Irak

Das Drama von Mossul (Teil 3)

Wie angekündigt hier die Fortsetzung (siehe auch hier) des Berichtes von Andrea, die derzeit im Nordirak für das Hilfswerk GAiN unterwegs ist:

Donnerstag, 31. Juli 2014, abends

Meine Zeit im Irak geht dem Ende entgegen; ich vermute, dass das hier der letzte Beitrag meines Newstickers sein wird, weil wir am Wochenende wieder in einem Flüchtlingslager unterwegs sind und ich kaum zum Schreiben kommen werde. Heute Nachmittag habe ich mit der Hilfe einer Übersetzerin unsere Nachbarn der letzten Woche interviewen können. So viele der kleinen gemeinen Details, die sie erzählten, habe ich inzwischen dutzendmal gehört. So viele traurige Geschichten haben uns alle in den letzten Wochen müde gemacht, dass ich manchmal dachte, ich mag eigentlich nichts mehr hören. Aber jede dieser Geschichten mit jedem einzelnen gemeinen Detail verdient es eigentlich, gehört zu werden. Was mich ganz neu fasziniert und tröstet, sind diese Sätze in den Psalmen, die wir morgens in der gemeinsamen Andacht lesen: Wie leidenschaftlich Gott auf Seiten der Unterdrückten steht und wie sein Zorn gegen die Übeltäter entbrennt. Und dass er denen Recht schaffen wird, die sich zu ihm halten. Bei Gott ist keine dieser Geschichten vergessen.

Es sind, wie ich jetzt herausfinde, drei neue Familien, die mit in unserer Wohnung leben: G., die alte Dame, und ihr Mann sind die Eltern der zwei jüngeren Frauen vielleicht Mitte dreißig: Eine von ihnen, J., lebte mit den Eltern, ihrem Mann und der 17jährigen Tochter in Mossul. Sie bewohnten zusammen ein großes Haus und betrieben eine Cafeteria auf dem Universitätsgelände von Mossul. Die andere Tochter, K., lebte mit ihren zwei Kindern im Grundschulalter in einem Dorf außerhalb von Mossul; ihr Mann ist Techniker für Handys und ähnliche Kleingeräte. Die Familien gehören zur Chaldäisch-Orthodoxen bzw. Armenisch-Orthodoxen Kirche, und schon in den letzten Jahren haben sie sich nicht mehr sicher gefühlt. “Islamistische Terroristen”, wie sie alles nennen, was auch schon vor ISIS die Gegend unsicher gemacht hat, sind mehrmals in ihr Haus eingedrungen und haben sie bedroht. Sie erzählen das so nebensächlich, wie ich meinerseits vielleicht berichten würde, dass mir nun schon mehrmals die Sicherung im Wohnzimmer durchgebrannt ist. Den Pfarrer ihrer Kirche hat man umgebracht.

Es ist schon das vierte Mal, dass sie ihre Häuser verlassen haben und geflüchtet sind; diesmal, so spüren sie, war es anders und hatte etwas Endgültiges. Die letzten Male, 2008, 2010 und 2011, hatten sie selbst die Entscheidung gefällt, dass es zu gefährlich wurde und sie besser gehen sollten. Sie konnten ihre Sachen mitnehmen und sich für einige Monate zu Verwandten flüchten, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte und sie in ihre Häuser zurückkehren konnten. (Andere unserer neuen Bekannten haben auch berichtet, wie die Islamisten in ihrer Abwesenheit in ihre Häuser einbrachen und sich dort häuslich einrichteten. Wenn sie zurückkehrten, mussten sie erst einmal Blutspuren und Reste von Verbandszeug entsorgen, und ihre Einrichtung war verwüstet.)

Am 18. Juli fielen Bomben auf Mossul. Die Familie bekam es mit der Angst zu tun und beschloss zu flüchten, solange es noch möglich war. Am 19. Juli um 9 Uhr, an dem Tag, an dem später das Ultimatum für Christen verkündet wurde, verließen sie ihr Haus zum letzten Mal. Ein Cousin, der kurz vor ihnen geflüchtet war, rief von einer ihnen unbekannten Nummer aus an: Sie hatten ihm am Kontrollpunkt sein Handy und viele Wertsachen abgenommen, und so musste er sich für seinen Anruf ein anderes Handy borgen. Aber sein Auto war ihm geblieben. „Am besten versteckt ihr das, was ihr an Wertvollem mitnehmen wollt, irgendwie im Auto“, riet er der Familie. Und das taten sie.

„Wir haben beschlossen, dass wir unsere Enkelin, die Tochter von J., bei meinem Mann und mir im Auto mitnehmen“, erzählt G. „Sie ist ja erst siebzehn. Ich bin eine alte Frau; in unserer Kultur sollten die Leute mich respektieren, und wir dachten, dass ich sie besser beschützen kann, als wenn sie bei ihren Eltern bleibt.“ Aber es gibt keinen Respekt am Kontrollpunkt, weder für die alte Dame noch für irgendjemand anderen.

„Sie haben uns befohlen auszusteigen“, erzählt J., „und sie haben uns durchsucht. Alle Wertsachen haben sie uns weggenommen, sogar meine Brille und meinen Ehering.“ Seit ihrer Flucht kann J. nur unklar sehen; es erklärt, warum sie immer ein bisschen verwirrt dreinschaut. Erst jetzt, nach fast zwei Wochen, kann sie zu einem Augenarzt gehen. „Ja, uns haben sie auch aus dem Auto gescheucht“, schluchzt G. „Ich habe zu ihnen gesagt: ‚Ich bin doch eine alte Frau und mein Mann hat Rückenprobleme. Wir können nicht so einfach aussteigen.’ Aber der eine Mann hatte ein Gewehr und das hat er auf uns gerichtet. Wir haben uns also aus dem Auto gequält. Sie haben uns angeschrien: ‚Wo ist euer Gold?’ Ich hatte solche Angst, dass ich ihnen einfach meine Tasche in die Hand gedrückt habe. Aber dann haben sie mir auch mein Gebiss abgenommen. Seit vorletzter Woche habe ich deswegen im Oberkiefer keine Vorderzähne mehr. Sie haben mir auch mein Blutdruckmessgerät abgenommen und unsere Haustürschlüssel. Ich hatte auch einen Rosenkranz dabei, den sie mir weggenommen haben, und ein Bild von Jesus. Das hat mir einer von den Männern aus der Hand gerissen. Er hat es auf den Boden geworfen und zertreten. Er hat mich angeschrien und beschimpft. Dann haben sie mir auch noch befohlen, die Schuhe dazulassen. ‚Aber das geht doch nicht’, habe ich gebettelt, ‚der Boden ist zu heiß und ich kann ohne meine Schuhe doch nicht laufen.’ Aber sie haben einfach nur auf uns eingebrüllt. Mein Mann hat sie angefleht: ‚Ihr sagt doch, dass Mohammed ein guter Mann war. Um seines Namens willen – behandelt uns doch bitte nicht so.’ Aber sie haben ihn einfach ignoriert. Sie waren so grausam. Meine Enkelin hat nach ihrem Papa geweint. Wir haben alle geweint, aber sie hatten kein Mitleid.“

„Ich hatte solche Angst“, sagt J., die ja im anderen Auto saß. „Ich hatte solche Angst, dass sie meine Tochter verschleppen. Sie haben uns dann befohlen, in eins von ihren Autos zu steigen, und wir haben gesagt: ‚Aber was wird denn aus unserem Auto?’ Sie haben uns nur angeschrien: ‚Hört auf, dumme Fragen zu stellen, und steigt hier ein.’ Wir haben in dem Moment wirklich gedacht, dass sie uns irgendwohin fahren, wo sie uns umbringen. Aber sie haben uns einfach außerhalb von Mossul ausgesetzt.“

Die beiden Familien fanden wieder zusammen und schlugen sich zu Fuß und per Anhalter zu dem Dorf durch, in dem K., die andere Tochter, lebte. Es ist übrigens eines der Dörfer, das meine Kollegen mit einer Wagenladung Trinkwasser versorgten, weil Wasser und Elektrizität dort fehlten.

Sie waren erst drei Tage dort, als ISIS eine Fabrik für medizinische Geräte bei diesem Dorf angriff. Ihre Bomben fielen die ganze Nacht hindurch und der Familie wurde bewusst, dass sie auch hier nicht sicher war. Mitten in der Nacht flüchteten sie aus K.s Haus und nahmen sie und ihre vierköpfige Familie gleich mit. Nachts um eins kamen sie an einem kurdischen Kontrollpunkt an, wurden aber zu dieser Zeit nicht mehr durchgelassen. „Zurückzugehen kam für meine Mutter nicht in Frage“, sagt J. „Wir haben da am Straßenrand unsere Matratzen und Sachen auf den Boden gelegt und ein paar Stunden geschlafen. Um fünf Uhr morgens haben sie uns dann durchgelassen.“ Einige Nächte lang kam die Familie in der chaldäischen Kirche in unserer Stadt unter, dann mussten sie dort weg. Die Gemeinde, zu der „unsere“ Wohnung gehört, hat ihnen erlaubt, eine Woche bei uns zu wohnen. Wir kaufen für die Familien mit ein, haben ihnen einige Kleider und Schuhe aus unserem Container mitgebracht und hoffen mit ihnen, dass sie bald eine dauerhaftere Bleibe finden. Ihre Woche bei uns läuft eigentlich morgen aus, aber wir haben noch nicht gehört, dass sie etwas anderes gefunden haben – zumindest etwas, das sie auch bezahlen können.

Wie stellen sie sich ihre Zukunft vor, frage ich sie zum Schluss. Würden sie gerne zurück nach Mossul gehen? „Wenn ISIS ausgeschaltet wird und wir unser Haus zurück bekommen, werden wir es wohl verkaufen und irgendwo anders hinziehen“, sagt G. resigniert. „Aber im Moment haben wir das Gefühl, dass wir nirgendwo ganz sicher sind.“

Während ich diese Geschichte niederschreibe, habe ich einen Anruf bekommen: bei R.,“unserer“ Ärztin, sind 15 weitere Familien aufgeschlagen, die nun auch aus einem der Dörfer hergekommen sind. Wir haben noch schnell ein paar Matratzen für sie organisiert und uns dann zum Abendessen mit Q. ein paar syrische Pizzas geteilt. Q. ist Mitte zwanzig und so eine Art Hausmeister in unserer Wohnung. Er ist selbst vor einigen Jahren aus Bagdad her geflüchtet, bevor die Armee ihn einziehen konnte, und er hat offenbar auch zu viel Schlimmes erlebt, als dass er psychisch ganz gesund wäre. „Guckt ihr auch das hier“, meint er beiläufig in seinem gebrochenen Englisch. „Ist Video von ISIS, so wie Promo-Video“ – und er spielt ein professionell gedrehtes Video aus dem Internet ab, in dem, untermalt von feierlicher Musik, einige Dutzend gefangengenommene irakische Soldaten gezeigt werden, wie sie von vermummten Gestalten abgeführt und einer nach dem anderen erschossen werden. „Ist ganz neu auf YouTube.“ Ich schaue zu spät weg; ich habe zu spät geschaltet, um was es da geht. Es gibt keinen Grund, an der Authentizität solcher Videos zu zweifeln, die man sich hier unter Freunden gemeinschaftlich beim Abendessen anschaut.

Kann man sich an so viel Gewalt eigentlich gewöhnen? Ich bin froh, dass ich gerade in den letzten Wochen hier sein konnte. Aber ich glaube, ich bin auch froh, wenn ich am Sonntag nach Hause komme.

Das Drama von Mossul (Teil 2)

Wie angekündigt hier die Fortsetzung (siehe auch hier) des Berichtes von Andrea, die derzeit im Nordirak für das Hilfswerk GAiN unterwegs ist:

Mittwoch, 30. Juli 2014

In den letzten Tagen hatten wir vor allem mit den Flüchtlingen in einem der Camps zu tun, für die wir ursprünglich hergekommen waren: Es braucht Zeit, viel Absprachen und Planung, um eine Verteilung von Hilfsgütern zu organisieren, und wir sind dankbar für das Dutzend einheimischer Mitstreiter, die diesen Einsatz möglich machen. Wenn wir für eine kleine Pause oder abends nach all dem Planen und vielen ermüdenden Begegnungen in „unsere“ Wohnung kommen, ist das Sofa neuerdings wieder mit zwei neuen Familien besetzt. Eine ältere Frau, die offenbar etwas inkontinent ist, aber im Moment weder Wechselkleider noch irgendwelche Einlagen besitzt, sitzt meistens dort, daneben drei ältere Herren in den traditionellen langen orientalischen Gewändern. Ab und zu huschen zwei junge Frauen durch den Flur, dazwischen springen zwei Kinder im Grundschulalter herum – die Zusammensetzung unserer WG ändert sich ständig, und es hat etwas Skurriles, mit völlig fremden Leuten aus einer völlig fremden und uns kaum begreiflichen Kultur auf so engem Raum zusammen zu leben. Unsere Neuzugänge sind einfache Menschen, keiner von ihnen kann Englisch; eine gemeinsame Bekannte erklärt uns die Grundzüge ihrer Geschichte: Sie sind erst von Mossul in eins der christlichen Dörfer im Umland geflüchtet und dann, als sie sich auch dort nicht mehr sicher fühlten, in unsere Stadt. Bekannte aus ihrem früheren Leben in Mossul organisieren nun das Nötigste und versuchen eine Wohnung für sie zu finden. So sitzen sie einfach den ganzen Tag dort, als warteten sie auf irgendetwas. Wenn wir durch den Flur gehen, folgen sie jeder unserer Bewegungen mit verwundeten, irgendwie hungrigen Blicken. Inzwischen scheinen auch die meisten christlichen Familien in unserer Stadt zu solchen Not-WGs mutiert zu sein. Einer unserer einheimischen Kollegen, der selbst vier kleine Jungs hat, konnte heute morgen bei der Andacht kaum aus den Augen gucken: Drei Verwandte haben sich mit ihren Familien bei ihm einquartiert, und in der Dreizimmerwohnung sind sie nun sechzehn Leute – davon zehn traumatisierte Menschen, die bis in die Morgenstunden hinein reden und beten möchten, um irgendwie über ihren Schrecken hinwegzukommen. Die Alteingesessenen tragen es alle mit Humor und viel Geduld, aber die Nerven liegen doch langsam blank. Dabei wissen sie, dass alle, die hier bei Familien unterschlüpfen können, es noch gut erwischt haben: Am Rand der Stadt haben wir auch einige Dutzend Flüchtlinge gesehen, die sich im Rohbau eines großen Gebäudes einquartiert haben, das vielleicht einmal ein Parkhaus oder ein Bürogebäude werden soll. In die Fensterhöhlen haben sie Tücher gehängt, sanitäre Anlagen gibt es nicht.

Am kommenden Freitag organisiert unsere Partnerorganisation ein Seminar zum Umgang mit traumatisierten Menschen, zu dem viele der der Leute kommen werden, die sich in den letzten Wochen um die Christen aus Mossul bemüht haben. Die Frau von M., dem Chef, ist Psychologin. Das Seminar wird auf Arabisch sein, aber wir könnten es eigentlich alle ganz gut brauchen. Das Verrückte ist, dass hier in unserer Stadt Tausende Vertriebener aufschlagen und daneben das Leben seinen gewohnten Gang weitergeht. Von einer Demonstration vor der UN letzte Woche abgesehen, wird die Situation der Christen aus Mossul gar nicht öffentlich wahrgenommen. Die irakischen und kurdischen Medien haben nur in einer Fußnote darüber berichtet, und die Bevölkerung lebt ohnehin mit der Bedrohung: Nur 50 oder 70 Kilometer entfernt sterben Kämpfer auf beiden Seiten, wenn ISIS irgendeine medizinische Einrichtung oder ein Dorf überfällt und die Peschmerga sie zurückschlägt.

Was ich in einem der von uns mit betreuten Flüchtlingslager unter den großteils muslimischen Flüchtlingen aus Syrien und südlicheren Regionen des Irak sehe, nimmt mich noch einmal auf eine andere Weise mit als das, was ich in den letzten Wochen von den Christen mitbekommen habe: Rund 340 Familien, 2200 Menschen existieren dort mitten in der Wüste vor sich hin, in Zelten, in denen man sich tagsüber bei 52 bis 60 Grad nicht aufhalten kann. Schatten gibt es nicht. Ihre müden Gesichter, die von all der Sonne fast blinden Augen mancher Kinder, die dünnen Gestalten, die mit UN-Essenspaketen bei 1800 Kalorien pro Tag am Leben erhalten werden… (Und sie haben noch Glück; in anderen Gegenden kann nicht einmal dieser Grundbedarf gesichert werden.) Menschenwürdig ist anders. Die schönen neuen Sandalen, die Hygieneartikel und Kindergeschenke, die wir verteilen, zaubern ein Lächeln auf manche Kindergesichter und bewirken ein dankbares Nicken bei ihren Eltern. Aber im Moment gibt es keine Perspektive für diese Menschen. Das Lager wächst; täglich kommen mehrere Familien hinzu.

Bewegend finde ich den Einsatz unserer Helfer: In der letzten Woche haben wir so viele Berichte von Christen gehört, die von muslimischer Seite – und irgendwann differenziert man da wohl auch nicht mehr – Schlimmes erlebt haben. Und ich weiß von einigen unserer jungen Leute, dass sie als frühere Muslime, die jetzt Christen sind, in ständiger Angst leben, aufzufliegen und von muslimischen Freunden und Nachbarn bedroht oder gar umgebracht zu werden. Es sind Realitäten, die ich auch nach der intensiven Zeit hier überhaupt nicht nachempfinden kann. Diese jungen Leute sind nun mit im Flüchtlingslager und opfern ihre Zeit, um muslimischen Flüchtlingen ein bisschen Liebe zu vermitteln. Einer hat eine Nachtarbeit gefunden, aber er hat es sich nicht nehmen lassen, den Tag mit uns zu verbringen. „Mein Herz bricht, wenn ich diese Menschen sehe, die keine Hoffnung haben“, sagt ein anderer von ihnen leise zu mir, als wir eine Weile den Strom der Leute an unseren Ausgabestellen beobachten.

Im Camp gibt es übrigens auch einige christliche Familien, aber sie kommen nicht zur Verteilung – sie haben es, so erfahren wir, schon zu oft erlebt, dass sie weggedrängt, bedroht oder angegriffen wurden. Wir finden Umwege, um auch diesen Familien die Sachen zu bringen, die ihnen zustehen, aber ein trauriger Nachgeschmack bleibt. Auf dem Rückweg besuchen wir eines der christlichen Dörfer, in das sich seit dem Ultimatum vorletzte Woche Christen geflüchtet haben: Vier Familien, 18 Personen, haben in einem vielleicht 60 oder 70 Quadratmeter großen Bungalow Zuflucht gefunden. Es gibt zwei Betten, einen Herd ohne Gas, eine Spüle, die nicht angeschlossen ist, eine Handvoll Holzmöbel und Essutensilien und sonst buchstäblich nichts. (Uns wird trotzdem ein Glas Wasser angeboten.) Die meisten schlafen auf dem Betonboden. Wir haben das Haus kaum betreten, als eine ältere, gehbehinderte Frau uns auf Englisch mit dem Satz anspricht: „Sie haben uns alles abgenommen.“ Jetzt sitzt diese hochgebildete Frau, die mehrere Sprachen spricht, mit einem Laken über den Beinen auf einem Holzstuhl , den sie nicht verlassen kann. Sie erzählt von dem Haus, das sie hinter sich lassen musste, und von den Schikanen am Kontrollpunkt, bei denen man ihr alles abgenommen hat, auch ihren Rollstuhl. Sie beginnt sofort zu schluchzen. Wir können nicht lange bleiben, die Gegend ist nicht sicher. Wir verabreden nur noch schnell, wer sich wie in den nächsten Tagen um diese Familien kümmern, Lebensmittel, Matratzen und Haushaltswaren bringen wird.

Das Drama von Mossul (Teil 1)

Andrea, Mitarbeiterin des Hilfswerkes GAiN, befindet sich seit einigen Tagen im Nordirak. Eigentlich wollte sie zusammen mit ihren Kollegen in den neu entstandenen Camps syrischen Flüchtlingen helfen, aber in der letzten Woche hat das Team natürlich vor allem die Situation in und um Mossul in Atem gehalten. Andrea hat über das Erlebte ein Tagebuch geführt, dass ich hier freundlicherweise veröffentlichen darf. Sämtliche Namen etc. wurden zum Schutz der betreffenden Personen pseudonymisiert. Die aktuellsten Beiträge finden sich oben. Falls noch Einträge hinzukommen, werde ich diese „nachreichen“.

Freitag, 25. Juli, nachmittags

Eigentlich ist heute frei und wir drei vom Team haben uns fest vorgenommen, dass einen Tag lang jeder nur das macht, was er/sie wirklich gerne machen möchte. Die beiden anderen haben in den vier Wochen, seit sie hier sind, keinen einzigen freien Tag gehabt, und wir sind außerdem ziemlich fertig nach den letzten Tagen, in denen wir mit einigen einheimischen Helfern Kleider sortiert, einen Container halb ausgeräumt, Matratzen und Waschmittel in der Gegend herumgeschleppt und verschiedene „unserer“ Familien wiedergesehen haben. Aber es ist schwer, das Tagesgeschehen auszublenden. Neben Johannas und meinem Zimmer ist eine neue Familie von Vertriebenen eingezogen, deren vielleicht dreijähriges Kind fast ununterbrochen schreit. Auch um die Familie, die seit letzter Woche hier wohnt, machen wir uns etwas Sorgen. Die Frau schleicht mit hängenden Schultern durch die Wohnung und schafft es kaum, irgendwem in die Augen zu schauen. Sie ist fast nicht ansprechbar, und wir haben den Eindruck, dass das nicht nur an ihren eher dünnen Englischkenntnissen liegt. Der Mann sitzt meistens auf dem Sofa und scheint regelrecht darauf zu lauern, dass irgendwer von uns aus dem Zimmer kommt und an ihm vorbei zur Küche geht. Er spricht uns immer an: Wie schreibt man dieses oder jenes englische Wort? Haben wir dieses YouTube-Video schon gesehen? Können wir ihm helfen, einen Asylantrag in einem anderen Land zu stellen – egal in welchem? Als ich eben in die Küche ging und meine Wasserflasche auffüllen wollte, saß er wieder da: „ An-darea. Ich bin so traurig.“ Ich glaube nicht, dass Tränen zur Standardausstattung irakischer Männer gehören, und sein leises Weinen, bei dem ihm die Tränen über die Wangen liefen, hat mich doch etwas aus der Bahn geworfen. „Es ist gut, wenn du weinen kannst“, habe ich hilflos gemeint. Vielleicht spülen die Tränen ein bisschen Trauer weg. Er hatte ein Handyvideo von „zuhause“ in Mossul angeschaut: nur ein paar Sekunden Film, in denen der Vierjährige vergnügt in einem Planschbecken auf dem Hausdach quietscht. Als er mir den Film zeigt, kommt sein Sohn auch dazu und fängt an zu jammern. „Er will schwimmen gehen“, übersetzt sein Vater und bricht wieder in Tränen aus. Ich flüchte mich in unser Zimmer. Frei machen ist nicht ganz einfach, wenn man mit traumatisierten Menschen zusammen wohnt.

Mittwoch, 23. Juli, morgens

M., der Chef unserer Partnerorganisation, mischt sich noch vor der Morgenandacht einen Kaffee an. Einer der Mitarbeiter hat frisches Brot und Kichererbsensuppe mitgebracht, und M. nimmt sich dankbar einen Teller davon. „Ich hatte noch kein Frühstück“, erklärt er, „hier im Büro ist eine Frau angekommen, die in dem Dorf untergekommen war, das gestern Abend angegriffen wurde. Sie ist die ganze Nacht durchgelaufen.“ Die ISIS-Leute konnten zwar zurückgetrieben werden, aber vorher haben sie es noch geschafft, alle Christen nach Mitternacht aufzuschrecken, sie aus den Häusern und aus dem Dorf zu jagen. Sie konnten zwar, als sich die Lage etwas beruhigte, wieder zurückkehren, aber man muss nicht viel Phantasie haben, um zu ahnen, was das mit ihrer Psyche anrichtet. „Die haben inzwischen das Gefühl, nirgendwo mehr sicher zu sein“, meint M. in der Morgendandacht, „und sicher werden nach und nach noch viele hier eintrudeln.“ Zwei Kollegen, die gestern mit Wasser in dieses Dorf gebracht haben, schluchzen leise. Man fragt sich ja schon, wie vergeblich all unsere Liebesmüh hier ist, wenn der Terror immer näher rückt. Beim Bibellesen sind wir inzwischen bei Psalm 5 angekommen. Es gibt, wie in den letzten Tagen mit Psalm 3 und 4, so wenig theoretisch darüber auszutauschen; im Moment haben wir einfach nur das Bedürfnis, diesen Psalm stellvertretend für die Geschwister zu beten, die gerade in einer sehr ähnlichen Situation stecken wie David damals.

Mit den Kollegen, die etwas besser Englisch sprechen, kommen wir noch ein bisschen ins Gespräch über die politische Lage. Die Peschmerga ist eigentlich eine Armee, gilt aber offiziell als Miliz, weil Kurdistan nicht anerkannt ist. Ihre Kämpfer sind gut ausgebildet und scheinen im Moment die einzigen zu sein, die sich der ISIS entgegenzustellen wagen. Die Flüchtlinge aus Mossul haben berichtet, wie nach dem Einzug der ISIS nach und nach alle Staatsgewalt abzog: Die Polizei wurde mit ISIS-Leuten besetzt, die Gerichtsbarkeit von ISIS-Sympathisanten übernommen… Und sie erinnern sich alle daran, wie das offizielle irakische Militär die Stadt verließ und ISIS das Feld überließ. Christen und andere Minderheiten, die auf der Abschussliste der ISIS standen, haben sich ausgeliefert und von ihrem Staat und ihrer Armee verraten gefühlt. In der kurdischen Autonomieregion fühlen sie sich vergleichsweise sicher. Die Kurden hoffen nun, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sie einen Schritt weiter in Richtung der offiziellen Anerkennung als Kurdenstaat bringt. Wäre das gut? „Keine Ahnung. Es wird eh nicht passieren“, zuckt ein Mitarbeiter mit den Schultern. „Kurdistan ist zu klein und die Region ist einfach zu unruhig.“ Es ist wirklich bitter: Der Irak ist reicher an Bodenschätzen als Saudi-Arabien, und wenn Frieden wäre, könnten alle Iraker in Wohlstand leben. Aber es ist eben kein Frieden. Wir fragen M., wie es wohl weitergehen wird und welche Lösung sich die Christen für ihr Land wünschen. Er schüttelt nur den Kopf. „Darauf gibt es keine einfache Antwort. Bei uns scheint immer irgendwer gegen irgendwen zu kämpfen. Wir beten nur, dass in all den Unruhen keine Menschen zu Schaden kommen und dass wir in allen Umständen Menschen ins Reich Gottes führen können.“

Dienstag 22. Juli, abends

Wir sind bei Ärztin R. und ihrer Familie zum Abendessen eingeladen. Wir haben sie bei den Familienbesuchen gestern schätzen gelernt und freuen uns, sie etwas besser kennenzulernen. Ihr Mann ist Ingenieur bei einer internationalen Firma und hat schon in verschiedenen Ländern gelebt. Das macht das Gespräch einfacher und nimmt uns auch die Scheu, kulturell in alle möglichen Fettnäpfchen zu treten. Seit einigen Jahren wohnt die Familie in unserer Stadt. Vor einigen Wochen haben sie R.s Schwiegervater zu sich geholt. Er sitzt die ganze Zeit schweigend auf dem Sofa, starrt vor sich hin und kaut an seiner Unterlippe. „Er kommt nicht gut darüber hinweg, was da alles passiert“, erklärt R.s Mann, „er hat ja nicht gedacht, dass er gar nicht mehr zurück kann.“ Er zeigt uns auch Bilder von Mossul aus den letzten Wochen: das „N“ an Hauswänden. Das Flugblatt, mit dem das Ultimatum angekündigt wurde. Polizeiautos mit dem Signet der ISIS. Eine Brücke, unter der ein Transparent hängt: Herzlich willkommen im Staat – wohlgemerkt nicht in der Stadt – der ISIS. „Ich glaube, die Ironie von solchen Transparenten ist denen nicht so recht bewusst“, meint R. lakonisch. „Ach, und guckt mal hier auf dem Bild: das ist das Haus meiner Familie mit dem N für Nasrani, Christen.“ Kurz bevor wir gehen bekommt die Familie noch einen Anruf von Verwandten, die in einem der christlichen Dörfer nördlich von Mossul leben: ISIS-Truppen haben das Dorf überfallen. Es gehört zu den Dörfern, in dem einige der aus Mossul Geflüchteten Zuflucht gesucht haben. Gerade heute haben meine einheimischen Kollegen einen LKW mit Trinkwasser gebracht; zum Glück, so wissen wir, sind sie von ihrem Einsatz schon wieder zurück. Wir verabschieden uns schnell, weil wir ahnen, dass die Familie noch einiges zu besprechen hat und weiter mit den Verwandten telefonieren wird. R. hat ihnen schon länger nahegelegt, auch in unsere Stadt zu ziehen, und nun macht sie sich erst recht Sorgen:, Die kurdischen Peschmerga scheinen die ISIS-Kämpfer zurückgeschlagen zu haben, aber mehr ist im Moment nicht herauszufinden.

Montag, 21. Juli, abends

„Sie haben uns alles weggenommen.“ Diesen Satz haben wir heute in fünf Häusern und immer gleich mehrfach gehört. Es ist der Refrain, der sich durch die Geschichten der Menschen zieht, die am letzten Wochenende aus Mossul geflüchtet sind und an den ISIS-Kontrollpunkten alles abgeben mussten. Nur die Kleider, die sie am Leib trugen, sind ihnen geblieben. Eine Ärztin aus unserer Stadt hier hat Kontakt zu 22 dieser Familien und führt uns zu ihnen. Wir haben fürs Erste große Tüten mit Reis gekauft, Öl, Bulgur, Zucker und andere Grundnahrungsmittel, und betreten nun die kleinen, von außen alle gleich aussehenden Häuser einer schnuckeligen neuen Wohnsiedlung.  Hier sind Familien zusammengerückt: Manche der Vertriebenen haben das Glück, ein Familienmitglied in unserer Stadt zu haben, bei dem sie unterschlüpfen konnten. Es bedeutet, dass plötzlich 20 bis 30 Leute in Räumen leben, die für fünf oder sechs ausgelegt sind, aber immerhin müssen sie sich um die Miete im Moment keine Sorge machen.

Andere haben solche Häuser zur Miete bezogen und machen sich große Sorgen, wie sie das Geld auftreiben sollen. Ein unmöbliertes Haus kostet rund 600 Euro im Monat (und bedeutet, dass man nicht einmal eine Matratze hat), ein möbliertes mehr als 1000.  Sie hatten teilweise viel Geld auf der Bank, aber die Konten sind eingefroren worden und ohne Papiere haben sie erst recht keine Möglichkeit heranzukommen. Manche der Leute, die wir kennenlernen, sind in einem früheren Leben – das erst Tage her ist, aber ganz verloren scheint – Regierungsangestellte gewesen: Lehrer und Beamte im Finanzbereich, eine Schulleiterin und zwei Universitätsprofessoren sind unter den Leuten, die wir besuchen. Sie machen ihrem Ärger Luft, dass die irakische Regierung ihre Gehälter und Renten nicht weiter auszahlt. „Die haben am Kontrollpunkt unsere Pässe vor unseren Augen vernichtet“, sagt eine Schulleiterin Mitte 50 aufgebracht. Im kurdischen Autonomiegebiet mit seiner ganz eigenen Regierung und Infrastruktur ist es schwierig, an neue Papiere zu kommen. „Die können uns nicht in so ein Camp stecken!“, weint sie. „Für das Leben dort sind wir doch nicht gemacht.“ Diese Leute gehörten zur Elite ihres Landes und sind jetzt Bettler und Hilfesuchende. „Wir schämen uns so,“ sagt sie, „und wir verstehen nicht, warum die Weltöffentlichkeit nicht reagiert. Warum mischen sich eure Politiker aus der christlichen Welt nicht ein? Wir haben den Eindruck, dass wir vergessen sind. Erzählt unsere Geschichten dort, wo ihr herkommt: in euren Kirchen und bei euren Regierungen. Und ist so großes Unrecht geschehen.“

Wie manche andere, mit denen wir an diesem Tag reden, ist diese Frau in den letzten Jahren schon viermal aus Mossul geflüchtet; diesmal, so spürt sie deutlich, ist es endgültig. Jahrelange Einschüchterungen haben ihre Spuren hinterlassen. Schon vor acht oder neun Jahren, erzählt sie, sind Extremisten nachts in ihr Haus eingedrungen, als ihr Mann auf Geschäftsreise war, und haben die Familie bedroht. „Meine Tochter schlief allein in ihrem Zimmer und als sie aufwachte, standen plötzlich diese schwarz gekleideten Männer um ihr Bett herum und wollten wissen, wo ihr Vater wäre. Wir haben vier Töchter und einen Sohn, und ich hatte immer solche Angst um meine Kinder.“ Viele Christen wurden erpresst und sollten Geld zahlen: „Wenn eine Familie nicht zahlte – und manche Leute hatten doch einfach nicht das Geld! – musste sie immer damit rechnen, dass ihre Söhne weggenommen und zu Kämpfern gemacht oder dass ihre unverheirateten Töchter den Kämpfern zum Vergnügen gegeben wurden.“ Sie schauen alle betreten zu Boden und wechseln schnell das Thema; dieses ist offenbar noch schmerzhafter als alle anderen, die wir schon unerträglich finden.

Als uns diese Frau ihre Geschichte erzählt und meine Kollegin Johanna nach ihrem Namen fragt, gibt es eine kleine Unruhe und wir reden von etwas anderem. „War das mit dem Namen falsch? Wir wollen sie ja nicht gefährden“, sagt Johanna hinterher zu R., der Ärztin, die mit uns gekommen ist und für uns übersetzt. Wir fragen normalerweise aus Prinzip nicht nach Namen. „Nein, nein“, versichert R., „die Frau hat gemeint, sie kann euch genausogut ihren Namen nennen, sie hat ja nichts mehr zu verlieren.“

„Ich fühle mich wie ein Einwanderer im eigenen Land“, meint ein anderer Mann Mitte 50. Er hatte sechs Häuser, von denen man ihm eins schon vor einigen Jahren abgenommen hat. Man hat ihn gezwungen es zu verkaufen. „Es war 300 Millionen Dinar wert (etwa 200.000 Euro), aber man hat mir nur 20 Millionen (13.000 Euro) dafür gegeben.“ Und jetzt, nachdem alle geflüchtet sind, sind auch die anderen Häuser an ISIS gefallen. Selbst wenn die Rebellen besiegt würden und sie theoretisch nach Mossul zurück könnten, würde seine Familie es nicht wagen, sagt er. Das Maß ist einfach voll. „Ich traue niemandem mehr“, meint er. „Schon in den letzten Jahren sind wir schlechter behandelt worden als die muslimische Bevölkerung und konnten uns an niemanden wenden, um Recht zu bekommen. Ich selbst bin einmal entführt und erst gegen 50.000 Dollar freigelassen worden.“ (Solche Geschichten hören wir übrigens noch öfter an diesem Tag, das jüngste Opfer war zur Zeit der Entführung 17 Jahre alt.) „So viele Leute, die jetzt ISIS unterstützen, waren einmal unsere Nachbarn und Freunde, und zum Schluss haben sie nicht einmal mehr mit uns geredet.“ Er will mit seiner Familie auswandern. „Meine Familie hat seit Generationen in Mossul gelebt. Aber wir gehen nicht zurück. Sie haben unsere Wurzeln abgeschnitten.“ Seine Frau nickt: „Wir müssen ja gar nicht mehr reich sein, wenn wir nur irgendwo sicher leben können. Wir brauchen doch nicht viel. Wir hatten so viel und jetzt sind wir schon dankbar, wenn ihr uns eine Tüte Lebensmittel bringt.“

Auch die jungen Leute Anfang Zwanzig machen sich Gedanken um ihre Zukunft. Manche von ihnen waren gerade in ihrem vierten, im letzten Studienjahr. Eigentlich wären jetzt im Sommer Abschlussprüfungen gewesen, aber selbst wenn sie noch stattgefunden hätten, wären sie wohl kaum noch irgendwo anerkannt worden. „Ohne Abschluss habe ich ja erst recht keine Chance, im Ausland arbeiten zu können“, klagt eine Studentin. „Und ob wir im Irak noch mal weiterstudieren können – wer weiß das schon.“ Im Moment versuchen alle irgendeine Arbeit zu finden; Kurdistan hat extra eine Webseite mit Jobangeboten eingerichtet und bietet Bewerbertrainings an. Bisher war das nie nötig, man rief einfach einen Onkel, einen entfernten Cousin oder einen Studienfreund des Großvaters an und fand irgendeine Arbeit.

„Das Schlimmste ist für uns die Ungewissheit“, meint der Vater dieser Studentin, ein Chemieprofessor, der in England studiert hat und entsprechend fließend Englisch spricht. „Wenn wir wüssten, dass wir drei Monate hier sind oder meinetwegen auch zwei Jahre, dann könnten wir uns irgendwie mit der Situation arrangieren. Aber es ist wie ein Tunnel, bei dem am anderen Ende kein Licht zu sehen ist.“

Er würde gerne wieder nach Mossul zurückkehren und hat weniger Bedenken als die anderen Familien, die wir besuchen: „Manche meiner muslimischen Freunde haben mir zugeflüstert, wie sehr sie sich schämen für das, was mit uns passiert.“ Aber im Moment ist eine Rückkehr für Christen undenkbar. Das Ultimatum steht noch im Raum: Wer bis letzten Samstag Mossil nicht verlassen hat, hatte nur noch die Wahl, zum Islam zu konvertieren, „oder zwischen ihm und uns steht nur noch das Schwert“, hieß es in einem Flugblatt. In einer größeren Familie frage ich doch einmal nach: „Ist denn eigentlich jemand, den ihr kennt, deswegen konvertiert?“ Ich ernte allgemeines Kopfschütteln und laute Verneinungen, eine Mischung aus Heiterkeit und Entrüstung: „Nach all dem, was die uns angetan haben?!“ Selbst für Leute, die es mit ihrem christlichen Glauben bisher nicht sehr ernst genommen haben, ist der Übertritt zum Islam keine Option.

Die Bilder, die Johanna schießt, zeigen auf den ersten Blick ganz normale Leute in schönen Häusern, teilweise liegen Smartphones oder Laptops auf dem Tisch. Uns wird mehr Kaffee und Gebäck angeboten, als wir vertragen. Man muss schon genau hinschauen, um die Armut und Verzweiflung dieser Leute zu sehen. Und ihre Scham. Offensichtlich ist ihnen die Diskrepanz zwischen dem Normalen, das man sieht, und dem Elend, das sich dahinter verbirgt, auch bewusst. „Das ist nicht unser Haus“, hören wir gleich dreimal, als wir mit Tüten und Reissäcken in ordentlich aufgeräumte Küchen treten.

Das sind Leute, die so viel mehr mit mir gemeinsam haben als einfachen Leute auf den Dörfern in Haiti oder Kenia, mit denen ich sonst zu tun hatte; wenn überhaupt, stehen sie gesellschaftlich eigentlich über mir. Und hier kämpfen sie um ein Restchen Würde. Da ist das vielleicht zwölfjährige Mädchen im Schlafanzug, das nicht mit seinen Schwestern aufs Foto möchte. Auch ihren Großvater verstecken wir beim Familienfoto in der hinteren Reihe. Er hat nur eine knielange Sweathose und ein schlabberiges T-Shirt an und entschuldigt sich mehrmals, dass er in dem Aufzug überhaupt Gäste empfängt. Die Leute haben in diesen Häusern Badezimmer, aber nichts Frisches zum Anziehen, wenn sie aus der Dusche kommen.

Vier Stunden, zwei Kaffees und drei Gläser Wasser, drei Bonbons und zwei Stück Gebäck später trennen wir uns von Ärztin R.. Sie will uns morgen eine Liste mit weiteren Familieninfos zusammenstellen. Vielleicht können wir beim nächsten Besuch gezielter Kleider, Matratzen und Textilien mitbringen. Die Ankunft unseres Containers hat sich doch noch um einige Tage verzögert, und wir sind alle ein bisschen mürbe vom Warten und Immer-wieder-vertröstet-werden.

Jetzt sind wir müde von der Hitze und wie erschlagen von all den Geschichten, die wir gehört haben. Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht gut schlafen werde. Aber im Moment möchte ich nirgendwo anders sein als an der Seite dieser Geschwister.

Sonntag, 20. Juli

Morgenandacht mit den einheimischen Kollegen. Sie lesen jeden Morgen der Reihe nach ein oder zwei Kapitel aus der Bibel und tauschen sich darüber aus. Bis letzte Woche haben sie Hiob gelesen, nun sind wir bei den Psalmen. Wir lesen Psalm 2 und ich linse auch schon in Psalm 3 hinein. Wie krass ist das denn? Für die Umstände, die meine Geschwister in dieser Region als wirklichen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, als Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod erleben, gibt es klare Worte. Und es gibt eine Antwort. Die kraftvollen Worte, die David prophetisch spricht, malen eine Zukunft aus, in der die Gerechtigkeit siegt und die Bösen endgültig vernichtet werden. Ich habe in Deutschland diesen Psalm nie so recht emotional fassen können; unser Glaube ist oft so weichgespült und sieht die Dimension kaum noch, in der es um alles oder nichts geht. „Wohl denen, die bei dir ihre Zuflucht suchen“, heißt der letzte Vers in meiner englischen Bibel. Die meisten von uns schnuffeln leise vor sich hin, als wir für unsere Geschwister aus Mossul beten. Selbst für mich, die ich erst vor fünf Tagen her gekommen bin, hat diese Christenverfolgung ein gutes Dutzend Gesichter und Namen und Geschichten.

„In den Weltnachrichten ist die Situation in Mossul abgeschlagen auf Platz drei nach Gaza und dem Absturz des malayischen Flugzeugs, wenn sie überhaupt vorkommt“, seufzt M. , der Chef unserer Partnerorganisation. „Dabei hat es das, was wir hier gerade erleben, seit dem Einfall der Mongolen nicht mehr gegeben: Es gibt keine Christen mehr in Mossul.“ Er schüttelt traurig den Kopf. Er ist selbst vor 10 Jahren aus Bagdad geflüchtet, weil er als Mitarbeiter einer christlichen Organisation nicht mehr sicher war. „Wir können das nicht stärker in der Welt ins Gespräch bringen, sagt seine Frau, „wir sind ja zu nahe dran, als dass man uns ernst nimmt. Aber ihr – berichtet davon, damit die Leute aus Mossul nicht vergessen sind.“

Er hat gerade mit einem Freund gesprochen, der vor kurzem noch sein Haus verkaufen konnte und mit umgerechnet rund 300.000 Euro aus Mossul unterwegs war. Vor ein paar Wochen wäre er damit noch durch die Kontrollen gekommen, gestern hat man ihm das Geld abgeknöpft. „Manche fliehen auch aus entlegeneren Gegenden“, berichtet er. „Sie sind tagelang unterwegs; wir hören von den ersten Säuglingen, die das nicht überleben.“ Wir planen gemeinsam, wie wir am besten helfen: Die einheimischen Kollegen werden einen LKW voll mit Wasser kaufen und zu den Leuten bringen, die in christlichen Dörfern im Umland von Mossul gestrandet sind. Für uns ist es zu gefährlich, dorthin mitzugehen. Aber wir kommen in Kontakt mit einer einheimischen Ärztin, die mehrere der neu angekommenen Familien kennt. „Die brauchen eigentlich alles“, sagt sie, als ich frage, wie wir am besten helfen können. „Wir haben sonst ja auch schon Essenspakete an Bedürftige verteilt, aber dass Leute so gar nichts haben, keine Matratzen, keine Zahnbürste, nicht mal einen Topf, das kennen wir so bisher noch nicht.“

Eben haben wir Nachricht bekommen, dass unser Container durch den Zoll gekommen ist, er wird heute Abend oder morgen früh hier eintreffen. Mit Kleidern aus Deutschland, mit Waschpulver und Schuhen aus unserem Container und mit hier gekauften Lebensmitteln werden wir hoffentlich die allererste Not lindern helfen können.

Freitag, 18. Juli, abends

Wieder stehen neue Leute in unserem Flur, diesmal sind es nur zwei ältere Herren. Der eine ist gerade eben erst in der Stadt angekommen und in unsere Wohnung gekommen, um sich einfach für ein paar Minuten hinzusetzen und ein Glas Wasser zu trinken, der andere ist schon vor einem Monat hergeflüchtet und hat ihn zu uns begleitet. Auch unser Bekannter R. ist wieder da, und wir stehen zusammen in unserer Küche und tauschen Neuigkeiten aus. „Unten stehen 10 Leute, die meine Eltern gerade bei Leuten aus der Gemeinde unterbringen“, sagt der Pastorensohn. „Die sind eben aus Mossul angekommen. Sie haben nichts mehr. Nur die Klamotten, die sie am Leib trugen. Kannst du dir das vorstellen? Selbst die Trauringe hat man ihnen am Kontrollpunkt abgenommen. Ein paar haben etwas Geld in den Schuhen versteckt, haben sie erzählt. Die konnten wenigstens den Bus in eine der Städte bezahlen.“ Ich denke an den Koffer, den ich mitgebracht habe; 13 Kilo plus Geschenke und Kuschelbären. Es schien mir so wenig, als ich ihn packte. Diese Leute haben viel weniger. „Unsere Welt kehrt sich gerade um“, meint R., der viele der Neuankömmlinge kennt. „Die bis jetzt geblieben sind, das sind die reichen Leute: Die, die eigene Häuser bauten oder gerade neu gebaut hatten. Sie hatten mehr zu verlieren und sind deswegen länger geblieben. Und die verlieren jetzt alles. Ich war nie reich, ich konnte leichter alles hinter mir lassen. Und nun habe ich mehr als sie und plötzlich bin ich der, der ihnen hilft…“

Freitag, 18. Juli, nachmittags

Warum steht eigentlich heute nichts über Mossul in den deutschen Online-Zeitungen? Kriegt keiner mit, was hier gerade passiert?

Schon seit dem Mittag ist unser Flur eine Mischung aus Newsraum und Notfallseelsorge-Zentrum. Die junge Frau, die gestern mit ihrer Familie angekommen ist, läuft rastlos weinend den Flur auf und ab, der Familienvater telefoniert ununterbrochen. Bei den vielen Mitbewohnern und Besuchern, die in unsere Wohnung hineinkommen und wieder gehen, Neuigkeiten bringen, ihre Freunde in den Arm nehmen oder neue Infos bekommen, verliere ich ein bisschen den Überblick. Nach einer Weile kristallisiert sich heraus, was los ist:

Heute morgen hat ISIS alle Kirchenleiter, die noch in der Stadt waren, zu sich zitiert. Manche haben gesagt, dass sie nicht kommen wollten, und zur Antwort bekommen, dass sie und ihre Gemeindeglieder dann eben gleich umgebracht werden. Es war ja nicht ohne Grund, dass alle Personalien aufgenommen wurden. Also sind sie gekommen und haben im Anschluss an ihre Leute die Nachricht weitergegeben: Sie sollten sofort die Stadt verlassen. Die allermeisten sind also mit ihren Wertsachen und Papieren aus der Stadt geflohen, manche hatten sogar noch Autos, in denen sie aufbrechen konnten. Überall um die Stadt herum waren Kontrollen eingerichtet, an denen man ihnen dann alles abgenommen hat: Geld, Wertsachen, und die Autos sowieso. In Autos der Rebellen wurden die Leute irgendwo in die Pampa gefahren und dort ausgesetzt; von dort aus haben sie sich zu Fuß zu den christlichen Dörfern im Umland durchgeschlagen. Auch die Eltern und der Bruder unseres neuen Mitbewohners und die Eltern seiner Frau stecken nun in irgendwelchen Dörfern fest. Sie trauen sich alle kaum zu telefonieren, weil sie die wohl begründete Angst haben, dass ihre Handys abgehört werden und man auch außerhalb des ISIS-Gebiets eigentlich nicht sicher ist. Die Dörfler sind arm und können diese Menschen nicht versorgen. Niemand traut sich im Moment, Güter hinzubringen oder die Leute abzuholen.

Das Haus meiner Mitbewohner hat ISIS vermutlich längst beschlagnahmt; in islamischer Sicht, so habe ich eben gelernt, gilt das als Kriegsbeute, ebenso wie die Wertsachen und Autos. Immerhin leben alle Verwandten dieser Familie, soweit wir bisher herausfinden konnten.

Den Christen in Mossul ist ein Ultimatum gestellt worden: Bis morgen um 12 Uhr können sie die Stadt noch verlassen, danach haben sie nur noch zwei Möglichkeiten: konvertieren oder sterben. Das gilt auch für Christen, die sich zurück in die Stadt wagen. Was in den letzten Tagen noch manche gewagt haben – eben mal schnell nach Mossul fahren, in ihr Haus schlüpfen und vergessene Papiere mitnehmen – wird nun wohl endgültig unverantwortlich.

Der kleine J. springt aufgedreht um unsere Füße herum. Die junge Frau umklammert den neuen Teddybären und starrt vor sich hin. Einer der jungen Leute surft im Internet. „Versuchst du Neuigkeiten über Mossul herauszufinden“, frage ich ihn. Sein Bruder schüttelt nur den Kopf. „Ich glaube, für heute haben wir mehr als genug Neuigkeiten.“Es wäre schön, wenn es morgen zur Abwechslung einmal gute Neuigkeiten gäbe. Wir beten für ein Wunder.

Donnerstag, 17. Juli 2014, abends

Unsere neuen MitbewohnerIch habe den ganzen Tag gearbeitet und habe mich nun zu Henri auf eines der großen Sofas im Flur unserer Wohnung gesetzt. Es ist so ruhig hier. Die Iraker, die hier leben, sind sehr stille, unaufdringliche Leute. Wir wohnen in dieser Wohnung, die von einer einheimischen Gemeinde angemietet wurde, nämlich nicht alleine: Von den fünf oder sechs großen Zimmern sind zwei von uns belegt, die anderen von Christen-Familien, die in den letzten Wochen aus Mossul geflüchtet sind. Sie haben Glück, dass sie bei Bekannten oder in Gemeinden unterkommen können und nicht im Camp landen; die Christen helfen einander.

Bevor ich ankam, hat Johanna erzählt, waren in einer Nacht vierzig Leute hier: Sie legten in allen Zimmern Matratzen auf den Boden und waren einfach dankbar, eine Bleibe zu haben. Auch bei Johanna hat eine junge Frau einige Nächte mit gewohnt. Immer wieder hat meine Kollegin, wenn sie durch den Flur oder in die Küche ging, weinende oder ganz versteinerte Menschen auf den Sofas sitzen sehen, manchmal hat sie sich zu ihnen gesetzt und still mit ihnen geweint oder still gebetet, aber das Bewegende ist, wie sie alle einander beistehen. Die, deren Flucht schon einige Tage oder Wochen zurück liegt, versuchen die zu trösten, die gerade erst angekommen sind. Für viele von diesen Familien kann recht bald eine andere, dauerhaftere Unterkunft gefunden werden, und so waren wir in den letzten Tagen alleine mit einer sechsköpfigen Familie, die in einem der Zimmer zusammen hauste. Johanna hat sich mit den vier Kindern angefreundet, die alle zwischen Oberstufen- und Studentenalter sind. Einer von ihnen hat bis vor drei Wochen studiert, aber damit ist es wohl nun vorbei. Im Moment versuchen alle, irgendwelche Jobs zu finden, um sich über Wasser zu halten. Übermorgen werden sie ausziehen und wir sind schon fast ein bisschen traurig, dass unsere „Studenten-WG“ dann vereinsamt.

Wir sitzen also so zusammen und klönen gemütlich, als die Wohnungstür aufgestoßen wird und R. hereinkommt, einer unserer neuen Bekannten hier; er ist vor einigen Wochen in unsere Stadt geflüchtet. Er bringt eine Familie mit. Die junge Frau und ihr Vierjähriger kauern sich in eine Ecke des Sofas, der Mann schafft es gerade noch bis zum Sofa, bevor er zusammenbricht. „Ich hab noch nie einen Menschen gesehen, der so fertig war“, meint Henri hinterher, und der ist als Feuerwehrmann schon einiges gewöhnt. Es braucht eine Weile und mehrere Gläser Wasser, bis er sich soweit gefangen hat, dass er reden kann. Eine Iraki-Kanadierin, die unter Flüchtlingen arbeitet und mit hergekommen ist, übersetzt einiges, aber manches erzählt er auch selbst in Englisch:

„Vor ein paar Tagen standen ISIS-Leute vor unserer Tür. Sie haben unsere Personalien aufgenommen und unsere Telefonnummern aufgeschrieben. Am nächsten Nachmittag haben sie meine Frau auf ihrem Handy angerufen und sie bedroht; sie haben ihr aus dem Koran vorgelesen und ihr gesagt, dass wir alle umkommen, wenn wir nicht zum Islam übertreten. Meine Frau hat große Angst gehabt. Und dann standen sie plötzlich vor der Tür, eine ganze Gruppe von Männern mit schwarzen Kleidern und dunklen Bärten. Sie wollen die Leute einschüchtern. Mein kleiner Sohn hat gefragt: ‚Töten die uns jetzt?’ Aber sie haben nur unser Haus von oben bis unten durchsucht. Dabei haben sie meine kleine englische Gideon-Bibel gefunden. Sie haben mich angeschrieen, woher ich die habe, und ich habe gesagt, von einem Freund. Aber wenn ich einen amerikanischen Menschen kenne, bin ich natürlich für sie schon ein Verbrecher. Sie haben gesagt, dass sie uns schon seit einem Monat ganz genau beobachten und dass ich mich vorsehen soll. Sie sind wieder abgezogen, aber uns ist bewusst geworden, dass wir jetzt erst recht nicht mehr sicher sind. Sie brauchen ja keinen Vorwand, um Leute umzubringen, aber eine englische Bibel wäre auch Vorwand genug. In den letzten Wochen haben sie mitten in der Stadt, auf offener Straße Filme gezeigt, in denen sie Leute hinrichten. Was sind das für Menschen? Ich habe zu ihnen gesagt, dass Gott wie eine Kerze ist und Wärme und Licht verbreitet – aber sie verbreiten nur Dunkelheit und Angst. Wie können sie sagen, dass sie für Gott kämpfen?

Dann hat uns auch noch ein Bekannter angerufen, der schon vor einigen Wochen geflüchtet ist. Er hat gesagt, dass wir unbedingt sofort weg sollen. Wir sind bisher geblieben, weil mein Bruder psychisch krank ist und sich strikt geweigert hat. Er hat seit Wochen keinen Zugang mehr zu den Medikamenten, die er eigentlich braucht, um ruhig zu sein. Wir haben ihn nicht überzeugen und ja auch nicht mitschleppen können, und so haben meine Eltern beschlossen, dass sie mit meinem Bruder in Mossul bleiben. Wir haben einige Taschen und unsere Papiere zusammengepackt und sind gegangen. An einem Grenzübergang hatten sie uns schon durchgelassen, als sie dann doch nochmal nach uns gerufen haben, wir sollten zurück kommen. Aber ich habe mich nicht umgedreht und so getan, als hörte ich sie nicht. Sie haben nicht geschossen, und wir haben in der Nähe der Grenze ein Taxi gefunden, das uns hierher gebracht hat.

Im Moment sieht die ganze Welt schwarz aus. Aber ich liebe Jesus. Irgendwie muss es ja weitergehen.“Inzwischen hat seine Frau das Zimmer hergerichtet, den Kleinen geduscht und auch der Vater hat genug Kraft gefunden aufzustehen und zu duschen. Der Junge kriegt den ersten meiner mitgebrachten Kuschelbären geschenkt und tobt zwei Stunden später unbekümmert durch unser Zimmer. Wir reden fröhlich in unserer jeweiligen  Sprache aufeinander ein, ohne uns zu verstehen, und kitzeln kann man zum Glück international. Ich glaube, ich habe einen Freund gefunden. Auch unsere jungen Leute sind zurück gekommen. Heute habe zur Abwechslung mal ich gekocht und zusammen mit meiner neuen Nachbarin aus dem, was sich so im Gemeinschafts-Kühlschrank fand, eine Art Gemüsepfanne gemacht. Henri ist zu einem Imbissstand die Straße runter gegangen und hat ein Brathähnchen geholt. Und dann stehen wir um den Tisch mit all den Sachen herum und beten auf Arabisch, Holländisch und Deutsch – die Flüchtlinge von vor einigen Wochen, die Neuankömmlinge und wir, die wir uns kaum vorstellen können, was diese Leute durchgemacht haben.

Normalität – miteinander essen und Vierjährige kitzeln – und Ausnahmezustand liegen hier so dicht beieinander. Es ist schon besonders, diesen Geschwistern in dieser Zeit so nahe sein zu dürfen.

Dienstag, 15. Juli

Ich bin eben erst am Flughafen angekommen, aber manche Termine sind wichtig, auch wenn man vor Müdigkeit kaum aus den Augen gucken kann: Wir nehmen an einem interdenominationellen Gebetstreffen teil. Rund 100 Leute kommen hier zusammen, und M., der Leiter unserer einheimischen Partnerorganisation, meint hinterher, dass sie aus mindestens neun oder 11 Gemeinden kommen. Das ist ungewöhnlich. Sie sind zusammengekommen, um für Mossul zu beten. „Es ist wichtig, dass wir im Gebet eins werden“, sagt ein Pastor. „Unser Gebet soll die Mauern niederreißen, die der Teufel zwischen uns aufgerichtet hat.“

Viele der Neuankömmlinge aus Mossul sind zu dem Treffen gekommen. Manche von ihnen – wie die jungen Leute, die mit in unserer Wohnung leben, und ihre Freunde – sitzen ganz hinten. Einer zeigt Bilder von Mossul: Er hat sich vor einigen Tagen noch einmal in die Stadt zurück gewagt, um einige Dokumente zu holen, und hat dabei um sein Leben gefürchtet. ISIS haben schwarze Markierungen an den Häusern der Christen angebracht, um damit ihren Anspruch darauf zu deutlich zu machen. Die Straßen sind menschenleer, und die einzigen Autos, die man in der Stadt sieht, sind die ausgebrannten, die am Straßenrand liegen geblieben sind.Ganz vorne sitzt ein älteres Ehepaar aus Mossul. Sie sind schon zum vierten Mal geflüchtet und haben alles zurückgelassen. Jetzt haben sie schon wieder  alles verloren.

Wenn sie singen, erheben viele ihre Hände in einer Geste der Anbetung, und sie scheinen ihren Lobpreis Gott streckenweise regelrecht zuzubrüllen. „Du bist unser Schild“, singen sie. „Wir haben Angst, aber wenn wir zu dir als unserem Herrn aufschauen, wissen wir, dass wir Überwinder sind. Unser wahrer Feind, der Teufel, ist schon besiegt.

Ich bin sicher, dass sie all diese Lieder auch schon gesungen haben, als die Zeiten vergleichsweise friedlich waren, aber hier klingen sie so viel realer. Wie auch die Predigt über den Propheten Habakuk, die ein anderer Pfarrer vorträgt: Der Prophet war verstört, weil er Gottes Gerechtigkeit nicht sehen konnte. Er musste seinen Blickwinkel ändern und den Schöpfer der Welt betrachten, um das große Ganze wahrzunehmen. Habakuk wurde bewusst, dass Gott immer noch über den Dingen stand und dass die Gerechtigkeit siegen würde. Die Welt sah immer noch düster aus, aber Habakuk konnte sich freuen.

Ganz offensichtlich können die Flüchtlinge sich mit Habakuks Erfahrungen identifizieren. Einer aus Bagdad gibt einen Zwischenstand zur Situation dort. „In den Kirchen stehen die Leute im Gebet zusammen. Aber außerhalb der Kirchen sieht es sehr düster aus.“ Ein anderer hat Neuigkeiten aus Mossul: Nur noch wenige Christen sind in der Stadt geblieben, und ISIS hat ihre Häuser übernommen.„Alle sagen, dass es keine Hoffnung gibt“, meint ein Bruder. „Aber wir glauben an einen großen Gott. Unsere Umstände sind schwierig. Aber unser Gott ist größer.

Christenverfolgung im Irak

Die christlichen Gemeinden im Nahen Osten hatten eine grosse Vergangenheit. Eine Zukunft scheinen sie nicht mehr zu haben: Im Irak, in Ägypten, in Syrien geraten sie unter Druck und sehen sie sich von radikalen Islamisten bedroht, verfolgt, verjagt.

Vor allem im Irak fallen Christen gezieltem Terrorismus zum Opfer. In der Al Qaida Hochburg Mossul im Irak lebten vor Jahren noch 100.000 Christen. Heute sind es noch 5.000.

Das SRF hat eine halbstündige Sendung über den Exodus der Christen im Nahen Osten produziert.

VD: CM

Christen als Hassobjekt für Islamisten und Kriminelle

Von einer Million auf 200.000 – die Anzahl der Christen im Irak schrumpft. Ihr Verhalten war immer sehr friedlich. Trotzdem werden sie verfolgt. DIE WELT schreibt:

Vor allem radikale Islamisten, aber auch reine Kriminellenbanden machten schnell deutlich, dass sie die Existenz der auf provozierende Weise friedlichen Christen nicht dulden würden.

Viele gezielte Morde und Massaker später ist die Zahl der Christen im Irak drastisch geschrumpft – es sind, wenn es hochkommt, noch etwa 200.000. Der Exodus der Christen wird bald abgeschlossen sein. Dann wird das Christentum nur noch in einem historischen Sinne zum Irak gehören. Und es sieht leider nicht so aus, als würde das die deutsche Öffentlichkeit sonderlich betrüben oder gar schmerzen.

Hier: www.welt.de.

Auf nach »Little Bagdad«

jaramana1.jpgPetra Tabeling beschreibt in einem Artikel für Das Parlament (12. Nov. 2007, S. 3) den Exodus der Christen aus dem Irak. Mehr als 20.000 irakische Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr Zuflucht in den Ländern der EU gesucht, davon allein 9.000 im liberalen Schweden. Der überwiegende Teil der irakischen Flüchtlinge sind Christen, die im Irak nur etwa drei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie gehören den Chaldäern, der syrisch-orthodoxen oder der assyrischen Kirche an.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) dokumentiert im Jahrbuch Märtyrer 2007 die Situation der Christen im Irak. Der Beitrag über die größte Christenverfolgung der Gegenwart kann hier frei heruntergeladen werden: GfbV_auszug.pdf.

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Bild: Die Hauptstraße im Damaszener Viertel Jaramana. Viele der Schulkinder sind Iraker. Seit dem Ansturm der Flüchtlinge hat sich die Schülerstärke in vielen Klassen der syrischen Stadt von 25 auf 60 erhöht (Quelle: G.M. Keller mit freundlicher Genehmigung).

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