Hin und wieder treffe ich auf Leute, die bei Habermas eine gewisse Hinwendung zum Religiösen vermuten. Das kann damit zusammenhängen, dass er sich im Jahr 2004 mit Joseph Ratzinger getroffen hat. Seine Dankesrede zum Thema „Glauben und Wissen“ anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mag auch eine Rolle gespielt haben. Und freilich haben einige Denker und Autoren aus seiner Philosophiegeschichte herausgelesen, die Philosophie sei irgendwie doch auf die Religion angewiesen.
Auf einer ihm gewidmeten Tagung in Tutzing hat der 92 Jahre alte Jürgen Habermas nun mit diesem Gerücht Schluss gemacht. Der Abschied von der Metaphysik entlocke ihm keine Träne. Die FAZ berichtet:
Angesichts etlicher Vorträge, die nach der sozialen Bindekraft religiöser Riten in säkularen Gegenwartsgesellschaften fragten (Thomas Schmidt) oder seiner Luther-Interpretation auf den philologischen Zahn fühlten (Micha Brumlik), legte Habermas Wert auf die Klarstellung, dass er ein „religiös unmusikalischer“ Denker geblieben sei. Er habe den Eindruck, das Buch aus anderen Motiven geschrieben zu haben, als bisher in dessen Diskussion hervorgetreten sei. Habermas charakterisierte seine Anliegen als „immanent philosophische“. Davon abgesehen, dass er ein Bild der Philosophiegeschichte berichtigen wollte, in dem das scheinbar „dunkle Mittelalter“ und die es beschäftigenden Probleme im Verhältnis von Glauben und Wissen noch nicht den gebührenden Platz einnehmen, habe er mit seiner drei Jahrtausende umfassenden Philosophiegeschichte „Tendenzen der Verengung und Spezialisierung des Faches performativ kritisieren“ wollen, dessen Abstraktionsniveau oft keinen Bezug mehr zu „maßgebenden Fragen“ erkennen lasse.
Ausdrücklich distanzierte sich Habermas damit auch von seinem eigenen, auf dem Hegel-Kongress 1981 vorgetragenem Verständnis der Philosophie als „Platzhalter“, wonach sie als Produzent substanzieller Fragestellungen unersetzlich sei, die Antworten aber den Wissenschaften überlassen müsse. Demgegenüber wollte er im aktuellen Werk einen anspruchsvollen Begriff der Philosophie erneuern, der sie nicht nur auf Begriffsanalyse oder wissenschaftliche Zubringertätigkeiten beschränkt, sondern in ihr Beiträge zu einer „rationalen Welt- und Selbstverständigung“ sieht.
Jürgen Habermas hat in den Blättern für deutsche und internationale Politik den Aufsatz „Corona und der Schutz des Lebens“ veröffentlicht. Er ist in der für ihn typischen Sprache verfasst. Schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen. Enthalten ist etwa der auf den ersten Blick harmlose Satz:
Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein. Legitim ist sie somit immer nur auf Zeit. Wie diese außerordentliche Autorisierung auch ohne weitere Notstandsregelungen rechtsdogmatisch mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, soll am Ende dieser Erörterung stehen.
Andreas Rosenfelder hat den Aufsatz gründlich gelesen und ist alles andere als begeistert:
Wer sich auf diese Verdrehung unserer Rechtsordnung einlässt, landet in einer verkehrten Welt, die man nur als Horrorszenario umschreiben kann. Die nun plötzlich behauptete „Pflicht“ des Staates, „alle Strategien auszuschließen, bei denen er Gefahr läuft, die wahrscheinliche Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit einer vorhersehbaren Anzahl unschuldiger Bürger in Kauf zu nehmen“ und – wie es in einem geradezu grotesken Zusatz heißt – „also selber zu verursachen“, führt ohne Umwege zur Idee eines Staates, der zur Kontrolle und Beschränkung sämtlicher Lebensbereiche verdammt ist: „Überwachen und Strafen“, wie Habermas’ leider viel zu früh verstorbener Kollege Michel Foucault das 1975 genannt hat.
So soll die Anti-Infektions-Politik des Jürgen Habermas „konkurrierende Rechtsansprüche“ gar nicht mehr berücksichtigen. Die Unversehrtheit des Körpers darf dann nicht mehr gegen andere Grundrechte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit abgewogen werden, obwohl beide im selben Artikel 2 des Grundgesetzes festgeschrieben sind – mit der Person an erster und dem Leben an zweiter Stelle. Lediglich die Todesfolge lässt Habermas als Grund gelten, um eine wirksame Gesundheitsschutzmaßnahme zu verwerfen.
Mehr, allerdings hinter eine Bezahlschranke: www.welt.de.
Der Religionsphilosoph Hartmut von Sass hat dem Landeskirchliches-Forum ein kluges Interview gegeben. Ich kann ihm nicht in allem zustimmen, aber seine Kritik an der Säkularisierung, auch an der in den Kirchen, ist solide. Trefflich vor allem ist seine Kritik an der Verzweckung des Glaubens, die sollte gelesen und durchdacht werden.
Hier zwei Zitate:
Habermas und andere, auch Christa Wolf, standen am Grab des Dichters. In der NZZ beschrieb er dann sein Unbehagen an der Leere dieser Szene. An der (von Frisch selbst verordneten) Rituallosigkeit und Beliebigkeit – die ihm nicht gerecht wird. Habermas blickt als säkularer Philosoph am Grab Frischs in sich hinein und fragt, was denn hier nicht stimmt. Und kommt zur Vermutung, dass der Symbol- und Sprachhaushalt der christlichen Religion – nicht nur am Grab, sondern vielleicht auch davor – eine wesentliche Rolle spielen könnte.
Ich stelle das in den weiteren Kontext des Statements des deutschen Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der katholische Rechtsphilosoph hielt in den 60er Jahren fest, dass der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht liefern kann. Habermas griff diese Doktrin auf seine Weise auf: Der Rechtsstaat nimmt auf etwas Bezug, darunter etwas Religiöses, Existentielles, nicht rechtsstaatlich Verfasstes, was selber aber zu den Bedingungen des gelingenden Rechtsstaates gehört.
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Da wird gesagt: Wir brauchen irgendetwas anderes, damit der Rechtsstaat funktioniert. Unter anderem die Religion. Also bauen wir sie bei uns ein. Das ist ungefähr so, als wenn man einen Ferrari fährt und etwas am Vergaser nicht funktioniert. Die Religion ist dann wie ein Modul, das zum gesamten Auto gehört – aber die anderen Teile haben damit gar nichts zu tun. Es wird eingebaut…
…
Das läuft alles unter der Verzweckungslogik: Solange die Kirchen bestimmte Zwecke erfüllen – Diakonie –, sind sie willkommen. Wenn nicht mehr, drehen wir den Hahn zu. Habermas ist nicht gut darin, das Eigentümliche, Unverwechselbare der Religion zu beleuchten – da wo sie widerständig ist, wo sie keine Zwecke erfüllt, sondern möglicherweise sogar der troublemaker ist.
Ich plädiere dafür, dass die Religion, auch die Kirche eine konstante Quelle der Irritation ist. Also nicht etwas, was sich einfügt und verzwecken lässt, sondern was eingefahrene Muster und Routinen aufbricht – das Gegenteil von Verzweckung.
Jürgen Habermas sagt über den Einfluss des Christentums auf die Moderne (Zeit der Übergänge, 2001, S. 174–175):
Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.
Am Dienstag hat Jürgen Habermas in München seine Philosophiegeschichte präsentiert. Dank Peter B. vom Bibelkreis München konnte ich dabei sein und ein paar Worte mit dem „Kritischen Theoretiker“ wechseln. Sein signiertes Werk Auch eine Geschichte der Philosophie liegt nun auf meinem Schreibtisch und ich hoffe, irgendwann einmal eine Besprechung liefern zu können. Immerhin geht es ja dem Autor darum, im nach-metaphysischen Zeitalter das Gespräch zwischen Glauben und Wissen fortzuführen.
Ein Theologe liest natürlich zuerst das Vorwort und wirft dann einen Blick ins Namenregister. Im Vorwort wird deutlich, dass Habermas von der Philosophie nicht mehr viel erwartet; sie erscheint ihm erschöpft (Bd. 1, S. 11–12):
Bisher konnte man davon ausgehen, dass es auch weiterhin ernstzunehmende Versuche geben wird, Kants Grundfragen zu beantworten: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« und: »Was ist der Mensch?«. Aber ich bin unsicher geworden, ob die Philosophie, wie wir sie kennen, noch eine Zukunft hat – ob sich nicht das Format jener Fragestellungen überlebt hat, sodass die Philosophie als Fach nur noch mit ihren begriffsanalytischen Fertigkeiten und als die Verwalterin ihrer eigenen Geschichte überlebt.
Beim Namenregister sticht hervor, dass Habermas sich mit einigen Theologen ausführlich auseinandersetzt. Besonders Augustinus, Aquin, Luther und Schleiermacher bekommen viel Raum. Wenn auch nicht so viel wie Kant, Hegel oder Marx. Das sollte man von einem Philosophen und Aufklärer auch nicht erwarten.
Im Blick auf Jesus übernimmt Habermas freilich die Unterscheidung zwischen dem verkündigenden und dem verkündigten Jesus. Der verkündigende Jesus von Nazareth war ein Wanderprediger, Exorzist und Wunderheiler. Mit Bultmann teilt er die Auffassung, dass der Nazarener eigentlich gar keine Religion oder Kirche gründen wollte. Der sich selbst aufopfernde Gottessohn ist eine Konstruktion aus dem zweiten Jahrhundert. Vor allem Paulus ist dafür verantwortlich, dass aus dem historischen Jesus ein heilbringender Christus geworden ist. „Paulus nimmt an der mythischen Herkunft der Vorstellung des ‚Opfertodes‘ so wenig Anstoß wie am Gedanken der Dreieinigkeit“ (Bd. 1, S. 505). Der Apostel – so Habermas – habe ein posthum eingetretenes Heilsereignis, das Jesus eigenen Worten noch nicht zu entnehmen war, reflexiv eingeordnet und rationalisierend verarbeitet (vgl. Bd. 1, S. 506).
Als Habermas dann die Botschaft des Paulus zusammenfasst, beschreibt er das Evangelium allerdings dermaßen schön, dass ich den Abschnitt zitieren möchte:
Im Mittelpunkt steht der bahnbrechende Gedanke, dass Gott mit dem stellvertretenden Opfer seines Sohnes der tätigen, aber aus eigener Kraft ohnmächtigen Reue der sündigen Menschheit zuvorkommt: »Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.« (Röm 5,8) Die Notwendigkeit für dieses unverdiente »Zuvorkommen« Gottes ergibt sich aus dem Umstand, dass die Menschen zu tief in Sünde verstrickt waren – viel zu tief, um auf Vergebung hoffen zu können, wenn Gott nur eine gerechte Abwägung ihrer eigenen Leistungen vornehmen würde. Es ist der in der Bibel selbst beschriebene heillose Verlauf der Geschichte des jüdischen Volkes, die den Juden Paulus in die prophetischen Worte einstimmen lässt: »Es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen; es gibt keinen Verständigen, keinen, der Gott sucht. Alle sind abtrünnig geworden, alle miteinander taugen nichts. Es gibt keinen, der Gutes tut, auch nicht einen Einzigen.« (Röm 3,10–12) Die von der adamitischen Erbsünde gezeichnete, in Sünde verstrickte Menschheit ist auch dort, wo sie unter dem Gesetz lebt, so schwach, dass sie der Vergebung aus Gnade bedarf. Während das Alte Testament Gehorsam gegenüber den mosaischen Gesetzen verlangt, überfordern die weiterreichenden Grundsätze der christlichen Liebesethik, das heißt Feindesliebe und unbedingte Vergebungsbereitschaft, die menschlichen Kräfte erst recht. Selbst der religiöse Virtuose versagt vor ihnen und ist auf die Gnade Gottes angewiesen. Daher konnte die Menschheit nur durch die Selbsthingabe Gottes gerettet werden, und darin besteht die Verheißung des Kreuzestodes: »Umsonst werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus.« (Röm 3,24) Wenn aber die gnadenbedürftigen Menschen derart »unter der Herrschaft der Sünde stehen« (Röm 3,9), muss sich auch das Verhältnis von Gesetzesgehorsam und Glaubenstreue verändern. »Glaubensgerechtigkeit«, und das ist die allein durch den Glauben an den gnädigen Gott zu erhoffende Rechtfertigung, erhält absoluten Vorrang vor der Werkgerechtigkeit. Und damit verändert sich auch der Heilsweg selbst: »Dass aber durch das Gesetz niemand vor Gott gerecht gemacht wird, ist offenkundig; denn: Der aus Glauben Gerechte wird leben.« (Gal 3,11)
Wenn doch mehr Menschen glaubten, dass diese Gute Nachricht vom Gottessohn und der Glaubensgerechtigkeit keine menschliche Projektion oder Konstruktion, sondern Wirklichkeit ist! Dann würde unsere Welt anders aussehen. Sie wäre stärker bestimmt von einer festen Hoffnung, die über das verbissene, autonome Verweilen im Hier und Jetzt hinausreicht. Der „Konsens der Experten“ (vgl. Konsenstheorie) kann die Wirklichkeit leider eben auch verbauen, sodass man auf die authentischen Zeugen der göttlichen Selbstmitteilung nicht mehr hört. Den Weltweisen bleibt oft verborgen, was Gott in seiner Gnade den einfachen Menschen schenkt. „Denn es steht geschrieben (Jesaja 29,14): ‚Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen‘“ (1Kor 1,19). Wie sagte schon Jesus: „Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): ‚Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet‘“?
Dominik Klenk beklagt in seinem Artikel „Wird die OJC gefällt, fallen bald auch andere“ die zunehmende Schikane, die jene trifft, die eine vom Mainstream abweichende Meinung vertreten. Anlass für seine Klage sind die Erfahrungen der OJC. Seit über einem Jahrzehnt werde versucht, die „Offensive Junger Christen“ (OJC) einzuschüchtern, weil die Kommunität mit ihrem „Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft“ homoerotisch empfindenden Menschen zur Seite stehe, die sich mit diesem Lebensstil nicht identifizieren und nicht schwul leben wollen.
Klenk:
Durch die Angst vor politischer, öffentlicher und jetzt vielleicht auch noch monetärer Ausgrenzung hat sich die Politische Korrektheit in Sachen Homosexualität fast flächendeckend wie ein Mehltau niedergelassen. Die vielzitierte Schweigespirale hat nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche gut im Griff. Klug scheint, wer zu diesem Thema schweigt und schluckt. Auf diesem Weg freilich verkümmert Luthers Kirche des Wortes zu einer hüstelnden Gemeinde ohne Klarheit, Kraft und Kurs.
Das Sprechverbote und Tabus inzwischen den öffentlichen Diskurs bestimmen, zeigt ebenfalls der Focus Money Redakteur Thomas Wolf in seinem herausragend mutigen Artikel “Political Correctness: Was darf man in Deutschland sagen – und was nicht?“. „Es gibt in Deutschland Tabus“, schreibt Wolf. „Wer gegen den Euro ist und dies öffentlich kundtut, hat in aller Regel einen schweren Stand. Gutmenschen jeglicher Couleur denunzieren Menschen mit eurokritischen Meinungen in Talkshows als europafeindlich und als Revanchisten.“ Nur das Christentum dürfe man ablehnen, weil der Papst die Pille verbiete und Priester im Zölibat lebten. Am Islam sei dagegen jede Kritik verboten, da dies fremdenfeindlich wäre.
Wolf erwähnt ebenfalls die „Schweigespirale“:
Eine anschauliche Erklärung für das Funktionieren eines Systems aus Tabus und Redeverboten lieferte bereits in den 70er-Jahren die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann in ihrer Theorie der Schweigespirale. Danach treibt den Menschen die Angst vor der sozialen Isolation um – keiner will in einer Gruppe oder der Gesellschaft außen stehen. Das hat seine guten Gründe: Schließlich sind wir als soziale Wesen auf die Gemeinschaft angewiesen, und wir leben auch gern in ihr. Um nur ja nicht ausgegrenzt zu werden, beobachtet der Einzelne ständig seine Umgebung auf der Suche nach der gerade vorherrschenden Meinung – und passt sich ihr dann an.
Dabei liegt doch auf der Hand, dass Tabus nur zur Verdrängung und Lähmung führen. „Sprachverbote und Zensur vergiften die geistige Atmosphäre und lähmen die lösungsorientierte Debatte. Statt zu Offenheit und Toleranz führt Politische Korrektheit zu Feigheit und Anpassertum.“
Thomas Wolf schreibt weiter:
Aber wo sind die Alternativen zur herrschenden Meinung und die neuen Denkansätze? Fehlanzeige! Wenn abweichende Meinungen nicht mehr geäußert werden, weil ihre Vertreter sofort als unmoralisch gegeißelt werden, versiegt bald jede Diskussion. Unter dem Einfluss von Political Correctness und Tabus entstand in der Bundesrepublik ein alternativloses politisches und intellektuelles Klima, das der Philosoph Peter Sloterdijk folgendermaßen beschreibt: „Ob einer sich zur Sozialdemokratie bekennt oder nicht, spielt schon längst keine Rolle mehr, weil es Nicht-Sozialdemokraten bei uns gar nicht geben kann, die Gesellschaft ist per se strukturell sozialdemokratisch, und wer es nicht ist, der ist entweder im Irrenhaus oder im Ausland. Es gibt keine ernsthafte Alternative dazu.“ Und tatsächlich redet heute alle Welt von Gerechtigkeit, wo doch nur Gleichheit gemeint ist; wird dem Kollektiv alles und dem Einzelnen immer weniger zugetraut und die Lösung der Probleme fast nur noch vom Staat erwartet.
Von der Offenheit, die von der 68er-Generation eingefordert wurde, ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Die ehemaligen Vorkämpfer gegen bürgerliche Zwänge widersprechen sogar ihren eigenen Dogmen. Mit dem „herrschaftsfreien Dialog“ des Sozialphilosophen Jürgen Habermas, eines Säulenheiligen der Linken, lassen sich sprachliche Tabus und Denkverbote jedenfalls schwer vereinbaren. Schließlich darf in diesem Dialog – der lange als Allheilmittel gegen jedwedes gesellschaftliche Übel galt – kein äußerer Zwang das Gespräch behindern.
Der Philosoph Jürgen Habermas disputierte in München mit dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf und signalisierte in diesem Zusammenhang mehr Sympathie für Dieter Henrich und Robert Spaemann als für die hermeneutische Philosophie.
Habermas, wie gesagt, redet in München kaltblütig. Und doch voller Behutsamkeit. Wie ein guter Chirurg, der nicht mehr weh tun möchte als nötig. Nein, sagte er zunächst noch ohne Chirurgenkittel an Heinrich Meier, den Stiftungs-Philosophen, gewandt – nein, es sei nicht so, wie Meier denke, dass er, Habermas, sich mit der Religion aus purem soziologischem Interesse befasse. Er prüfe sie vielmehr als Ressource für die Philosophie, für eine Philosophie, die nicht naturalistisch-szientistisch verengt sich selbst widerlege, sondern ihre semantischen Potentiale ausschöpfen möchte. Habermas signalisierte in diesem Zusammenhang mehr Sympathie für Dieter Henrich und Robert Spaemann als für den heideggerisierenden Giorgio Agamben, den er rundweg als Seher mit philosophischer Zipfelmütze betitelt. Tatsächlich scheint Habermas, zunächst paradox, aus Leidenschaft fürs Argument sich bei der Religion aufzuhalten.
Hätte er beispielsweise ein schöpfungstheologisches Argument wie die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zur Verfügung, dann könne er bestimmte Intuitionen, die er habe, leichter verteidigen. Aber solche Argumente stünden ihm nun einmal nicht zu Gebote.
Der von mir geschätzte Althistoriker Egon Flaig (siehe auch hier) hat kürzlich eine Polemik gegen die Habermas-Methode veröffentlicht. Anlässlich des inzwischen 25 Jahre alten »Historikerstreits« wirft er dem Sozialphilosophen vor, zu jener Zeit journalistische Tricks verwendet zu haben, »die sonst dem Lumpenjournalismus vorbehalten waren«. Es hätte, so Flaig, »keine Nachsicht geben dürfen, denn das Ausmaß der Zitate-Verkrümmungen war gigantisch«.
Der Streit um die deutsche Verantwortung bei der Judenvernichtung im Dritten Reich ist für Flaig allerdings auch Anlass, um allgemein eine Wissenschaft zu kritisieren, die sich von der Leitidee der Wahrheit verabschiedet hat. Die Suspendierung des Diskurses über Wahrheitsansprüche führt nach Flaig zu einer Atmosphäre der Denkverbote und moralischen Diffamierungen. Originalton (FAZ vom 13. Juli 2011, Nr. 160, S. N4):
Wir sind Zeugen geworden eines Kulturbruchs, nämlich einer weitgehenden Negierung der Errungenschaften des Griechentums. Da die Verbindlichkeiten nicht mehr über den Streit entlang von Wahrheitsregeln herstellbar sind, müssen neue, ganz anders geartete Verbindlichkeiten moralisch erzwungen werden. Daher die pestartige Virulenz der Political Correctness und des Gutmenschentums mit seiner spezifischen Intelligenz. Die moralischen Diffamierungen müssen folglich immer mehr zunehmen. Bequemer als das logon didonai [Anm.: Diese griech. Formulierung, die wörtlich mit »Sprache o. Rede geben« zu übersetzen ist, spielt auf das plantonische Ideal eines philosophierenden Menschen an, der Rechenschaft ablegt für das, was der sagt.] ist die habermassche Diskursethik: Audacter calumniare, semper aliquid haeret [Anm.: lat. für »nur keck verleumdet, etwas bleibt immer hängen«].
Am 22. Oktober kam es zu einem Zusammentreffen von Judith Butler, Charles Taylor, Cornel West und Jürgen Habermas. Das Symposium »Rethinking Secularism: the Power of Religion in the Public Sphere« bot folgende Vorträge an:
Judith Butler: Is Judaism Zionism? Religious Sources for the Critique of Violence
Jürgen Habermas: »The Political« – The Rational Sense of a Questionable Inheritance of Political Theology
Charles Taylor: Why We Need a Radical Redefinition of Secularism
Cornel West: Prophetic Religion and The Future of Capitalist Civilization …
Mitschnitte der Vorträge können hier gehört werden: blogs.ssrc.org.
Interessant fand ich eine Diskussion zwischen dem Agnostiker Jürgen Habermas und dem Kommunitarist Charles Taylor. Eine (allerdings sehr schlechte) Tonaufnahme davon sowie eine Transkription gibt es hier: blogs.ssrc.org.