Gab es ein einheitliches palästinensisches Judentum?

Besonders E.P. Sanders hat das Bild vom antiken Judentum, das die Paulusinterpretation über Generationen hinweg geprägt hat, nachhaltig korrigiert. So gut wie alle Vertreter der Neuen Paulusperspektive (NPP) sowie zahlreiche sonstige Paulusforscher stimmen der Behauptung Sanders zu, dass das Judentum des ersten Jahrhunderts fälschlicherweise als Gesetzesreligion interpretiert worden ist. Die These lautet: Das, wogegen der Apostel scheinbar angeschrieben hat – nämlich die Werkgerechtigkeit der Gesetzestreuen – hat es so nicht gegeben. Das Judentum, das in Werken wie etwa dem Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Billerbeck vermittelt wird, ist nur eine minderwertige Karikatur des jüdischen Glaubens. Die Paulusinterpretation muss gründlich von der Folie der Leistungsreligion befreit werden. Etwa drei Viertel des bahnbrechenden Werkes von E.P. Sanders über das Judentum von 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. „beschäftigt sich nicht so sehr mit Paulus, sondern mit der Korrektur der Wahrnehmung vom Wesen des Judentums“. Kennzeichnend für das reale Judentum sei nicht das Leistungsdenken, sondern die Struktur des Bundesnomismus. James Dunn schreibt über Sanders Leistung:

„Im Gegensatz [zur verzerrten, legalistischen Sicht des Judentums, Anm. R.K.] basiert – wie Sanders klar genug gezeigt hat – das gesamte religiöse Selbstverständnis des Judentums auf der Voraussetzung der Gnade: Daß Gott Israel in Freiheit erwählt und mit ihm seinen Bund geschlossen hat, um ihr Gott zu sein bzw. damit sie sein Volk sind. Diese Bundesbeziehung wurde durch die Tora reguliert, freilich nicht als ein Weg, um in den Bund hineinzukommen oder um Verdienst zu erwerben, sondern als ein Weg, um innerhalb des Bundes zu leben.“

Die Erfüllung des Gesetzes darf demnach nicht als eine menschliche Vorleistung für den Eintritt in den Bund Gottes verstanden werden (getting in), sondern lediglich als eine Bedingung für das Bleiben im Bund (staying in). Der Mensch gelangt zum Heil durch Gottes Gnade und verbleibt im Heil durch seine Werke (bzw. Reue und Inanspruchnahme von Sühnemitteln nach dem Sündigen).

Obwohl die Kritik am Zerrbild des Judentums zu begrüßen ist, hat sich inzwischen gezeigt, dass Sanders seine Quellen einseitig gewählt und über-systematisiert sowie polemisch ausgewertet hat. Während Sanders das Gemeinsame des Judentums in Palästina betont (Common Judaism), sind die religiösen und sozialen Unterschiede zwischen den jüdischen Gruppen weniger klar präsentiert worden. Martin Hengel und Roland Deines schreiben etwa, dass Sanders’ Darstellung des Judentums nur eine Außenansicht ist. „In Palästina haben die Menschen die beachtlichen Unterschiede und Spannungen“ damals viel deutlicher zur Kenntnis genommen.

Der jung verstorbene Friedrich Avemarie hat nachgewiesen, dass die rabbinische Soteriologie nicht nur als Gnadenlehre verstanden werden kann, wie das Sanders behauptet. Vielmehr gab es innerhalb des palästinensischen Judentums divergierende Gnadenlehren. Sowohl Billerbeck als auch Sanders haben die Texte jeweils einem soteriologischen Prinzip untergeordnet. Nach Avemarie lassen sich jedoch Werkgerechtigkeit und Bundesnomismus in der frührabbinischen Literatur gleichrangig und nebeneinander nachweisen.

Aus etlichen jüdischen Texten geht zudem hervor, dass die soteriologische Bedeutung des Gesetzes und ihrer Erfüllung höher eingeschätzt wird, als Sanders meint. Selbst wenn es stimmt, dass die Tora nicht gegeben wurde, um in den Bund hineinzugelangen, bleibt ja die Frage nach dem Heil. Es ist dem Volk nämlich nicht gelungen, das Gesetz zu halten; und so droht bei einem Gericht nach den Werken eben doch die Verurteilung.

Der eben schon erwähnte John Barclay zeigt im zweiten Kapitel seines großen Paulusbuches, dass in etlichen jüdischen Texten (er untersucht fünf Überlieferungen akribisch) etwas zu finden ist, was sich „sehr deutlich von Sanders’ Bild des ‚Bundesnomismus‘ unterscheidet“.

Der Neutestamentler Jörg Frey schreibt zu Sanders Sicht des Judentums:

„Methodisch führt die Abstraktion auf Grundstrukturen zu einer Einebnung der je spezifischen Differenzen, zu einem vermeintlich einheitlichen Judentum hinter den Texten, das mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Judentum jener Zeit in seiner Zuordnung von Tora und Heil vielfältiger und weniger schematisch war, als Sanders zugesteht.“

Die Kategorien des rabbinischen Judentums sind also weitaus flüssiger, als es sich die Vertreter der NPP wünschen.

Aus dem Buch: Der neue Paulus: Handreichung zur „Neuen Paulusperspektive“, 2017.

 

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1 Kommentar
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Markus Jesgarz
6 years ago

Dies ist ein Kommentar zu der Aussage:
Kennzeichnend für das reale Judentum sei nicht das Leistungsdenken, sondern die Struktur des Bundesnomismus.
Meine Meinung ist:
Der Herr Jesus Christus verurteilte das reale Judentum der Schriftgelehrten und Pharisäer.
1.
In Matthäus 5,20 steht:
https://www.bibleserver.com/text/SLT/Matthäus5
Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr gar nicht in das Reich der Himmel eingehen!
2.
In Matthäus 23,27-28 steht:
https://www.bibleserver.com/text/SLT/Matthäus23
27 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr getünchten Gräbern gleicht, die äußerlich zwar schön scheinen, inwendig aber voller Totengebeine und aller Unreinheit sind!
28 So erscheint auch ihr äußerlich vor den Menschen als gerecht, inwendig aber seid ihr voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit.
3.
In Matthäus 23,33 steht:
Ihr Schlangen! Ihr Otterngezücht! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entgehen?

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