Das Drama von Mossul (Teil 1)

Andrea, Mitarbeiterin des Hilfswerkes GAiN, befindet sich seit einigen Tagen im Nordirak. Eigentlich wollte sie zusammen mit ihren Kollegen in den neu entstandenen Camps syrischen Flüchtlingen helfen, aber in der letzten Woche hat das Team natürlich vor allem die Situation in und um Mossul in Atem gehalten. Andrea hat über das Erlebte ein Tagebuch geführt, dass ich hier freundlicherweise veröffentlichen darf. Sämtliche Namen etc. wurden zum Schutz der betreffenden Personen pseudonymisiert. Die aktuellsten Beiträge finden sich oben. Falls noch Einträge hinzukommen, werde ich diese „nachreichen“.

Freitag, 25. Juli, nachmittags

Eigentlich ist heute frei und wir drei vom Team haben uns fest vorgenommen, dass einen Tag lang jeder nur das macht, was er/sie wirklich gerne machen möchte. Die beiden anderen haben in den vier Wochen, seit sie hier sind, keinen einzigen freien Tag gehabt, und wir sind außerdem ziemlich fertig nach den letzten Tagen, in denen wir mit einigen einheimischen Helfern Kleider sortiert, einen Container halb ausgeräumt, Matratzen und Waschmittel in der Gegend herumgeschleppt und verschiedene „unserer“ Familien wiedergesehen haben. Aber es ist schwer, das Tagesgeschehen auszublenden. Neben Johannas und meinem Zimmer ist eine neue Familie von Vertriebenen eingezogen, deren vielleicht dreijähriges Kind fast ununterbrochen schreit. Auch um die Familie, die seit letzter Woche hier wohnt, machen wir uns etwas Sorgen. Die Frau schleicht mit hängenden Schultern durch die Wohnung und schafft es kaum, irgendwem in die Augen zu schauen. Sie ist fast nicht ansprechbar, und wir haben den Eindruck, dass das nicht nur an ihren eher dünnen Englischkenntnissen liegt. Der Mann sitzt meistens auf dem Sofa und scheint regelrecht darauf zu lauern, dass irgendwer von uns aus dem Zimmer kommt und an ihm vorbei zur Küche geht. Er spricht uns immer an: Wie schreibt man dieses oder jenes englische Wort? Haben wir dieses YouTube-Video schon gesehen? Können wir ihm helfen, einen Asylantrag in einem anderen Land zu stellen – egal in welchem? Als ich eben in die Küche ging und meine Wasserflasche auffüllen wollte, saß er wieder da: „ An-darea. Ich bin so traurig.“ Ich glaube nicht, dass Tränen zur Standardausstattung irakischer Männer gehören, und sein leises Weinen, bei dem ihm die Tränen über die Wangen liefen, hat mich doch etwas aus der Bahn geworfen. „Es ist gut, wenn du weinen kannst“, habe ich hilflos gemeint. Vielleicht spülen die Tränen ein bisschen Trauer weg. Er hatte ein Handyvideo von „zuhause“ in Mossul angeschaut: nur ein paar Sekunden Film, in denen der Vierjährige vergnügt in einem Planschbecken auf dem Hausdach quietscht. Als er mir den Film zeigt, kommt sein Sohn auch dazu und fängt an zu jammern. „Er will schwimmen gehen“, übersetzt sein Vater und bricht wieder in Tränen aus. Ich flüchte mich in unser Zimmer. Frei machen ist nicht ganz einfach, wenn man mit traumatisierten Menschen zusammen wohnt.

Mittwoch, 23. Juli, morgens

M., der Chef unserer Partnerorganisation, mischt sich noch vor der Morgenandacht einen Kaffee an. Einer der Mitarbeiter hat frisches Brot und Kichererbsensuppe mitgebracht, und M. nimmt sich dankbar einen Teller davon. „Ich hatte noch kein Frühstück“, erklärt er, „hier im Büro ist eine Frau angekommen, die in dem Dorf untergekommen war, das gestern Abend angegriffen wurde. Sie ist die ganze Nacht durchgelaufen.“ Die ISIS-Leute konnten zwar zurückgetrieben werden, aber vorher haben sie es noch geschafft, alle Christen nach Mitternacht aufzuschrecken, sie aus den Häusern und aus dem Dorf zu jagen. Sie konnten zwar, als sich die Lage etwas beruhigte, wieder zurückkehren, aber man muss nicht viel Phantasie haben, um zu ahnen, was das mit ihrer Psyche anrichtet. „Die haben inzwischen das Gefühl, nirgendwo mehr sicher zu sein“, meint M. in der Morgendandacht, „und sicher werden nach und nach noch viele hier eintrudeln.“ Zwei Kollegen, die gestern mit Wasser in dieses Dorf gebracht haben, schluchzen leise. Man fragt sich ja schon, wie vergeblich all unsere Liebesmüh hier ist, wenn der Terror immer näher rückt. Beim Bibellesen sind wir inzwischen bei Psalm 5 angekommen. Es gibt, wie in den letzten Tagen mit Psalm 3 und 4, so wenig theoretisch darüber auszutauschen; im Moment haben wir einfach nur das Bedürfnis, diesen Psalm stellvertretend für die Geschwister zu beten, die gerade in einer sehr ähnlichen Situation stecken wie David damals.

Mit den Kollegen, die etwas besser Englisch sprechen, kommen wir noch ein bisschen ins Gespräch über die politische Lage. Die Peschmerga ist eigentlich eine Armee, gilt aber offiziell als Miliz, weil Kurdistan nicht anerkannt ist. Ihre Kämpfer sind gut ausgebildet und scheinen im Moment die einzigen zu sein, die sich der ISIS entgegenzustellen wagen. Die Flüchtlinge aus Mossul haben berichtet, wie nach dem Einzug der ISIS nach und nach alle Staatsgewalt abzog: Die Polizei wurde mit ISIS-Leuten besetzt, die Gerichtsbarkeit von ISIS-Sympathisanten übernommen… Und sie erinnern sich alle daran, wie das offizielle irakische Militär die Stadt verließ und ISIS das Feld überließ. Christen und andere Minderheiten, die auf der Abschussliste der ISIS standen, haben sich ausgeliefert und von ihrem Staat und ihrer Armee verraten gefühlt. In der kurdischen Autonomieregion fühlen sie sich vergleichsweise sicher. Die Kurden hoffen nun, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sie einen Schritt weiter in Richtung der offiziellen Anerkennung als Kurdenstaat bringt. Wäre das gut? „Keine Ahnung. Es wird eh nicht passieren“, zuckt ein Mitarbeiter mit den Schultern. „Kurdistan ist zu klein und die Region ist einfach zu unruhig.“ Es ist wirklich bitter: Der Irak ist reicher an Bodenschätzen als Saudi-Arabien, und wenn Frieden wäre, könnten alle Iraker in Wohlstand leben. Aber es ist eben kein Frieden. Wir fragen M., wie es wohl weitergehen wird und welche Lösung sich die Christen für ihr Land wünschen. Er schüttelt nur den Kopf. „Darauf gibt es keine einfache Antwort. Bei uns scheint immer irgendwer gegen irgendwen zu kämpfen. Wir beten nur, dass in all den Unruhen keine Menschen zu Schaden kommen und dass wir in allen Umständen Menschen ins Reich Gottes führen können.“

Dienstag 22. Juli, abends

Wir sind bei Ärztin R. und ihrer Familie zum Abendessen eingeladen. Wir haben sie bei den Familienbesuchen gestern schätzen gelernt und freuen uns, sie etwas besser kennenzulernen. Ihr Mann ist Ingenieur bei einer internationalen Firma und hat schon in verschiedenen Ländern gelebt. Das macht das Gespräch einfacher und nimmt uns auch die Scheu, kulturell in alle möglichen Fettnäpfchen zu treten. Seit einigen Jahren wohnt die Familie in unserer Stadt. Vor einigen Wochen haben sie R.s Schwiegervater zu sich geholt. Er sitzt die ganze Zeit schweigend auf dem Sofa, starrt vor sich hin und kaut an seiner Unterlippe. „Er kommt nicht gut darüber hinweg, was da alles passiert“, erklärt R.s Mann, „er hat ja nicht gedacht, dass er gar nicht mehr zurück kann.“ Er zeigt uns auch Bilder von Mossul aus den letzten Wochen: das „N“ an Hauswänden. Das Flugblatt, mit dem das Ultimatum angekündigt wurde. Polizeiautos mit dem Signet der ISIS. Eine Brücke, unter der ein Transparent hängt: Herzlich willkommen im Staat – wohlgemerkt nicht in der Stadt – der ISIS. „Ich glaube, die Ironie von solchen Transparenten ist denen nicht so recht bewusst“, meint R. lakonisch. „Ach, und guckt mal hier auf dem Bild: das ist das Haus meiner Familie mit dem N für Nasrani, Christen.“ Kurz bevor wir gehen bekommt die Familie noch einen Anruf von Verwandten, die in einem der christlichen Dörfer nördlich von Mossul leben: ISIS-Truppen haben das Dorf überfallen. Es gehört zu den Dörfern, in dem einige der aus Mossul Geflüchteten Zuflucht gesucht haben. Gerade heute haben meine einheimischen Kollegen einen LKW mit Trinkwasser gebracht; zum Glück, so wissen wir, sind sie von ihrem Einsatz schon wieder zurück. Wir verabschieden uns schnell, weil wir ahnen, dass die Familie noch einiges zu besprechen hat und weiter mit den Verwandten telefonieren wird. R. hat ihnen schon länger nahegelegt, auch in unsere Stadt zu ziehen, und nun macht sie sich erst recht Sorgen:, Die kurdischen Peschmerga scheinen die ISIS-Kämpfer zurückgeschlagen zu haben, aber mehr ist im Moment nicht herauszufinden.

Montag, 21. Juli, abends

„Sie haben uns alles weggenommen.“ Diesen Satz haben wir heute in fünf Häusern und immer gleich mehrfach gehört. Es ist der Refrain, der sich durch die Geschichten der Menschen zieht, die am letzten Wochenende aus Mossul geflüchtet sind und an den ISIS-Kontrollpunkten alles abgeben mussten. Nur die Kleider, die sie am Leib trugen, sind ihnen geblieben. Eine Ärztin aus unserer Stadt hier hat Kontakt zu 22 dieser Familien und führt uns zu ihnen. Wir haben fürs Erste große Tüten mit Reis gekauft, Öl, Bulgur, Zucker und andere Grundnahrungsmittel, und betreten nun die kleinen, von außen alle gleich aussehenden Häuser einer schnuckeligen neuen Wohnsiedlung.  Hier sind Familien zusammengerückt: Manche der Vertriebenen haben das Glück, ein Familienmitglied in unserer Stadt zu haben, bei dem sie unterschlüpfen konnten. Es bedeutet, dass plötzlich 20 bis 30 Leute in Räumen leben, die für fünf oder sechs ausgelegt sind, aber immerhin müssen sie sich um die Miete im Moment keine Sorge machen.

Andere haben solche Häuser zur Miete bezogen und machen sich große Sorgen, wie sie das Geld auftreiben sollen. Ein unmöbliertes Haus kostet rund 600 Euro im Monat (und bedeutet, dass man nicht einmal eine Matratze hat), ein möbliertes mehr als 1000.  Sie hatten teilweise viel Geld auf der Bank, aber die Konten sind eingefroren worden und ohne Papiere haben sie erst recht keine Möglichkeit heranzukommen. Manche der Leute, die wir kennenlernen, sind in einem früheren Leben – das erst Tage her ist, aber ganz verloren scheint – Regierungsangestellte gewesen: Lehrer und Beamte im Finanzbereich, eine Schulleiterin und zwei Universitätsprofessoren sind unter den Leuten, die wir besuchen. Sie machen ihrem Ärger Luft, dass die irakische Regierung ihre Gehälter und Renten nicht weiter auszahlt. „Die haben am Kontrollpunkt unsere Pässe vor unseren Augen vernichtet“, sagt eine Schulleiterin Mitte 50 aufgebracht. Im kurdischen Autonomiegebiet mit seiner ganz eigenen Regierung und Infrastruktur ist es schwierig, an neue Papiere zu kommen. „Die können uns nicht in so ein Camp stecken!“, weint sie. „Für das Leben dort sind wir doch nicht gemacht.“ Diese Leute gehörten zur Elite ihres Landes und sind jetzt Bettler und Hilfesuchende. „Wir schämen uns so,“ sagt sie, „und wir verstehen nicht, warum die Weltöffentlichkeit nicht reagiert. Warum mischen sich eure Politiker aus der christlichen Welt nicht ein? Wir haben den Eindruck, dass wir vergessen sind. Erzählt unsere Geschichten dort, wo ihr herkommt: in euren Kirchen und bei euren Regierungen. Und ist so großes Unrecht geschehen.“

Wie manche andere, mit denen wir an diesem Tag reden, ist diese Frau in den letzten Jahren schon viermal aus Mossul geflüchtet; diesmal, so spürt sie deutlich, ist es endgültig. Jahrelange Einschüchterungen haben ihre Spuren hinterlassen. Schon vor acht oder neun Jahren, erzählt sie, sind Extremisten nachts in ihr Haus eingedrungen, als ihr Mann auf Geschäftsreise war, und haben die Familie bedroht. „Meine Tochter schlief allein in ihrem Zimmer und als sie aufwachte, standen plötzlich diese schwarz gekleideten Männer um ihr Bett herum und wollten wissen, wo ihr Vater wäre. Wir haben vier Töchter und einen Sohn, und ich hatte immer solche Angst um meine Kinder.“ Viele Christen wurden erpresst und sollten Geld zahlen: „Wenn eine Familie nicht zahlte – und manche Leute hatten doch einfach nicht das Geld! – musste sie immer damit rechnen, dass ihre Söhne weggenommen und zu Kämpfern gemacht oder dass ihre unverheirateten Töchter den Kämpfern zum Vergnügen gegeben wurden.“ Sie schauen alle betreten zu Boden und wechseln schnell das Thema; dieses ist offenbar noch schmerzhafter als alle anderen, die wir schon unerträglich finden.

Als uns diese Frau ihre Geschichte erzählt und meine Kollegin Johanna nach ihrem Namen fragt, gibt es eine kleine Unruhe und wir reden von etwas anderem. „War das mit dem Namen falsch? Wir wollen sie ja nicht gefährden“, sagt Johanna hinterher zu R., der Ärztin, die mit uns gekommen ist und für uns übersetzt. Wir fragen normalerweise aus Prinzip nicht nach Namen. „Nein, nein“, versichert R., „die Frau hat gemeint, sie kann euch genausogut ihren Namen nennen, sie hat ja nichts mehr zu verlieren.“

„Ich fühle mich wie ein Einwanderer im eigenen Land“, meint ein anderer Mann Mitte 50. Er hatte sechs Häuser, von denen man ihm eins schon vor einigen Jahren abgenommen hat. Man hat ihn gezwungen es zu verkaufen. „Es war 300 Millionen Dinar wert (etwa 200.000 Euro), aber man hat mir nur 20 Millionen (13.000 Euro) dafür gegeben.“ Und jetzt, nachdem alle geflüchtet sind, sind auch die anderen Häuser an ISIS gefallen. Selbst wenn die Rebellen besiegt würden und sie theoretisch nach Mossul zurück könnten, würde seine Familie es nicht wagen, sagt er. Das Maß ist einfach voll. „Ich traue niemandem mehr“, meint er. „Schon in den letzten Jahren sind wir schlechter behandelt worden als die muslimische Bevölkerung und konnten uns an niemanden wenden, um Recht zu bekommen. Ich selbst bin einmal entführt und erst gegen 50.000 Dollar freigelassen worden.“ (Solche Geschichten hören wir übrigens noch öfter an diesem Tag, das jüngste Opfer war zur Zeit der Entführung 17 Jahre alt.) „So viele Leute, die jetzt ISIS unterstützen, waren einmal unsere Nachbarn und Freunde, und zum Schluss haben sie nicht einmal mehr mit uns geredet.“ Er will mit seiner Familie auswandern. „Meine Familie hat seit Generationen in Mossul gelebt. Aber wir gehen nicht zurück. Sie haben unsere Wurzeln abgeschnitten.“ Seine Frau nickt: „Wir müssen ja gar nicht mehr reich sein, wenn wir nur irgendwo sicher leben können. Wir brauchen doch nicht viel. Wir hatten so viel und jetzt sind wir schon dankbar, wenn ihr uns eine Tüte Lebensmittel bringt.“

Auch die jungen Leute Anfang Zwanzig machen sich Gedanken um ihre Zukunft. Manche von ihnen waren gerade in ihrem vierten, im letzten Studienjahr. Eigentlich wären jetzt im Sommer Abschlussprüfungen gewesen, aber selbst wenn sie noch stattgefunden hätten, wären sie wohl kaum noch irgendwo anerkannt worden. „Ohne Abschluss habe ich ja erst recht keine Chance, im Ausland arbeiten zu können“, klagt eine Studentin. „Und ob wir im Irak noch mal weiterstudieren können – wer weiß das schon.“ Im Moment versuchen alle irgendeine Arbeit zu finden; Kurdistan hat extra eine Webseite mit Jobangeboten eingerichtet und bietet Bewerbertrainings an. Bisher war das nie nötig, man rief einfach einen Onkel, einen entfernten Cousin oder einen Studienfreund des Großvaters an und fand irgendeine Arbeit.

„Das Schlimmste ist für uns die Ungewissheit“, meint der Vater dieser Studentin, ein Chemieprofessor, der in England studiert hat und entsprechend fließend Englisch spricht. „Wenn wir wüssten, dass wir drei Monate hier sind oder meinetwegen auch zwei Jahre, dann könnten wir uns irgendwie mit der Situation arrangieren. Aber es ist wie ein Tunnel, bei dem am anderen Ende kein Licht zu sehen ist.“

Er würde gerne wieder nach Mossul zurückkehren und hat weniger Bedenken als die anderen Familien, die wir besuchen: „Manche meiner muslimischen Freunde haben mir zugeflüstert, wie sehr sie sich schämen für das, was mit uns passiert.“ Aber im Moment ist eine Rückkehr für Christen undenkbar. Das Ultimatum steht noch im Raum: Wer bis letzten Samstag Mossil nicht verlassen hat, hatte nur noch die Wahl, zum Islam zu konvertieren, „oder zwischen ihm und uns steht nur noch das Schwert“, hieß es in einem Flugblatt. In einer größeren Familie frage ich doch einmal nach: „Ist denn eigentlich jemand, den ihr kennt, deswegen konvertiert?“ Ich ernte allgemeines Kopfschütteln und laute Verneinungen, eine Mischung aus Heiterkeit und Entrüstung: „Nach all dem, was die uns angetan haben?!“ Selbst für Leute, die es mit ihrem christlichen Glauben bisher nicht sehr ernst genommen haben, ist der Übertritt zum Islam keine Option.

Die Bilder, die Johanna schießt, zeigen auf den ersten Blick ganz normale Leute in schönen Häusern, teilweise liegen Smartphones oder Laptops auf dem Tisch. Uns wird mehr Kaffee und Gebäck angeboten, als wir vertragen. Man muss schon genau hinschauen, um die Armut und Verzweiflung dieser Leute zu sehen. Und ihre Scham. Offensichtlich ist ihnen die Diskrepanz zwischen dem Normalen, das man sieht, und dem Elend, das sich dahinter verbirgt, auch bewusst. „Das ist nicht unser Haus“, hören wir gleich dreimal, als wir mit Tüten und Reissäcken in ordentlich aufgeräumte Küchen treten.

Das sind Leute, die so viel mehr mit mir gemeinsam haben als einfachen Leute auf den Dörfern in Haiti oder Kenia, mit denen ich sonst zu tun hatte; wenn überhaupt, stehen sie gesellschaftlich eigentlich über mir. Und hier kämpfen sie um ein Restchen Würde. Da ist das vielleicht zwölfjährige Mädchen im Schlafanzug, das nicht mit seinen Schwestern aufs Foto möchte. Auch ihren Großvater verstecken wir beim Familienfoto in der hinteren Reihe. Er hat nur eine knielange Sweathose und ein schlabberiges T-Shirt an und entschuldigt sich mehrmals, dass er in dem Aufzug überhaupt Gäste empfängt. Die Leute haben in diesen Häusern Badezimmer, aber nichts Frisches zum Anziehen, wenn sie aus der Dusche kommen.

Vier Stunden, zwei Kaffees und drei Gläser Wasser, drei Bonbons und zwei Stück Gebäck später trennen wir uns von Ärztin R.. Sie will uns morgen eine Liste mit weiteren Familieninfos zusammenstellen. Vielleicht können wir beim nächsten Besuch gezielter Kleider, Matratzen und Textilien mitbringen. Die Ankunft unseres Containers hat sich doch noch um einige Tage verzögert, und wir sind alle ein bisschen mürbe vom Warten und Immer-wieder-vertröstet-werden.

Jetzt sind wir müde von der Hitze und wie erschlagen von all den Geschichten, die wir gehört haben. Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht gut schlafen werde. Aber im Moment möchte ich nirgendwo anders sein als an der Seite dieser Geschwister.

Sonntag, 20. Juli

Morgenandacht mit den einheimischen Kollegen. Sie lesen jeden Morgen der Reihe nach ein oder zwei Kapitel aus der Bibel und tauschen sich darüber aus. Bis letzte Woche haben sie Hiob gelesen, nun sind wir bei den Psalmen. Wir lesen Psalm 2 und ich linse auch schon in Psalm 3 hinein. Wie krass ist das denn? Für die Umstände, die meine Geschwister in dieser Region als wirklichen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, als Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod erleben, gibt es klare Worte. Und es gibt eine Antwort. Die kraftvollen Worte, die David prophetisch spricht, malen eine Zukunft aus, in der die Gerechtigkeit siegt und die Bösen endgültig vernichtet werden. Ich habe in Deutschland diesen Psalm nie so recht emotional fassen können; unser Glaube ist oft so weichgespült und sieht die Dimension kaum noch, in der es um alles oder nichts geht. „Wohl denen, die bei dir ihre Zuflucht suchen“, heißt der letzte Vers in meiner englischen Bibel. Die meisten von uns schnuffeln leise vor sich hin, als wir für unsere Geschwister aus Mossul beten. Selbst für mich, die ich erst vor fünf Tagen her gekommen bin, hat diese Christenverfolgung ein gutes Dutzend Gesichter und Namen und Geschichten.

„In den Weltnachrichten ist die Situation in Mossul abgeschlagen auf Platz drei nach Gaza und dem Absturz des malayischen Flugzeugs, wenn sie überhaupt vorkommt“, seufzt M. , der Chef unserer Partnerorganisation. „Dabei hat es das, was wir hier gerade erleben, seit dem Einfall der Mongolen nicht mehr gegeben: Es gibt keine Christen mehr in Mossul.“ Er schüttelt traurig den Kopf. Er ist selbst vor 10 Jahren aus Bagdad geflüchtet, weil er als Mitarbeiter einer christlichen Organisation nicht mehr sicher war. „Wir können das nicht stärker in der Welt ins Gespräch bringen, sagt seine Frau, „wir sind ja zu nahe dran, als dass man uns ernst nimmt. Aber ihr – berichtet davon, damit die Leute aus Mossul nicht vergessen sind.“

Er hat gerade mit einem Freund gesprochen, der vor kurzem noch sein Haus verkaufen konnte und mit umgerechnet rund 300.000 Euro aus Mossul unterwegs war. Vor ein paar Wochen wäre er damit noch durch die Kontrollen gekommen, gestern hat man ihm das Geld abgeknöpft. „Manche fliehen auch aus entlegeneren Gegenden“, berichtet er. „Sie sind tagelang unterwegs; wir hören von den ersten Säuglingen, die das nicht überleben.“ Wir planen gemeinsam, wie wir am besten helfen: Die einheimischen Kollegen werden einen LKW voll mit Wasser kaufen und zu den Leuten bringen, die in christlichen Dörfern im Umland von Mossul gestrandet sind. Für uns ist es zu gefährlich, dorthin mitzugehen. Aber wir kommen in Kontakt mit einer einheimischen Ärztin, die mehrere der neu angekommenen Familien kennt. „Die brauchen eigentlich alles“, sagt sie, als ich frage, wie wir am besten helfen können. „Wir haben sonst ja auch schon Essenspakete an Bedürftige verteilt, aber dass Leute so gar nichts haben, keine Matratzen, keine Zahnbürste, nicht mal einen Topf, das kennen wir so bisher noch nicht.“

Eben haben wir Nachricht bekommen, dass unser Container durch den Zoll gekommen ist, er wird heute Abend oder morgen früh hier eintreffen. Mit Kleidern aus Deutschland, mit Waschpulver und Schuhen aus unserem Container und mit hier gekauften Lebensmitteln werden wir hoffentlich die allererste Not lindern helfen können.

Freitag, 18. Juli, abends

Wieder stehen neue Leute in unserem Flur, diesmal sind es nur zwei ältere Herren. Der eine ist gerade eben erst in der Stadt angekommen und in unsere Wohnung gekommen, um sich einfach für ein paar Minuten hinzusetzen und ein Glas Wasser zu trinken, der andere ist schon vor einem Monat hergeflüchtet und hat ihn zu uns begleitet. Auch unser Bekannter R. ist wieder da, und wir stehen zusammen in unserer Küche und tauschen Neuigkeiten aus. „Unten stehen 10 Leute, die meine Eltern gerade bei Leuten aus der Gemeinde unterbringen“, sagt der Pastorensohn. „Die sind eben aus Mossul angekommen. Sie haben nichts mehr. Nur die Klamotten, die sie am Leib trugen. Kannst du dir das vorstellen? Selbst die Trauringe hat man ihnen am Kontrollpunkt abgenommen. Ein paar haben etwas Geld in den Schuhen versteckt, haben sie erzählt. Die konnten wenigstens den Bus in eine der Städte bezahlen.“ Ich denke an den Koffer, den ich mitgebracht habe; 13 Kilo plus Geschenke und Kuschelbären. Es schien mir so wenig, als ich ihn packte. Diese Leute haben viel weniger. „Unsere Welt kehrt sich gerade um“, meint R., der viele der Neuankömmlinge kennt. „Die bis jetzt geblieben sind, das sind die reichen Leute: Die, die eigene Häuser bauten oder gerade neu gebaut hatten. Sie hatten mehr zu verlieren und sind deswegen länger geblieben. Und die verlieren jetzt alles. Ich war nie reich, ich konnte leichter alles hinter mir lassen. Und nun habe ich mehr als sie und plötzlich bin ich der, der ihnen hilft…“

Freitag, 18. Juli, nachmittags

Warum steht eigentlich heute nichts über Mossul in den deutschen Online-Zeitungen? Kriegt keiner mit, was hier gerade passiert?

Schon seit dem Mittag ist unser Flur eine Mischung aus Newsraum und Notfallseelsorge-Zentrum. Die junge Frau, die gestern mit ihrer Familie angekommen ist, läuft rastlos weinend den Flur auf und ab, der Familienvater telefoniert ununterbrochen. Bei den vielen Mitbewohnern und Besuchern, die in unsere Wohnung hineinkommen und wieder gehen, Neuigkeiten bringen, ihre Freunde in den Arm nehmen oder neue Infos bekommen, verliere ich ein bisschen den Überblick. Nach einer Weile kristallisiert sich heraus, was los ist:

Heute morgen hat ISIS alle Kirchenleiter, die noch in der Stadt waren, zu sich zitiert. Manche haben gesagt, dass sie nicht kommen wollten, und zur Antwort bekommen, dass sie und ihre Gemeindeglieder dann eben gleich umgebracht werden. Es war ja nicht ohne Grund, dass alle Personalien aufgenommen wurden. Also sind sie gekommen und haben im Anschluss an ihre Leute die Nachricht weitergegeben: Sie sollten sofort die Stadt verlassen. Die allermeisten sind also mit ihren Wertsachen und Papieren aus der Stadt geflohen, manche hatten sogar noch Autos, in denen sie aufbrechen konnten. Überall um die Stadt herum waren Kontrollen eingerichtet, an denen man ihnen dann alles abgenommen hat: Geld, Wertsachen, und die Autos sowieso. In Autos der Rebellen wurden die Leute irgendwo in die Pampa gefahren und dort ausgesetzt; von dort aus haben sie sich zu Fuß zu den christlichen Dörfern im Umland durchgeschlagen. Auch die Eltern und der Bruder unseres neuen Mitbewohners und die Eltern seiner Frau stecken nun in irgendwelchen Dörfern fest. Sie trauen sich alle kaum zu telefonieren, weil sie die wohl begründete Angst haben, dass ihre Handys abgehört werden und man auch außerhalb des ISIS-Gebiets eigentlich nicht sicher ist. Die Dörfler sind arm und können diese Menschen nicht versorgen. Niemand traut sich im Moment, Güter hinzubringen oder die Leute abzuholen.

Das Haus meiner Mitbewohner hat ISIS vermutlich längst beschlagnahmt; in islamischer Sicht, so habe ich eben gelernt, gilt das als Kriegsbeute, ebenso wie die Wertsachen und Autos. Immerhin leben alle Verwandten dieser Familie, soweit wir bisher herausfinden konnten.

Den Christen in Mossul ist ein Ultimatum gestellt worden: Bis morgen um 12 Uhr können sie die Stadt noch verlassen, danach haben sie nur noch zwei Möglichkeiten: konvertieren oder sterben. Das gilt auch für Christen, die sich zurück in die Stadt wagen. Was in den letzten Tagen noch manche gewagt haben – eben mal schnell nach Mossul fahren, in ihr Haus schlüpfen und vergessene Papiere mitnehmen – wird nun wohl endgültig unverantwortlich.

Der kleine J. springt aufgedreht um unsere Füße herum. Die junge Frau umklammert den neuen Teddybären und starrt vor sich hin. Einer der jungen Leute surft im Internet. „Versuchst du Neuigkeiten über Mossul herauszufinden“, frage ich ihn. Sein Bruder schüttelt nur den Kopf. „Ich glaube, für heute haben wir mehr als genug Neuigkeiten.“Es wäre schön, wenn es morgen zur Abwechslung einmal gute Neuigkeiten gäbe. Wir beten für ein Wunder.

Donnerstag, 17. Juli 2014, abends

Unsere neuen MitbewohnerIch habe den ganzen Tag gearbeitet und habe mich nun zu Henri auf eines der großen Sofas im Flur unserer Wohnung gesetzt. Es ist so ruhig hier. Die Iraker, die hier leben, sind sehr stille, unaufdringliche Leute. Wir wohnen in dieser Wohnung, die von einer einheimischen Gemeinde angemietet wurde, nämlich nicht alleine: Von den fünf oder sechs großen Zimmern sind zwei von uns belegt, die anderen von Christen-Familien, die in den letzten Wochen aus Mossul geflüchtet sind. Sie haben Glück, dass sie bei Bekannten oder in Gemeinden unterkommen können und nicht im Camp landen; die Christen helfen einander.

Bevor ich ankam, hat Johanna erzählt, waren in einer Nacht vierzig Leute hier: Sie legten in allen Zimmern Matratzen auf den Boden und waren einfach dankbar, eine Bleibe zu haben. Auch bei Johanna hat eine junge Frau einige Nächte mit gewohnt. Immer wieder hat meine Kollegin, wenn sie durch den Flur oder in die Küche ging, weinende oder ganz versteinerte Menschen auf den Sofas sitzen sehen, manchmal hat sie sich zu ihnen gesetzt und still mit ihnen geweint oder still gebetet, aber das Bewegende ist, wie sie alle einander beistehen. Die, deren Flucht schon einige Tage oder Wochen zurück liegt, versuchen die zu trösten, die gerade erst angekommen sind. Für viele von diesen Familien kann recht bald eine andere, dauerhaftere Unterkunft gefunden werden, und so waren wir in den letzten Tagen alleine mit einer sechsköpfigen Familie, die in einem der Zimmer zusammen hauste. Johanna hat sich mit den vier Kindern angefreundet, die alle zwischen Oberstufen- und Studentenalter sind. Einer von ihnen hat bis vor drei Wochen studiert, aber damit ist es wohl nun vorbei. Im Moment versuchen alle, irgendwelche Jobs zu finden, um sich über Wasser zu halten. Übermorgen werden sie ausziehen und wir sind schon fast ein bisschen traurig, dass unsere „Studenten-WG“ dann vereinsamt.

Wir sitzen also so zusammen und klönen gemütlich, als die Wohnungstür aufgestoßen wird und R. hereinkommt, einer unserer neuen Bekannten hier; er ist vor einigen Wochen in unsere Stadt geflüchtet. Er bringt eine Familie mit. Die junge Frau und ihr Vierjähriger kauern sich in eine Ecke des Sofas, der Mann schafft es gerade noch bis zum Sofa, bevor er zusammenbricht. „Ich hab noch nie einen Menschen gesehen, der so fertig war“, meint Henri hinterher, und der ist als Feuerwehrmann schon einiges gewöhnt. Es braucht eine Weile und mehrere Gläser Wasser, bis er sich soweit gefangen hat, dass er reden kann. Eine Iraki-Kanadierin, die unter Flüchtlingen arbeitet und mit hergekommen ist, übersetzt einiges, aber manches erzählt er auch selbst in Englisch:

„Vor ein paar Tagen standen ISIS-Leute vor unserer Tür. Sie haben unsere Personalien aufgenommen und unsere Telefonnummern aufgeschrieben. Am nächsten Nachmittag haben sie meine Frau auf ihrem Handy angerufen und sie bedroht; sie haben ihr aus dem Koran vorgelesen und ihr gesagt, dass wir alle umkommen, wenn wir nicht zum Islam übertreten. Meine Frau hat große Angst gehabt. Und dann standen sie plötzlich vor der Tür, eine ganze Gruppe von Männern mit schwarzen Kleidern und dunklen Bärten. Sie wollen die Leute einschüchtern. Mein kleiner Sohn hat gefragt: ‚Töten die uns jetzt?’ Aber sie haben nur unser Haus von oben bis unten durchsucht. Dabei haben sie meine kleine englische Gideon-Bibel gefunden. Sie haben mich angeschrieen, woher ich die habe, und ich habe gesagt, von einem Freund. Aber wenn ich einen amerikanischen Menschen kenne, bin ich natürlich für sie schon ein Verbrecher. Sie haben gesagt, dass sie uns schon seit einem Monat ganz genau beobachten und dass ich mich vorsehen soll. Sie sind wieder abgezogen, aber uns ist bewusst geworden, dass wir jetzt erst recht nicht mehr sicher sind. Sie brauchen ja keinen Vorwand, um Leute umzubringen, aber eine englische Bibel wäre auch Vorwand genug. In den letzten Wochen haben sie mitten in der Stadt, auf offener Straße Filme gezeigt, in denen sie Leute hinrichten. Was sind das für Menschen? Ich habe zu ihnen gesagt, dass Gott wie eine Kerze ist und Wärme und Licht verbreitet – aber sie verbreiten nur Dunkelheit und Angst. Wie können sie sagen, dass sie für Gott kämpfen?

Dann hat uns auch noch ein Bekannter angerufen, der schon vor einigen Wochen geflüchtet ist. Er hat gesagt, dass wir unbedingt sofort weg sollen. Wir sind bisher geblieben, weil mein Bruder psychisch krank ist und sich strikt geweigert hat. Er hat seit Wochen keinen Zugang mehr zu den Medikamenten, die er eigentlich braucht, um ruhig zu sein. Wir haben ihn nicht überzeugen und ja auch nicht mitschleppen können, und so haben meine Eltern beschlossen, dass sie mit meinem Bruder in Mossul bleiben. Wir haben einige Taschen und unsere Papiere zusammengepackt und sind gegangen. An einem Grenzübergang hatten sie uns schon durchgelassen, als sie dann doch nochmal nach uns gerufen haben, wir sollten zurück kommen. Aber ich habe mich nicht umgedreht und so getan, als hörte ich sie nicht. Sie haben nicht geschossen, und wir haben in der Nähe der Grenze ein Taxi gefunden, das uns hierher gebracht hat.

Im Moment sieht die ganze Welt schwarz aus. Aber ich liebe Jesus. Irgendwie muss es ja weitergehen.“Inzwischen hat seine Frau das Zimmer hergerichtet, den Kleinen geduscht und auch der Vater hat genug Kraft gefunden aufzustehen und zu duschen. Der Junge kriegt den ersten meiner mitgebrachten Kuschelbären geschenkt und tobt zwei Stunden später unbekümmert durch unser Zimmer. Wir reden fröhlich in unserer jeweiligen  Sprache aufeinander ein, ohne uns zu verstehen, und kitzeln kann man zum Glück international. Ich glaube, ich habe einen Freund gefunden. Auch unsere jungen Leute sind zurück gekommen. Heute habe zur Abwechslung mal ich gekocht und zusammen mit meiner neuen Nachbarin aus dem, was sich so im Gemeinschafts-Kühlschrank fand, eine Art Gemüsepfanne gemacht. Henri ist zu einem Imbissstand die Straße runter gegangen und hat ein Brathähnchen geholt. Und dann stehen wir um den Tisch mit all den Sachen herum und beten auf Arabisch, Holländisch und Deutsch – die Flüchtlinge von vor einigen Wochen, die Neuankömmlinge und wir, die wir uns kaum vorstellen können, was diese Leute durchgemacht haben.

Normalität – miteinander essen und Vierjährige kitzeln – und Ausnahmezustand liegen hier so dicht beieinander. Es ist schon besonders, diesen Geschwistern in dieser Zeit so nahe sein zu dürfen.

Dienstag, 15. Juli

Ich bin eben erst am Flughafen angekommen, aber manche Termine sind wichtig, auch wenn man vor Müdigkeit kaum aus den Augen gucken kann: Wir nehmen an einem interdenominationellen Gebetstreffen teil. Rund 100 Leute kommen hier zusammen, und M., der Leiter unserer einheimischen Partnerorganisation, meint hinterher, dass sie aus mindestens neun oder 11 Gemeinden kommen. Das ist ungewöhnlich. Sie sind zusammengekommen, um für Mossul zu beten. „Es ist wichtig, dass wir im Gebet eins werden“, sagt ein Pastor. „Unser Gebet soll die Mauern niederreißen, die der Teufel zwischen uns aufgerichtet hat.“

Viele der Neuankömmlinge aus Mossul sind zu dem Treffen gekommen. Manche von ihnen – wie die jungen Leute, die mit in unserer Wohnung leben, und ihre Freunde – sitzen ganz hinten. Einer zeigt Bilder von Mossul: Er hat sich vor einigen Tagen noch einmal in die Stadt zurück gewagt, um einige Dokumente zu holen, und hat dabei um sein Leben gefürchtet. ISIS haben schwarze Markierungen an den Häusern der Christen angebracht, um damit ihren Anspruch darauf zu deutlich zu machen. Die Straßen sind menschenleer, und die einzigen Autos, die man in der Stadt sieht, sind die ausgebrannten, die am Straßenrand liegen geblieben sind.Ganz vorne sitzt ein älteres Ehepaar aus Mossul. Sie sind schon zum vierten Mal geflüchtet und haben alles zurückgelassen. Jetzt haben sie schon wieder  alles verloren.

Wenn sie singen, erheben viele ihre Hände in einer Geste der Anbetung, und sie scheinen ihren Lobpreis Gott streckenweise regelrecht zuzubrüllen. „Du bist unser Schild“, singen sie. „Wir haben Angst, aber wenn wir zu dir als unserem Herrn aufschauen, wissen wir, dass wir Überwinder sind. Unser wahrer Feind, der Teufel, ist schon besiegt.

Ich bin sicher, dass sie all diese Lieder auch schon gesungen haben, als die Zeiten vergleichsweise friedlich waren, aber hier klingen sie so viel realer. Wie auch die Predigt über den Propheten Habakuk, die ein anderer Pfarrer vorträgt: Der Prophet war verstört, weil er Gottes Gerechtigkeit nicht sehen konnte. Er musste seinen Blickwinkel ändern und den Schöpfer der Welt betrachten, um das große Ganze wahrzunehmen. Habakuk wurde bewusst, dass Gott immer noch über den Dingen stand und dass die Gerechtigkeit siegen würde. Die Welt sah immer noch düster aus, aber Habakuk konnte sich freuen.

Ganz offensichtlich können die Flüchtlinge sich mit Habakuks Erfahrungen identifizieren. Einer aus Bagdad gibt einen Zwischenstand zur Situation dort. „In den Kirchen stehen die Leute im Gebet zusammen. Aber außerhalb der Kirchen sieht es sehr düster aus.“ Ein anderer hat Neuigkeiten aus Mossul: Nur noch wenige Christen sind in der Stadt geblieben, und ISIS hat ihre Häuser übernommen.„Alle sagen, dass es keine Hoffnung gibt“, meint ein Bruder. „Aber wir glauben an einen großen Gott. Unsere Umstände sind schwierig. Aber unser Gott ist größer.

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6 Kommentare
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9 Jahre zuvor

[…] Weiterlesen auf theoblog.de […]

Peter
9 Jahre zuvor

Hallo Ron,
vielen Dank für den tiefgehenden Einblick – für uns Deutschen ist die Situation vor Ort doch sehr fremd.

9 Jahre zuvor

[…] angekündigt hier die Fortsetzung (siehe auch hier) des Berichtes von Andrea, die derzeit im Nordirak für das Hilfswerk GAiN unterwegs […]

9 Jahre zuvor

[…] angekündigt hier die Fortsetzung (siehe auch hier) des Berichtes von Andrea, die derzeit im Nordirak für das Hilfswerk GAiN unterwegs […]

9 Jahre zuvor

[…] ausgetauscht. Was es damit auf sich hat, erklärt kurz und knapp die Religions-Redaktion des ORF. Auf dem TheoBlog berichtete Andrea in drei Beiträgen von ihrer Arbeit in der Flüchtlingshilfe im I…. Sie gibt ganz persönliche und direkte Einblicke in das Leben der Menschen vor […]

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