildlicher und nachbildlicher Theologie unterschied. Die rechte Theologie ist ein Abdruck der urbildlichen Theologie (theologia archetypos). Dogmatik soll demnach ein Abdruck (theologia ektypos) von dem sein, was Gott denkt und uns in seiner Gnade offenbart hat.

Freilich können sie diesen „Dienst des Abdrucks“ nur mehr oder wenig gut verrichten. Auch wenn Dogmatiker sich gerade nicht vom Geist der Zeit treiben lassen sollten, sind sie Kinder ihrer Zeit; sie erreichen die Wahrheit der Schrift mal mehr oder mal weniger. Jesu Worte werden nicht vergehen (vgl. Mt 24,35), die Erkenntnisse der Dogmatik bleiben dagegen Stückwerk (vgl. 1Kor 13,9). Gelegentlich machen Dogmatiker Fortschritte, verstehen also Dinge der Schrift besser, als sie bisher verstanden wurden. Das sollte ihr Anliegen sein: mehr und klarer vom Wort Gottes zu reden. Leider fallen sie jedoch allzu oft hinter die Leistungen der Väter zurück. Das gilt vielleicht gerade für die Neuzeit, die sich durch Grundentscheidungen gegenüber der göttlichen Offenbarung verschlossen hat bzw. sich über die Offenbarung erhöht. Dogmatiker sind deshalb gut beraten, wenn sie die „Weisheit der Väter“ kennen und schätzen und in ihre Untersuchungen einfließen lassen. Auch wird die Dogmatik darüber hinaus den Dialog mit philosophischen und theologischen Strömungen suchen. Jedoch nicht, um Wahrheit auszuhandeln, sondern sie angesichts der aktuellen geistesgeschichtlichen Herausforderungen zu bezeugen. Grund und Norm der Dogmatik bleibt allein Schrift.

Wurzeln dogmatischer Arbeit

Wo hat, wenn die Schrift selbst keine Dogmatik ist, diese Disziplin ihren Ursprung? Wir können in Anlehnung an Emil Brunner drei Wurzeln nennen:

(1) Die erste Wurzel der Dogmatik ist der Kampf gegen falsche Lehren. Hören wir einmal auf Emil Brunner, der dies so klar zur Sprache bringt, dass es nur schwerlich besser gesagt werden kann (E. Brunner, Die christliche Lehre von Gott, Bd. 1, 1953, S. 11–12):

„Die sündige Eigenwilligkeit des Menschen bemächtigt sich des Evangeliums und verändert, zunächst unbemerkt, ja vielleicht auch unbewusst, den Inhalt, den Sinn der Botschaft von Jesus Christus und seiner Erlösungstat, vom Gottesreich und der Bestimmung des Menschen. Es entstehen Evangeliumssurrogate, Vermischungen mit Fremdem, Abschwächungen, Verdünnungen, Abweichungen; den biblischen Worten wird ein ihnen fremder, ein ihrer Absicht widersprechender Sinn unterschoben. Die christliche Gemeinde ist in Gefahr, ihren göttlichen Wahrheitsschatz gegen menschliche Erfindungen zu vertauschen. Sollten also die, die um die ursprüngliche Wahrheit wissen, sich nicht aufgerufen fühlen, zwischen Schein und Wahrheit, zwischen ‚Gold‘ und ‚Katzengold‘ zu unterscheiden? Diese Nötigung der Unterscheidung und warnenden Abgrenzung macht der ursprünglichen Naivität ein Ende. Vergleichung, Reflexion wird notwendig, und ihr Anteil wird um so grösser, je raffinierter die Fälschungen sind. Wo die biblischen Wörter zu Gefässen fremder Inhalte werden, genügt keine Berufung auf Bibelworte; wo ganze fremde Systeme in die kirchliche Verkündigung eingeschmuggelt werden, wird es notwendig, das Ganze auf der einen dem Ganzen auf der andern Seite gegenüberzustellen und die systematischen Zusammenhänge dort und hier blosszulegen. Die Irrlehre, die Lehrverfälschung ruft [nach] der dogmatischen Begriffsbildung und Systematik. Aus dem Kampf gegen die Irrlehre ist die Dogmatik der alten Kirche entstanden; aus dem Kampf gegen die römische Verfälschung der biblischen Botschaft erwuchs die Dogmatik der Reformationszeit.“

Wir erkennen hier den apologetischen Gehalt der Dogmatik. Die Verteidigung der gesunden Lehre gehört zu ihren wichtigen Aufgaben. Während sich die Apologetik mehrheitlich nach außen wendet, richtet sich die Dogmatik überwiegend an die Gemeinde der Christusnachfolger.

(2) Eine zweite Wurzel ist die biblische Unterweisung (Katechese). Die Christen haben Jesu Befehl, Menschen aus allen Völkern zu taufen und sie zu lehren (vgl. Mt 28,19–20), ernst genommen und ihre Glieder unterwiesen. Wo Kirche keine lehrende Kirche ist, verliert sie ihre geistliche Kraft sehr schnell. Deshalb wurden Neubekehrte, frisch Getaufte, aber auch Interessierte, gründlich in der Lehre unterwiesen. Bald entwickelte sich ein formalisierter Taufunterricht, der auch Katechese genannt wurde.

Gregor von Nyssa (ca. 335/340 – 394) schreibt in seiner Großen Katechese über die Aufgabe der Unterweisung (G. v. Nyssa, Große Katechese, generiert von der elektronischen BKV, URL: www.unifr.ch. Der Text wurde sprachlich leicht modernisiert.):

„Die Unterweisung in der Glaubenslehre ist eine Pflicht für die Vorsteher des Geheimnisses der Religion, damit die Kirche durch den Zuwachs der Auserwählten dadurch voll werde, dass das Wort des Glaubens auf dem Wege des Unterrichtes dem Ohr der Ungläubigen vermittelt wird. Doch nicht dieselbe Art des Unterrichtes wird für alle, die zu dem Worte herantreten, passen, sondern man muss die Belehrung jedes Mal nach der Verschiedenheit ihrer Religion einrichten, so dass man zwar dasselbe Lehrziel im Auge hat, aber bei allen nicht die nämliche Lehrmethode in Anwendung bringt. Von einer anderen Ansicht ist ja der Jude befangen und von einer anderen der im Heidentum Lebende; … Vielmehr muss man, wie gesagt, auf die Meinungen der einzelnen Rücksicht nehmen und die Belehrung jedes Mal im Hinblick auf die besonderen Irrtümer des betreffenden Gegners einrichten; dazu gehört ferner, dass man bei jedem Unterricht gewisse Grundwahrheiten und wohlbegründete Prämissen im Voraus feststellt, so dass man, von dem von beiden Teilen Zugestandenen ausgehend, in Form von Folgerungen die ganze Wahrheit entwickelt.“

Sehr bekannt ist auch die Schrift Vom ersten katechetischen Unterricht des Kirchenvaters Augustinus.  Er gilt als Erneuerer der Einführungskatechese und erörtert dort viele methodische und pädagogische Fragen, z. B. die Frage, wie oft der Stoff wiederholt werden sollte und ob die Freude am Lehren Voraussetzung für einen gelingenden Unterricht ist.Deutlich wird sowohl bei Gregor als auch bei Augustinus, dass die eine Lehre auf unterschiedliche Weise vermittelt werden muss. Die Unterweisung nimmt Rücksicht auf die Meinungen der Adressaten, setzt sich mit den Irrtümern der „Gegner“ auseinander, um ihnen beim Erschließen der Evangeliumswahrheit zu helfen. Das ist bereits dogmatische Arbeit. Sie fördert die Erneuerung des Denkens, damit der Mensch den Willen Gottes erkennt und zu allem guten Werk geschickt ist (vgl. Röm 12,1–3; 2Tim 3,16f).

(3) Die dritte Wurzel ist die exegetische Arbeit mit biblischen Texten. Mit der Kanonisierung der Heiligen Schrift wuchs das Bedürfnis, Begriffe, Themen und Zusammenhänge tiefer zu verstehen. Es genügte nicht mehr, zu verstehen, was beispielsweise Paulus mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ im Römerbrief meinte. Man glich Formulierungen und Themen mit anderen Briefen ab, wollte ein gesamtbiblisches Verständnis für „Gerechtigkeit“ usw. entwickeln. So erlernte man das konkordante Arbeiten, erarbeitete theologische Themen und entwickelte erste kleine dogmatische Schriften zu bestimmten Thematiken.

Von der Notwendigkeit dogmatischer Arbeit

Die Bibel ist kein dogmatisches Buch. Die Bücher der Bibel gehören verschiedenen Gattungen, im Alten Testament finden wir Geschichtsbücher, Lehrbücher, Psalmen und Prophetenbücher. Das Neue Testament enthält die Evangelien, die Geschichte der ersten Gemeinden und Mission, die verschiedenen Briefe und das Buch der Offenbarung. Selbst der Römerbrief des Paulus, zweifellos ein Werk, das in sehr schlüssiger Weise Gedanken entfaltet, ist keine Dogmatik, sondern ein Schreiben mit konkreten Anlässen und Adressaten.

Auf der Grundlage dieses Sachverhalts kann man fragen, ob wir denn so etwas wie Dogmatik überhaupt brauchen. Tatsächlich habe ich mal auf einer Tagung ein Gespräch mit einem Theologen geführt, der fest davon überzeugt war, dass die Christenheit fast alle Streitereien der Dogmatik verdanke und der Zeitpunkt gekommen sei, diese von den Lehrplänen zu streichen. Warum hat Gott uns kein dogmatisches Lehrbuch offenbart? Vielleicht will er ja gar keine Dogmatik?

Viele Christen hegen Vorbehalte gegenüber der Dogmatik. Warum brauchen wir die klaren Definitionen und komplizierten Aussagesätze (Propositionen) und Argumente? Das Evangelium ist so einfach, so dass jeder Laie es verstehen kann. Die ersten Jünger Jesu waren keine Professoren, sondern Fischer. Das Evangelium von der vergebenden Barmherzigkeit Gottes ist für das Herz und Leben des Menschen gedacht, nicht für sein Bedürfnis, Verstandesdispute zu führen. Dogmatik führt doch nur in das abgehobene, theoretische Debattieren. Gott aber will uns in die Gemeinschaft rufen und zu Werken der Barmherzigkeit anstiften. Es geht dem Christentum nicht um die reine Lehre, sondern um den Glauben an die Person Jesus Christus. Die dogmatische Lehre, so häufig zu hören, widerspreche dem Leben, fördere die Intoleranz und ersticke die tätige Liebe (vgl. dazu W. Künneth, Fundamente des Glaubens, 1980, S. 40–42).

Solche und ähnliche Vorbehalte sind schon alt und nicht gänzlich unberechtigt. Lehre kann lebensfremd sein. Tatsächlich warnt bereits die Bibel vor dem unnützen Gezänk streitsüchtiger Menschen (vgl. 1Tim 6,5). Dogmatische Streitigkeiten spiegeln manchmal nur das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, Gewinnsucht (vgl. Tit 1,11; 2Petr 2,3) oder auch Manipulation von Menschen. Auch unter den Dogmatikern gibt es „böse Leute“ und „Scharlatane“, die zum Schlechten hin „verführen“ und „verführt werden“ (2Tim 3,13).

Dennoch dringen diese Vorbehalte nicht zum Kern der Sache vor.

Einmal können wir einwenden, dass die Heilige Schrift, obwohl sie kein dogmatisches Lehrbuch ist, gleichwohl den unschätzbaren Wert der Lehre herausstellt. Nachfolger Jesu sollen die Zuverlässigkeit der Lehre erkennen (vgl. Lk 1,4), an der Lehre der Apostel festhalten (vgl. Apg 2,42), der Lehre gegenüber von ganzem Herzen Gehorsam werden (Röm 6,17). Alles, was uns im Römerbrief geschrieben ist, ist „uns zur Belehrung geschrieben“ (Röm 15,4). Wir finden in den Pastoralbriefen die aufschlussreiche Wertschätzung der „gesunden Lehre“ (2Tim 4,3), so dass ein Ältester am Wort festzuhalten hat, das „zuverlässig ist und der Lehre entspricht“ (Tit 1,9).

Noch einschneidender ist die Beobachtung, dass die Wirklichkeit so geschaffen ist, dass wir ohne Dogmatik nicht leben können. Kurz: Jeder Mensch ist durch die Welt, in die er hineingestellt ist, gezwungen, „Dogmatiker“ zu sein. Walter Künneth spricht von einer anthropologischen Grundbestimmtheit der Lehre und schreibt (W. Künneth, Fundamente des Glaubens, 1980, S. 42):

Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Einsicht, daß das Menschsein in seiner Tiefe und Hintergründigkeit von einer dogmatischen Weichenstellung nicht zu lösen ist. Es gibt demnach keinen Menschen, der sich nicht unbewußt oder bewußt, indirekt oder direkt von einer geheimen dogmatischen Überzeugung leiten ließe. Die Behauptung einer Grundsatzneutralität muß als Selbsttäuschung durchschaut werden. Jedes menschliche Denken und Handeln wird von irgendwelchen vorausgegebenen Grundsätzen, die man auch als ‚Lehren‘ bezeichnen könnte, unterbewußt oder willensmäßig gesteuert. Die Quellorte dieser den Menschen dirigierenden Prinzipien und Lehren sind unendlich mannigfach, zu denken ist an Tradition und Sitte, Umwelteinflüsse, tiefenpsychologisch zu analysierende Urgründe der menschlichen Psyche, seine persönlichen Überzeugungen und Erfahrungen, die sich zu normgeladenen Lebensgrundsätzen verdichten. So entstehen und wirken ‚dogmatische‘ Leitbilder, die auf Verhaltensweise und Lebensgestaltung einen zielsetzenden Einfluß ausüben. Niemand kann daher dieser Grundbestimmtheit durch eine ‚Lehrerkenntnis‘ oder ein ‚Lehrurteil‘ entfliehen. Die Ausrichtung des Daseins durch irgendeine ‚Lehre‘ ist unvermeidbar.

Folglich geht es gar nicht um Dogma versus Leben, sondern um Dogma versus Dogma, Irrtum und Lüge versus Wahrheit. Die wesentliche Frage ist: Lenken falsche oder gesunde Glaubenssätze unser Leben? Immer werden es Glaubenssätze sein, die unserem Leben Richtung und Sinn geben. Die falsche Lehre knechtet uns, macht uns geistliche krank und lenkt in das Verderben. Jesus als der wahre Lehrer und Erlöser führt uns durch seine Worte in die Wahrheit und damit auch in die Freiheit.

Überdenken wir zur Illustration kurz den geläufigen Einwand, es komme auf die Liebe und nicht auf die Lehre an. Der Rückzug auf die „Liebe“ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine zutiefst dogmatische Entscheidung. Was ich auch immer unter „Liebe“ verstehe, meine Auffassung von Liebe ist ein dogmatische. Der eine versteht unter Liebe, dass ich die Interessen des Nächsten in jedem Fall zu achten habe. Ein anderer verbindet mit Liebe möglicherweise ein bestimmtes Gefühl. Wieder ein anderer möchte um der Liebe willen einen Menschen vor seinen selbstsüchtigen Sehnsüchten schützen. Was auch immer wir unter Liebe verstehen, unsere Deutung und Verwirklichung der Liebe ist von Einsichten, Erfahrungen und Urteilen über den Menschen und seine Beziehungen getränkt, die dogmatischer Natur sind. Liebe ersetzt Erkenntnis also nicht, sondern setzt sie voraus. Lehre im Sinne von dogmatischen Grundentscheidungen ist deshalb unausweichlich. Auch wer Lehre ablehnt, lehrt. Die entscheidende Frage ist: Welche Lehre bestimmt unser Denken und Handeln? Dogmatik will unsere Herzen unter die Herrschaft der Wahrheit bringen. Deshalb entfaltet sie uns die unüberbietbare Lehre, die uns Christus gebracht hat.

K. Bockmühl: Theologie der Anpassung

Klaus Bockmühl schreibt über die Krise der Gegenwartstheologie („Aufgaben der systematischen Theologie heute“, in: Denken im Horizont der Wirklichkeit Gottes: Schriften zur Dogmatik und Theologiegeschichte, Abt. 2, Bd. 1, 1999, S. 105-121, hier S. 114):

Ein gut Teil heutiger Theologie ist Theologie der Anpassung an den Geist des »We never had it so good« mit seinem gezähmten Gottesgedanken und der Ab­lehnung jeglichen Urteils über die Sünde des Menschen. Im allgemei­nen scheint die Botschaft der Theologie an die Öffentlichkeit zu lau­ten: Doch, es gibt einen Gott, aber wir können versprechen, daß er sich nicht einmischt. Die Theologie vermittelt, gewollt oder unge­wollt, den Eindruck der Unwirklichkeit Gottes. 

Heubtartikel Christlicher Lere

51ZGPCMKP9LFalls jemand auf der Suche nach einem schönen Weihnachtsgeschenk für einen Theologen oder Historiker ist, hier eine Empfehlung: Die Evangelische Verlagsanstalt gibt seit 2003 die Heubtartikel Christliche Lere in einer von Johannes Schilling, Ralf Jenett und anderen vorbildlich besorgten historisch-kritischen Ausgabe heraus.

Hier zwei Zitate.

Melanchthon hat die deutsche Ausgabe seiner Loci theologici der Hausfrau Anna Camerarius gewidmet. Anna war die Ehefrau seines besten Freundes Joachim Camerarius, der als Professor für Griechisch und Latein seit 1541 an der Universität Leipzig wirkte. In der Widmung schreibt Melanchthon (S. 77):

Denn rechte Lerer tichten nicht neue oder besondere Lere von Gott, sondern bleiben stracks in dem einigen verstand, wie sich Gott durch diese Reden geoffenbart hat, die in der Propheten und Aposteln schafften und in den Symbolis gefasset sind. Und ist das gantze Predigampt, das Gott geordnet hat in öffentlichen versamlungen, auch das schreiben, nicht anders denn der Propheten und Aposteln schafften und | die Symbola dem Volck für lesen oder sprechen und dabey eine erinnerung thuen – wie eine Grammatica –, was der spräche warhafftiger verstand sey, was Gott genennet ist, was erschaffene ding sind, was diese namen: Leib, Geist, Person, Gesetz, Sünde, Evangelium, Verheissung, Glaube, Gnade, Gerecht werden, Gottesdienst etc. bedeuten.

Melanchthon beginnt seine Abhandlung mit der Gotteslehre. Schon zum Eingang spitzt er diese christologisch zu (S. 86–87):

Dein gedanken sollen nit irrig umbsweifen, sondern gott hatt dir seinen son Ihesum Christum, der gecreutziget ist und vom tod ufferstanden, für gestallt und sein wort dabey mit gewissen Zeugnissen, mit ufferwekung der todten etc. gegeben. Disen gott, der sich also geoffenbart hatt in Christo und durch Christum, soll dein hertz ansehen und ansprechen und dises von seinem wesen und willen festiglich bey dir schliessen, das dir durch den Son gepredigt ist. Also redet dein hertz den warhafftigen gott an und spricht nit ettwas anders an, das nit gott ist. Und betracht dise wort des herrn Christi vleissig: Niemand khommet zum vatter denn durch mich. Item: Wer mich sihet, der sihet den vater. Da soltu gott suchen, und da sollen deine gedanken und dein hertz angebunden sein, nemlich an disen Son gottes, Ihesum Christum, und sollt gewißlich schliessen, das du den warhafftigen gott da findest und anredest, so du betrachtest, das diser der warhafftig gott sey, der sich durch disen seinen Son geoffembaret hatt, und wie ehr sich geoffembart hatt, soltu zugleich betrachten.

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