Martin Hengel

Martin Hengel: Jesus als Vollender

Martin Hengel schreibt („Jesus und die Tora“, Theologische Beiträge, Jahrgang 9, 1978, S. 152–172):

Seine endzeitliche Funktion macht nach dem Urteil Jesu den Täufer zu dem Größten unter den vom Weibe Geborenen, „aber der Kleinste in der Gottesherrschaft ist größer als er“ (Mt. 11,11–Lk. 7,28). Ganz gleich wie dieses rätselhafte Wort Jesu zu deuten ist, ob auf Jesus selbst oder auf die, die an der Gotte herrschaft teilhaben, es zeigt ebenfalls das qualitativ Neue, Andersartige, das mit der Zeit der Erfüllung, dem Anbruch der Gottesherrschaft verbunden ist. Da kommt auch in dem Makarismus Jesu zum Ausdruck „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht (und die Ohren, die hören, was ihr hört), denn ich sage euch, viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und wollten hören, was ihr hört, und hörten es nicht“ (Lk. 10,23 f.). Das Sehen und Hören bezieht sich auf Jesu Taten und Worte, die selbst schon Teil der Erfüllung sind. Denn mit seinem Auftreten ist die Gottesherrschaft schon im Anbruch: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft zu euch gekommen“ (Lk. 11,20). Sie „kommt nicht mit der Beobachtung (äußeren Vorzeichen)“, denn sie „ist mitten unter euch“ – in der Person Jesu, ihr begreift es nur nicht (Lk. 17, 20 f.). Die Kontrastgleichnisse zeigen gerade im Kontrast auch die Kontinuität zwischen dem äußerlich unscheinbaren Wirken Jesu und der Vollendung der Gottesherrschaft „in Kraft” (Mk. 9,1). Das bedeutet aber, daß es ein grundlegender Irrtum war, in Jesus eine nichtmessianische Gestalt zu vermuten, in ihm den bloßen „Rabbi und Propheten“ sehen zu wollen. Auch die von Conzelmann eingeführte Kategorie des „letzten Rufers“ (RGG3 3,633) reicht nicht aus, sie sollte eher auf den Täufer bezogen werden. Jesus tritt nicht mit dem Anspruch auf, letzter Rufer, sondern – messianischer – Vollender zu sein. 

Die Rückkehr der Augenzeugen

Rainer Riesner beschreibt in dem Aufsatz „Die Rückkehr der Augenzeugen“ einen neuen Trend in der Evangelienforschung: Einige Neutestamentler bringen die These wieder ins Gespräch, dass hinter der Evangelien-Überlieferung Augenzeugen stecken. Obwohl die Darstellung bereits 2007 erschienen ist, lässt sie sich nach wie vor gut lesen.

Besonders gefällt mir folgender Satz:

Martin Hengel hat eine neue Würdigung des Lukas-Prologs vorgelegt, und wie so oft bei diesem Autor kann man aus diesem einen Artikel mehr lernen als aus mancher Monographie.

Den Aufsatz gibt es hier: ThBeitr_2007-6_Riesner_Rueckkehr_der_Augenzeugen.pdf.

Hengel: Geschichte des frühen Christentums

201011051953.jpgDas Buch:

  • Martin Hengel u. Anna M. Schwemer: Geschichte des frühen Christentums, Bd. 1: Jesus und das Judentum, Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 749 S.

ist ein wichtiger Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Der große, im vergangenen Jahr verstorbene, Martin Hengel (vgl. hier), formuliert in diesem Buch radikale Einwände gegenüber der bultmannschen Formkritik und Theologie. Paul Metzger (Mainz) resümiert in seiner Rezension des Buches verblüfft:

Insgesamt erstaunt des Öfteren, wie sehr die Autoren den biblischen Texten vertrauen. Gerade was das Selbstverständnis Jesu als Opferlamm angeht, sind Bedenken anzumelden. Allerdings schmälern die benannten Differenzen den Ertrag des Buches keineswegs. Wie fast alle Untersuchungen Hengels ist auch dieses Werk ob des immensen Quellenwis-sens und der geschlossenen, thesenfreudigen Darstellung lesenswert. Gerade seine oft steilen Anschauungen, die großzügig historische Lücken mit Hilfe von phantasievollen Arbeitshypothesen überbrücken können, sind eine stetige Herausforderung für das eigene Denken. Auf die weiteren Bände der »Geschichte des frühen Christentums« darf der Leser sich freuen.

Hier gibt es die vollständige Rezension: 2008-2-058.pdf. Das Buch gibt es natürlich auch, aber nicht gratis oder günstig, sondern nur für (satte) 99,00 Euro.

Martin Hengel – kurze Meldung in der FAZ

mh.jpgEs ist schon merkwürdig: Einer der weltweit bedeutendsten Experten für Literatur des Urchristentums und antiken Judentums, Prof. Martin Hengel, ist gestorben (siehe hier), aber außerhalb der Schwäbischen Presse wird in Deutschland kaum darüber berichtet. Wenigstens die FAZ hat einen kurzen ›Nachruf‹ veröffentlicht (FAZ Nr. 153, 6. Juli 2009, S. 28). Darin heißt es unter anderem:

In seiner Habilitationsschrift zu »Judentum und Hellenismus« weist er den Einfluss des Hellenismus auf die spätere jüdische Gesellschaft nach. Mitte der sechziger Jahre waren solche Studien vollkommen unüblich, trugen Hengel aber weit über die Grenzen der Theologie hinaus auch Anerkennung bei Althistorikern und Altphilologen ein …

Auf den Vorwurf, allzu gutgläubig gegenüber den frühchristlichen Quellen zu sein, hat Hengel geantwortet, was als mutige Kritik der Überlieferung erscheine, sei in Wirklichkeit oft erfahrungsblaser »Schreibtischdogmatismus«. Unter der wachsenden theologischen Unbildung und Unkenntnis der alten Sprachen hat er zunehmend gelitten und 1993 mit der von ihm gegründeten Philipp-Melanchton-Stiftung entgegenzuwirken versucht.

Ich hoffe sehr, dass viele Schüler ihrem Lehrer folgen. Die bekenntnisorientierten Kreise sollten die Sorge Hengels ernst nehmen und das Studium der biblischen Sprachen beleben. Der flache Pragmatismus, der gelegentlich (auch in den Ausbildungsgängen) eingezogen ist, hat keine Zukunft.

Nachtrag: Roland Deines, selbst Schüler von M. Hengel, hat für die Society of Biblical Literature einen englischsprachigen Nachruf verfasst:  www.sbl-site.org. [Den Hinweis auf den Text verdanke ich Alexander!]

Martin Hengel zur Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte

Ich stelle das von Alexander gepostete Zitat von Martin Hengel hier nochmals ein, da es Hengels Hochachtung vor den antiken Quellen exzellent zum Ausdruck bringt.

Martin Hengel schrieb im Jahre 1998:

Wir wissen zu wenig, als daß wir es uns leisten könnten, in hyperkritischer und d.h. zugleich geschichtsfeindlicher Attitüde Quellenaussagen ohne genau ins Detail gehende Prüfung von vornherein zu verwerfen, d.h. wertvolle, da spärliche Quellen vor eingehender Prüfung zu ›zerstören‹. Dies geschieht, wenn man Lukas ohne wirkliche Begründung vorwirft, er habe diese oder jene Fakten frei erfunden. Eine derartige Haltung müßte heute, nach über 200 Jahren ›historisch-kritischer‹ Arbeit am Neuen Testament und den damit verbundenen Sünden, eher als unkritisch-unhistorisch bezeichnet werden. Die eigentliche Gefahr in der (Evangelien- und) Actaauslegung ist nicht mehr eine ängstliche Apologetik, sie führt inzwischen in der wissenschaftlichen Arbeit weithin ein Schattendasein, sondern die hyperkritische Ignoranz und Arroganz, die – oft in Verbindung mit einer enthemmten Phantasie – jedes Verständnis für die lebendige geschichtliche Wirklichkeit verloren hat.

Die Apostelgeschichte halten wir gegen eine verbreitete Anti-Lukas-Scholastik für ein Werk, das bald nach dem 3. Evangelium von Lukas dem Arzt verfaßt wurde, dem Reisebegleiter des Paulus ab der Kollektenreise nach Jerusalem. D.h., sie ist, zumindest zum Teil, als Augenzeugenbericht für die Spätzeit des Apostels, über die wir aus den Briefen nur wenig erfahren, eine Quelle aus erster Hand.

Martin Hengel (1926–2009)

41Evpr1nrzL._SL160_.jpgDer emeritierte Professor Martin Hengel ist heute Nacht in Tübingen im Alter von 82 Jahren verstorben. Der evangelische Theologe war von 1972 bis 1992 Professor für Neues Testament und Antikes Judentum an der Universität Tübingen. Über viele Jahre leitete er das Institut für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte der von ihm gegründeten Philipp-Melanchthon-Stiftung.

Hengel, der an den Forschungen Adolf Schlatters anknüpfte, war einer der bedeutendsten Neutestamentler und größten Paulusforscher im 20. Jahrhundert. In seinem großen Werk Judentum und Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus wies Hengel nach, dass das antike griechische Denken bereits zu Lebzeiten Jesu weite Teile des Judentums durchdrungen hatte. Er bestritt somit die nachträgliche Hellenisierung und Verfremdung des jüdisch-christlichen Glaubens, die in den Arbeiten von Adolf von Harnack oder Rudolf Bultmann vorausgesetzt wurde.

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