Marxismus

Der Sozialismus kehrt zurück

In vielen westlichen Ländern vollzieht sich eine Entwicklung, die schleichend und weitgehend unbemerkt geschieht: die Rückkehr des Sozialismus. Damit ist nicht die vollständige Verstaatlichung von Unternehmen und Fabrikanlagen gemeint, wie sie Karl Marx forderte. Soweit sind wir noch nicht. Aber die völlige Gleichheit und soziale Gerechtigkeit werden zunehmend über die persönliche Freiheit gestellt. Die „Gesellschaft“, was auch immer das ist, soll die Probleme lösen. 

Wie kommt es zu dieser Rainessance? Morten Freidel schreibt in der NZZ:

Ein Grund ist, dass die Kargheit und die Grausamkeit sozialistischer Staaten in Vergessenheit geraten. Die Millionen Toten, die Stalin und Mao auf dem Gewissen haben, werden zu einer abstrakten Kennziffer. Die Schrecken des Sozialismus verblassen, seine Verheissungen erstrahlen dafür in den leuchtendsten Farben. Das erklärt seinen Aufstieg aber nur teilweise.

Der eigentliche Grund liegt tiefer: Viele Menschen haben vergessen, was Freiheit wirklich bedeutet. Das liberale Prometheus-Institut fragte junge Deutsche vor wenigen Tagen in einer repräsentativen Umfrage, wie sie dazu stehen. Auf den ersten Blick war ihnen die Freiheit besonders wichtig. Aber dieser Eindruck täuscht.

Was junge Leute unter Freiheit verstehen, hat damit nur bedingt etwas zu tun. Sie sahen darin vor allem die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, zum Beispiel zu reisen. Seltener hingegen die Abwesenheit von Zwang und Verantwortung für das eigene Handeln. Mit anderen Worten: Viele junge Menschen lehnen die Zumutungen der Freiheit ab. Sie wollen frei sein, aber nicht für ihre Entscheidungen haften. Nur ist eine Freiheit ohne Haftung keine. Sie führt direkt in die Vormundschaft des Staates.

Mehr: www.nzz.ch.

Ein Echoraum des puren Irrsinns

Joachim Küpper, Professor für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, hat in der WELT die Cancel-Culture wuchtig kritisiert. Er fragt auch, wie es soweit kommen konnte. Seine Antwort ist sehr interessant: 

Wie konnte es dazu kommen, dass sich das Territorium der heutigen kulturellen Debatten zu einem Echoraum des puren Irrsinns entwickelt hat? Es gibt politische Megatrends mit langer Vorgeschichte, die hier konditionierend sind. Mit dem Christentum ist der Gedanke universeller Gleichheit in die Welt gekommen – ein Gedanke, der, trotz Nietzsche, für sich genommen zunächst einiges für sich hat. Als im 18. Jahrhundert der Glaube an die wörtliche Wahrheit der Bibel schwand und der industriell produzierte diesseitige Fortschritt einsetzte, wurde die Vorstellung einer Rückkehr ins verlorene Paradies säkular.

Nach einigen Geburtswehen war der Marxismus geboren, 1917 gelang es per Staatsstreich, den Gedanken in die Wirklichkeit zu zwingen. Nach dem von rechtsaußen gestarteten, gründlich gescheiterten Versuch, das kommunistische System mit Waffengewalt zu beseitigen, breitete es sich über die halbe Welt aus. Die Erfolge danach aber blieben mäßig. Es drohte Stagnation. Erst mit Kuba, dann mit diversen Eskapaden auf dem lateinamerikanischen Festland versuchte man, die Revolution von der Peripherie her in die Metropolen zu tragen. Auch das misslang gründlich.

Nach dem Scheitern einer schleichenden kommunistischen Machtergreifung 1973 in Chile stellte der für Internationales zuständige sowjetische Chefideologe Boris Nikolajewitsch Ponomarjow die Diagnose, die Linke könne in entwickelten Gesellschaften die Macht nicht erobern, wenn sie nicht zuvor die Diskurshoheit, vulgo: die Medien und die Universitäten, erobert habe. Theoretisch vorgedacht hatte dies Antonio Gramsci, das heißt eine weniger anrüchige Figur als der Moskauer Ideologieverantwortliche. Dies machte es der westlichen Linken möglich, das Programm der Eroberung des Überbaus, die Inversion des klassischen Marxismus, zu übernehmen.

Mehr hier, allerdings hinter einer Bezahlschranke: www.welt.de. Zu Antonio Gramsci ist hier etwas zu finden: www.evangelium21.net. Zu Antonio Gramsci und den Kulturmarxismus hat Hanniel mal einen Vortrag gehalten, der hier nachgehört werden kann: soundcloud.com.

Die tödliche Versuchung

Markus Somm hat für die Basler Zeitung die lange Blutspur des Kommunismus nachgezeichnet. Das fatale Experiment hat wahrscheinlich 100 Millionen Menschen das Leben gekostet. Trotzdem hat der Kommunismus Intellektuelle angezogen und er tut es immer noch. Die Sowjetunion war der erste Staat, der Gott abschaffte und dessen Führung sich gleichzeitig für unfehlbar erklärte.

Lenins Putsch von 1917 bleibt eine der grössten Tragödien der Menschheitsgeschichte. Es war ein tollkühner, brutaler Coup, auf den das permanente Massaker folgte, das man als Kommunismus bezeichnete, und dank dem unzählige Linke, oft Söhne und Töchter aus bestem Hause wie Daniel Vischer, die alle Vorzüge des Kapitalismus kannten, sich eine gerechtere Welt erhofften. Doch selten haben Menschen anderen Menschen so viel Schlimmes, Grausames, Entsetzliches angetan, im Glauben, so das Los der Menschheit zu verbessern. Wie viele Menschen die Kommunisten in der Sowjetunion, in China, Vietnam, Kambodscha, Nordkorea, Kuba, Osteuropa oder Afrika umgebracht haben, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor. Unbestritten ist, dass es mindestens 65 Millionen waren, die starben, wahrscheinlich gingen gar 100 Millionen Menschen daran zugrunde. Die grössten Mörder hiessen Lenin, Stalin, Mao Zedong und Pol Pot, ihnen assistierten Abertausende kleiner Mörder.

Mehr: bazonline.ch.

Standort-Liberalismus

Seth Frantzman von der Jerusalem Post fragt, weshalb so viele westliche Linke die Extremen in fremden Ländern mögen:

Wenn die Geschichte des Westens geschrieben wird, wird sie lauten: Sie erzogen sich dazu, sich selber zu hassen und am anderen zu lieben, was sie an sich selber hassen.

Von einer ziemlich einheitlichen Basis ausgehend, akzeptieren Menschen im Westen Werte des Auslandes, die sie zu Hause ablehnen würden. Dies zeigt sich besonders merkwürdig und widersprüchlich unter denen, die sich als „links“ oder „liberal“ betrachten und dann aber Bewegungen, Staatschefs, Ideologien und Religionen, die nachweislich intolerant bzw. rechtsextrem sind, gutheißen. So äußerte etwa die amerikanische Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler im Jahr 2006, dass es extrem wichtig sei „die Hamas (und) Hisbollah als soziale Bewegungen, die fortschrittlich, links und Teil der globalen Linken sind, zu verstehen.“

Dieser widersprüchliche Blick ist bezeichnend für ein Phänomen, das von Michel Foucaults Akzeptanz der Islamischen Revolution im Iran bis hin zu jenen „Anti-Kriegs“-Aktivisten in Großbritannien reicht, die den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sowie die russischen Bomben auf Zivilisten befürworten.

Mehr: juedischerundschau.de.

Sozialreligion ist stärkste Konfession

Studien belegen, dass sozialreligiöse Irrlehren in Deutschland hohe Popularität genießen. Der Alarmismus gegenüber allem, was „rechts“ ist, lässt den Linksradikalismus als salonfähig durchgehen. Ulf Poschardt schreibt für DIE WELT:

Die Kirchen leeren sich, doch die Moral der linken Kirchentage hat die Werteserienausstattung der Deutschen erreicht und ersetzt. Links ist normal. Deshalb sind die Befunde der jüngsten Studie über die Popularität linken Gedankenguts weniger in ihrer Tendenz als in ihrer Wucht beeindruckend. Die Wiedervereinigung machte das Land protestantischer und atheistischer. Die Gläubigen des Sozialismus und die Frömmler des Kommunismus geben im Osten weiter den Ton an.

Doch der Glaube an die Revolution als eine gute Sache ist landesweit fast ebenso mehrheitsfähig, ebenso wie die rührende Einschätzung, dass Sozialismus wie Kommunismus gute Sachen seien, die bislang nur schlecht ausgeführt wurden. Eine satte Mehrheit hält die Demokratie durch die Macht der Wirtschaft für beschädigt.

Mehr: www.welt.de.

Friedrich Engels Abkehr vom Pietismus

Friedrich Engels stammt aus einer pietistischen Familie. Er wurde am 28. November 1820 in Barmen, heute ein Stadtteil Wuppertals, als Sohn eines erfolgreichen Fabrikanten geboren. Noch vor dem Abitur verließ er auf Wunsch des Vaters das Gymnasium und begann eine kaufmännische Ausbildung. 1850 begab er sich auf Dauer nach Manchester. Er arbeitete in einer Fabrik, die zur Hälfte seinem Vater gehörte. Auf dem Wege der Erbfolge wurde er später Miteigentümer und lebte in London.

Der folgende DLF-Beitrag schildert eindrücklich Friedrich Engels Abkehr vom Pietismus.

Zwei kurze Anmerkungen dazu:

(1) Bildungsfeindliche Frömmigkeit. Zur Zeit Engels predigte der große Friedrich Wilhelm Krummacher, der damals Pfarrer in Barmen-Gemarke und Elberfeld war. Unter Krummacher kam es zu aufrichtigen Erweckungen. Leider wurde unter seinem Einfluss aber auch eine unkritische Kulturfeindlichkeit gefördert, unter der insbesondere junge, neugierige Kirchgänger zu leiden hatten. Nicht jede Vergnügung ist Weltliebe und damit verwerflich. Nicht die Verteuflung weltlichen Lebens, sondern die christliche Durchdringung sollte das Anliegen der Prediger sein.

(2) Gespaltene Frömmigkeit. Engels erkannte früh, dass die pietistischen Unternehmer ihre Angestellten, zu denen damals auch Kinder gehörten, schlechter behandelten als umfromme Fabrikanten. Überspitzt: Die frömmsten Fabrikanten waren herzlose und ausbeuterische Arbeitgeber. Ähnliche Eindrücke bekam Engels später in England.

Obwohl ich bezweifle, dass das so pauschal ausgesagt werden kann, hatte ich schon manchmal, wenn ich dazu etwas bei Marx oder Engels las (siehe z.B. Das Kapital), das Empfinden, beide trieb dieses Problem wirklich um und vertiefte verständlicherweise ihre Solidarität mit dem „Proletariat“. Obwohl ein Fabrikant naturgemäß unternehmerisch denken und handelt muss, gilt: die Abspaltung des frommen Lebens vom Alltagsgeschäft ist dem Zeugnis des Glaubens nie förderlich. Jesus Christus möchte Herr im gesamten Leben sein. Kritischer Prüfstein ist nicht der Kirchgang, sondern der Alltag.

Hier der Beitrag:

Neusprache

Liest jemand – wie ich derzeit – das empfehlenswerte Buch Die Pädagogik der Neuen Linken (München/Basel, 5. Aufl., 1980), kommt er möglicherweise gelegentlich ins Staunen darüber, wie exakt Wolfgang Brenzinka die Umerziehung der Schüler (von denen heute übrigens etliche Lehrer sind) vorhergesehen hat.

Als Beispiel sei das geforderte soziologisch-politische Vokabular angeführt. Bewusstseinsänderungen werden nämlich insbesondere durch die Schaffung einer neuen Sprache erreicht:

Was hier geschieht, ist eine ideologische Unterwanderung mittels sprachlicher Unterwanderung. MARCUSE hat diese Politisierung der Sprache als »linguistische Therapie« (der seiner Ansicht nach »kranken« liberalen Wohlfahrtsgesellschaft) bezeichnet und gefordert, das soziologische und politische Vokabular systematisch umzuformen: »Es muß seiner falschen Neutralität entkleidet werden; es muß methodisch und provokatorisch im Sinne der Weigerung ›moralisiert‹ werden« .

Zur Methode der Bewußtseinsverengung gehört neben der Umdefinition von Wörtern auch die Einführung neuer Wörter und die Ausscheidung unerwünschter Wörter. Beispiele für neue Wörter sind »Establishment« für die politisch negativ bewertete Führungsschicht der Gesellschaft; »go in«, »sit in«, »teach in« für Formen des Hausfriedensbruches oder der Nötigung, die verharmlost werden sollen; »umfunktionieren« für die Zweckentfremdung von Einrichtungen oder Veranstaltungen; »verunsichern« für eine Technik der Einschüchterung politischer Gegner; »Technokrat« für Wissenschaftler, Techniker und Verwaltungsfachleute, die im Rahmen der gegebenen Gesetze zweckrational zu handeln bemüht sind, statt die Normen ihrer Gesellschaft abzulehnen und für den Umsturz zu arbeiten.

Beispiele für unerwünschte Wörter, die aus der Sprache der Neuen Linken verbannt werden , sind »Verantwortung«, »Vertrauen«, »Höflichkeit«, »Anstand«, »Ehrfurcht«, »Dankbarkeit«, »Bescheidenheit«, »Fleiß«, »Treue«, »Gehorsam«, »Zucht«, »Auslese«, »Selbstdisziplin«, »Sitte«, »Autorität«, »Pflicht«, »Ordnung«, »Gemüt«, »Heimat«, »Vaterland«, »Nation« , »Wehrbereitschaft« usw.

Alle diese Techniken zur sprachlichen Unterwerfung einer Gesellschaft durch Einführung einer »Neusprache« (»newspeak«) sind bereits von ORWELL in seiner Zukunftsvision vom totalitären sozialistischen Staat »1984« geschildert worden. Der Zweck der »Neusprache« ist es, alle von der sozialistischen Ideologie abweichenden Denk- und Ausdrucksweisen unmöglich zu machen. Neben den erwähnten Techniken der Umdefinition vorhandener, der Einführung neuer und der Ausschaltung unerwünschter Wörter wird ganz allgemein die Verminderung des Wortschatzes als wesentlich angesehen. Indem die Möglichkeiten der Wortwahl auf ein Minimum beschränkt werden, hofft man auch das Denken auf jene Gegenstände einschränken zu können, die von der Ideologie zugelassen werden.

Mein Eindruck ist, dass ebenfalls in der kirchlichen Verkündigung durch Sprachinquisitoren etliche Begriffe auf einem Index unerwünschter Wörter gelandet sind. Ich denke da beispielsweise an: göttlicher Zorn, Erwählung, Gericht, Hölle, Strafe, Gehorsam, (Unter)Ordnung, Selbstverleugnung, Stellvertretung, Sühne, … Als ob die Heilige Schrift diese Themen verberge.

Heidegger und Marx

Heidegger glaubte in seinem Fernsehinterview von 1969 Karl Marx’ 11. These über Feuerbach widerlegt zu haben. Marx schreibt dort:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“

Heidegger behauptet, dieser Satz erweist sich als nicht fundierter Satz.

„Er erweckt den Eindruck, als sei entschieden gegen die Philosophie gesprochen, während im zweiten Teil des Satzes gerade unausgesprochen die Forderung einer Philosophie vorausgesetzt ist.“

Er will damit also sagen, die Veränderung der Welt setzte ihre Interpretation voraus. Kurz: Eine Veränderung der Welt ohne Philosophie gibt es nicht!

Nun sehe ich ebenso wie Heidegger, dass Weltveränderung Verstehen und Deutung voraussetzt (d.h. „Weltvorstellung“). Um ein Beispiel zu gebrauchen: Auch ein kommunistischer Diktator, der die Herrschaft über eine Region an sich reißen möchte, handelt gemäß seiner (falschen) Interpretation der Welt.

Trotzdem glaube ich nicht, dass Heidegger mit seiner „Marxkritik“ recht behält. Marx hat nämlich gar nicht behauptet, dass die Welt keine Ausdeutung braucht. Er wandte sich gegen eine Philosophie, die beim Interpretieren stehenbleibt. Also beispielsweise gegen Hegel, der sagte: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (aus der „Vorrede zur Rechtsphilosophie“). Ein Linkshegelianer verstand und versteht diese Aussage als handgreifliche „Heiligsprechung alles Bestehenden“ (so Friedrich Engels in „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“).

Marx wandte sich nicht gegen die Philosophie allgemein. Sein Tadel zielt auf eine Philosophie ab, die ähnlich wie die Religion Menschen vermeintlich narkotisiert und somit daran hindert, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, z. B. indem eine Revolution angezettelt wird.

Ob nun die in der Tradition von Marx und Engels entwickelte dialektische Philosophie die Welt richtig interpretiert, steht auf einem anderen Blatt.

Hier die Stellungnahme Heideggers:

Gotteslob als Berufung des Menschen

Horst W. Beck in: Marxistischer Materialismus im Schafspelz der Wissenschaft (Wuppertal, 1975, S. 16–17.):

Der biblische Glaube beginnt in der Geschichte der Menschheit mit einer unableitbaren und eigenständigen Gotteserfahrung einer „erwählten“ und kleinen Menschengruppe. Der „Gott Abrahams, Isaacs und Jakobs“ ist nicht der Gott der frommen Spekulation oder gar, wie man moderner zu sagen pflegt, das Produkt eines aus Angst vor unbewältigten Mächten einen Übermächtigen projizierenden Bewusstseins, noch der „Gott der Philosophen“.

Der in der Bibel bezeugte Gott tritt Menschen überraschend in den Weg; er beruft und erwählt. Er macht seinen Willen kund und stellt erwählte Menschen in einen Auftrag und einen Spannungsbogen von Verheißung und Erfüllung. Menschen, die auf die sie bergende und fordernde Gotteserfahrung und seine Verheißung im Glaubensgehorsam, in der Anbetung, im Vertrauen und Hoffen antworten, bekommen folgerichtig eine neue Sicht: von der Menschheitsgeschichte, vom einzelnen in seiner Stellung zu Gott sowie von der gesamten Kreatur, der Erde, der Gestirne, des Alls. Die Qualifizierung von Mensch, Kreatur und übriger Lebenswelt ist einmalig in der Völkergeschichte. Die ganze Kreatur und Natur wird geschaut als das „Geschaffene“. Die Geschichte der Welt und des Menschen haben einen von Gott gesetzten Anfang und erfüllen sich in einem von Gott gesetzten Ziel. Die Gestirne und die Naturgewalten werden entgöttert und entzaubert. Das ist ein Vorgang, der beispiellos ist in der Religionsgeschichte. Der Mensch ist geschaffen zum Verwalter der Schöpfung und zur Anbetung! Hier gilt es einem verbreiteten „christlichen“ Mißverständnis zu wehren: Des Menschen letzte Bestimmung liegt nicht im Beherrschen des Geschaffenen, sondern im Gotteslob im Einklang mit der ganzen übrigen Schöpfung (1. Mose 1,28).

Was in der biblischen „Ur“-Geschichte freilich „erzählt“ wird (1. Mose 1—11), nämlich daß es nur von Gott Geschaffenes gibt, daß ein Anfang ins Dasein gerufen wurde, daß der Mensch zum anbetenden Partner und Schöpfungswalter berufen ist, daß er in seiner Berufung scheitern kann und gescheitert ist, daß deshalb der Schöpfung dem Menschen seinen Lebensraum wieder entziehen kann als Gericht (1. Mose 6—8); ja, daß die ursprünglich „paradiesisch“ gewollte Schöpfung der Zweideutigkeit und Nichtigkeit unterworfen wurde (1. Mose 3; Römer 8) und daß der Mensch aus eigener Kraft das Paradies nicht mehr schaffen kann (1. Mose 11), sondern daß die ganze Kreatur, Getier, Mensch und All auf Erlösung und Wiederherstellung harrt, ja sich nach Erlösung sehnt und unter dem Todesbann seufzt (Römer 8), — das alles ist ein Wissen, ein „Ur“-Wissen, das nicht mit der Schärfe des Verstandes ergründet oder gar durch wissenschaftliche Forschung „bewiesen“ worden wäre oder werden könnte. Es ist dem glaubenden Menschen geschenkte Einsicht, wörtlich: „Offenbarung“.

Weder Mann noch Frau

Der sympathische Heinz-Jürgen Voß beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Dekonstruktion binärer Geschlechterdifferenz und möchte den postmodernen Gendertheorien eine biologische Verankerung zuschreiben. Kurz: Judith Butler geht mit ihrer Konstruktion des sozialen Geschlechts nicht weit genug. In einem Beitrag für die marxistisch–feministisch–linksradikale Zeitschrift ak – analyse & kritik, die Zeitung für linke Debatte und Praxis schreibt Voß (Nr. 547 vom 19.2.2010):

Die im folgenden dargelegte Kritik an Butlers Ansatz bezieht sich jedoch darauf, dass er nicht weitreichend genug ist. Butler verblieb auf der Ebene von „Erscheinungen“, auf der Ebene performativer Herstellung. Butler führte exzellent aus, dass Merkmale, dass Körper erst in Gesellschaft gelesen werden und dass damit geschlechtliche Deutungen auch gesellschaftliche sind. Diese These ist durch die historischen Arbeiten von Thomas Laqueur, Londa Schiebinger und Claudia Honegger gut belegt – so wandelten sich zeitlich die körperlichen (physiologischen und anatomischen) Merkmale, die als geschlechtlich gelesen wurden. Lange Zeit wurden weibliche und männliche Zeugungsstoffe gleichermaßen als „Samen“ beschrieben, z.T. mit Unterscheidung der Qualität; sie wurden allerdings nicht als binär und gegensätzlich wahrgenommen, wie es heute oftmals geschieht.

Mit der Betonung performativer Akte erscheinen Deutungen als gesellschaftlich, allerdings bleiben Körper und Organe – vermeintlich vorhandene Materialität, die anfassbar sei – unangetastet. Auch mit Butlers Ausführungen bleiben in der öffentlichen – populären und wissenschaftlichen – Debatte „Gebärmutter“, „Vagina“, „Klitoris“, „Eierstock“, „Penis“, „Hodensack“, „Hoden“ Bezeichnungen für scheinbar sichere, tatsächlich vorhandene Organe, die zur gut begründeten Einteilung von Menschen in „Frauen“ und „Männer“ bei wenigen „Abweichungen“ herangezogen werden könnten. Die derzeitige gesellschaftliche Deutungsweise von körperlichen Merkmalen als binär-geschlechtliche erscheint als selbstverständliche, die sich beim Lesen der „natürlichen Vorgegebenheiten“ aufdränge.

Die Entwicklung der Geschlechterdifferenz wird von Voß marxistisch als ein „gesellschaftliches Produkt“ interpretiert. Die binäre Unterscheidung von männlich und weiblich dient der Verfestigung von kapitalistischen Unterdrückungsstrukturen. Sie gaukeln uns Menschen Sicherheit und Eindeutigkeit vor, stehen jedoch tatsächlich der Wahrnehmung ureigenster Bedürfnisse im Weg. Also (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, Soziologie Magazin, 1/2013, Jg. 6, S. 87–91, hier S. 88–89):

Produkte, Institutionen, Kategorien führen bereits von eigentlichen Bedürfnissen von Menschen weg – und führen letztlich dazu, dass wir als Menschen gar nicht (mehr) in der Lage sind, unsere Bedürfnisse außerhalb von Produkten, Institutionen und Kategorien zu formulieren. Bezogen auf Geschlecht heißt dies, dass wir gar nicht in der Lage sind, unsere Begehrensweisen, unsere vielfältigen Bedürfnisse auf Menschen zu richten, ohne diese Menschen zuvor in ein Korsett „weiblich“ oder „männlich“ zu zwängen.

Für die Befreiung des Menschen ist die Entkategorisierung des Geschlechts damit ein Politikum (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, S. 91):

„Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ wird damit einmal mehr als gesellschaftliches Produkt augenscheinlich. „Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ ist wandelbar und es rückt so auch die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne „Geschlecht“ in den Bereich des Denkbaren. Zumindest gibt es keinen, aber auch gar keinen Grund an „Geschlecht“, dieser gesellschaftlichen Kategorie/Institution, mit der historisch so viel Diskriminierung, Benachteiligung, Bevorteilung, Leid verknüpft war, weiterhin festzuhalten! Und ein Abgehen von „Geschlecht“ ermöglicht uns, Wahrnehmungen und Begehren vielfältiger auszurichten …

Der Sozialwissenschaftler ist inzwischen auch in der Evangelischen Kirche angekommen. In der aktuellen Ausgabe von Chrismon ist zu lesen, dass die Theorie der biologischen Zweiteilung auf die Nazis zurückgeht und unsere Welt viel schöner wäre, gäben wir diese Unterscheidung auf. Voß: „Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung“ (Chrismon, September 2013, S. 7).

Da wir nun schon mal bei dem Thema „Geschlechterkonstruktion“ sind, empfehle ich den Beitrag „Das Tabu der Gender-Theorie – Geisteswissenschaftliche Geschlechterforschung und die Biologie“ von Ferdinand Knauß (aus: Helmut Fink und Rainer Rosenzweig (Hg.): Mann, Frau, Gehirn: Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft, 2011, S. 115–132). Der Aufsatz, der online einsehbar ist und übrigens auch kurz das Voß-Argument kritisiert, zitiert im Epilog eine renommierte Philosophin mit folgenden Worten:

„’Naturalismus’, ‚Ontologisierung’, ‚Essentialismus’ und ‚Biologismus’ … fungieren inzwischen geradezu als Denkverbote. Jeder Versuch, anthropologische Konstanten auch nur als Grenzwerte für Transformationsprozesse zu bestimmen, jeder Versuch zu reflektieren, was es für Menschen bedeutet, sich ebenso wie Tiere fortpflanzen zu müssen (wenn sie sich denn überhaupt fortpflanzen wollen), und jeder Versuch, die Geschlechterdifferenz philosophisch zu reflektieren, ohne sie vorab als reines Konstrukt zu setzen, kann damit bereits unter Ideologieverdacht gestellt werden.“

VD: JS

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner