Naturrecht

Nochmal: Der Mensch und das Naturrecht

Der Moraltheologe Peter Schallenberg hat erfreulicherweise den hier im Blog schon thematisierten Artikel „Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesetzt“ von Friedrich Wilhelm Graf (ebenfalls in der FAZ) inhaltlich widerlegt. Er nutzt dafür interessanterweise eine existenzialistische Argumentationsfigur (aus dem Da-Sein entfaltet sich das So-Sein) und ein Kant-Argument (der Wert eines Menschen kennt keinen Preis). Inhaltlich stimme ich zu: die Menschenwürde ist unbedingt. Es ist kein naturalistischer Fehlschluss zu meinen, „es sei oberste Aufgabe der Verfassung, das unbedingte Lebensrecht jedes Menschen vom frühestmöglichen Zeitpunkt der Individuation bis zum spätestmöglichen medizinischen Ende zu garantieren. Es ist vielmehr modernes Naturrecht als Personrecht.“

Hier ein Auszug aus „Der Mensch als unverzichtbares Wesen der Gesellschaft“ (FAZ, 07.08.2025, Nr. 181, S. 9):

Die bisherige Rechtsprechung relativiert nicht die Menschenwürde des ungeborenen Menschen gegenüber der Mutter, sondern verzichtet lediglich auf die Strafverfolgung im Fall der Rechtswidrigkeit – ein ungewöhnlicher, aber nicht undenkbarer Vorgang. Das Strafrecht sieht sich außerstande, eine rechtswidrige Tat zu ahnden, nicht mehr und nicht weniger. Daraus lässt sich aber keine Abstufung des Lebensrechtes oder eine Relativierung der Menschenwürde ableiten. Das ist nämlich auch der Sinn des Artikels 1 GG: Die Würde des Menschen ist selbstverständlich nicht nur unantastbar für den Staat, sie ist auch unantastbar für den Mitmenschen und für den Menschen selbst (weswegen Selbsttötung eben nicht eigentlich eine Freiheitstat, sondern ein Abbruch der Freiheit zum Leben ist).

Das alles ist nicht zuerst christlich (und schon gar nicht katholisches Exoticum wie eine Fronleichnamsprozession) und erst recht nicht „rechts“ im Unterschied zu „links“. Qualität folgt vielmehr der Quantität, Da-Sein entfaltet sich zum So-Sein. Jeder Mensch hat das unbedingte Recht auf Überleben, am frühesten Anfang des Lebens als soeben befruchtete Eizelle, als Embryo und als menschliche Person. Und am spätestmöglichen Ende des Lebens, möglicherweise dement und inkontinent und schwerst pflegebedürftig: aber vollkommen unbezweifelbar als liebenswürdige Person. Was christlich Gottebenbildlichkeit heißt, nennen die Philosophie und das Naturrecht Menschenwürde: unbezweifelbar und unbedingt. Dies ist kein naturalistisch-biologistischer Fehlschluss, wie die Befürworter einer liberalen Regelung des Abtreibungsrechts behaupten, sondern Ausdruck der Grundüberzeugung unseres Grundgesetzes, dass von Natur aus – daher Naturrecht – jeder Mensch leben will und leben soll. Darin liegt seine unantastbare Menschenwürde als Person.

Und diese Menschenwürde, verstanden als Ausnahme und Herausnahme in einer Welt der Dinge und der Gebrauchsgegenstände, ist eben nicht, wie Frauke Brosius-Gersdorf meint, zu trennen vom Lebensrecht. Spitzfindig meint sie, dem frühen Embryo komme wohl Lebensrecht, aber nicht Menschenwürde zu, da sonst jede Form der Abtreibung unerlaubt sei. Ungewollt trifft sie in der Tat den kantianischen Nagel auf den Kopf: In der Tat ist nach Immanuel Kant jede direkte Tötung eines Menschen immer und überall unerlaubt, weil ihr eine Bewertung und damit eine Verzwecklichung der Menschenwürde vorangeht. Diese strikten Ansichten zum Lebensschutz haben auch unser Grundgesetz mit den unveräußerlichen Grundrechten wesentlich geprägt. Und hier ist eben keine „Politik des Kompromisses“ möglich, wie Graf im Anschluss an Hans Kelsen nahelegt. Vielmehr meint ein modernes und doch striktes Naturrecht: Jeder Mensch ist von Natur aus aus der Welt der Gegenstände und Zwecke ausgesondert, und daher also ist nach dem Naturrecht, unabhängig von Glauben und Konfession, jede direkte Tötung eines unschuldigen Menschen immer und überall unerlaubt.

Die einzige Ausnahme ist der Fall der Notwehr bei schuldigem Angreifer, was offenkundig für das unschuldige ungeborene Kind nicht zutrifft, dessen einzige „Schuld“ es sein könnte, ungewollt und ungeplant oder schwer behindert zu sein.

Das Naturgesetz reicht nicht aus

Andrew T. Walker hat in seinem Artikel „Das Naturgesetz reicht nicht aus. Das Naturgesetz ist alles, was wir haben“ die reformierte Sichtweise ganz gut auf den Punkt gebracht: 

Die reformierte Tradition steht seit langem in einem kreativen Spannungsverhältnis zum Konzept des Naturrechts. Einerseits bekräftigte Johannes Calvin die doppelte Erkenntnis Gottes – sowohl die allgemeine Offenbarung durch die Natur als auch die besondere Offenbarung durch die Heilige Schrift –, blieb dabei jedoch zutiefst realistisch hinsichtlich der noetischen Auswirkungen der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen. Auf diesem Realismus aufbauend kritisierten Denker wie Cornelius Van Til und Abraham Kuyper die Idee der moralischen Neutralität und stellten in Frage, ob sündige Menschen wirklich eine gemeinsame rationale Grundlage für Ethik haben können. Trotz dieser Skepsis gaben Calvin und die übrigen Vertreter der reformierten Tradition bis hin zu den reformierten Scholastikern das Naturrecht nicht auf. In seiner Institutio und seinen Bibelkommentaren bekräftigte er die Rolle der bürgerlichen Moral und das bleibende Zeugnis des Gewissens und zeigte, dass das Naturrecht, obwohl beeinträchtigt, in Gottes vorsehender Ordnung der Gesellschaft weiterhin funktioniert. Das Naturrecht ist eine bürgerliche Moral, die Gott in das Gewissen und Herz des Menschen eingepflanzt hat und die ein Mindestmaß an Stabilität ermöglicht.

Trotz seiner Grenzen müssen wir uns weiterhin auf das Naturrecht berufen, da es eine Form der allgemeinen Gnade bleibt. Obwohl es durch die Sünde getrübt ist, ist das Naturrecht in der Imago Dei verwurzelt und taucht weiterhin im Gewissen und in den kulturellen Normen der Menschen auf. Selbst in einer gefallenen Welt reagieren Menschen oft auf moralische Ansprüche, die in der Schöpfungsordnung begründet sind. Dies zeigt sich auf zehntausend subtile Arten – in der Fürsorge einer Mutter für ihr Kind, in der Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren alternden Eltern, in dem schreienden Verlangen nach Gerechtigkeit. Der Apostel Paulus zeigt dies in der Heiligen Schrift, indem er sich in seinem Brief an die Römer und in seiner Rede auf dem Areopag auf das Naturrecht beruft. Darüber hinaus benötigt jede funktionierende Gesellschaft eine gemeinsame moralische Grammatik, um den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Ohne eine Ethik des kleinsten gemeinsamen Nenners wie das Naturrecht bleiben der Gesellschaft nur Machtkämpfe oder Tribalismus, um moralische Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden.

„Die wahre Quelle allen Rechtes“

Nach Auffassung des sogenannten Rechtspositivismus gilt als Recht allein das, was der Gesetzgeber als solches verabschiedet hat. Eine Beurteilung des Rechts an moralischen Maßstäben verbietet sich in rechtspositivistischen Gesellschaften, weil es keine einheitlichen Moralvorstellungen gibt. Jegliches Recht ist von Menschen gemacht. Falls diese meinen, wir brauchen ein neues Ehe- und Familienverständnis, dann wird eben ein „Ehe für alle“-Gesetz beschlossen.

In Abgrenzung zu diesem Rechtspositivismus vertritt das Naturrecht, dass Recht und Moral nicht so einfach voneinander getrennt werden kann. Etwas ist Recht oder Unrecht, weil es uns mit der Natur gegeben ist. Eltern die Kinder wegzunehmen, ohne das es dafür schwerwiegende Gründe gibt, ist demnach Unrecht – egal was das positive Recht dazu sagt. Alle vom Menschen gemachten Gesetze müssen an der Moral gemessen werden. Nur Gesetze, die diesen moralischen Ansprüchen des Naturrechts genügen, können den Anspruch erheben, befolgt zu werden. So waren viele Gesetze der Nationalsozialisten – etwa die Rassengesetze – objektives Unrecht.

Die „modernen Gesellschaften“ haben sich weitgehend von einem höheren Gesetz oder einer höheren Ordnung verabschiedet. Der Mensch tritt als alleiniger Gesetzgeber auf. Das macht es Despoten leicht, ihre eigenen Interessen auch rechtlich durchzusetzen. Sie haben in den Augen der Positivisten schlichtweg andere Werte. Mangels eines übergeordneten Maßstabs ist es im strengen Sinne unmöglich, zu behaupten, irgendein Wertsystem sei besser als ein anderes.

Der Philosoph Robert Spaemann (1927–2018), selbst Verfechter einer Naturrechtsposition, hat einmal anhand eines persönlichen Erlebnisses demonstriert, dass der Rechtspositivismus eine „Schönwettertheorie“ ist. Spaemann schreibt in „Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht?“ (in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 27–34, hier S. 27):

Nach dem Krieg hörte ich in Münster auf dem Domplatz eine Predigt des Kardinals von Galen vor dem zerstörten Dom. Der Domplatz war schwarz vor Menschen, und der damalige Bischof, Clemens August, sagte: „Eurer Liebe verdanke ich mein Leben.“ Dann fügte er mit donnernder Stimme hinzu: „Was wir jetzt erlebt haben, die Tyrannei, die Unterdrückung, die Zerstörung, das alles war die Strafe Gottes für das, was die Deutschen 1919 an den Anfang ihrer Verfassung gestellt haben: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.’ Jetzt haben wir die Staatsgewalt kennen gelernt, die vom Volke ausgeht. Es wird Zeit, dass wir uns besinnen auf die wahre Quelle allen Rechtes.“

Nach den grauenhaften Tyranneien des 20. Jahrhunderts ist der Rechtspositivismus eigentlich kaum zu retten. Er ist eine Schönwettertheorie. Er entzieht der Verurteilung von Staatsverbrechen jede objektive Grundlage. Wenn der Wille des Gesetzgebers an keinen ihm vorgegeben Maßstab des Richtigen und des Falschen, des Guten und des Schlechten gebunden ist, und wenn die Verkündigung im Gesetzblatt eines Staates die höchste Legitimation der Gesetze ist, dann kann es keine Rechtfertigung geben, die den Bürger auf irgend eine Weise im Gewissen binden kann.

J. Budziszewski und das Naturgesetz

J. Budziszewski ist Experte für politische und ethische Philosophie und zählt zu jenen Gelehrten, die eine Rückkehr naturrechtlicher Argumentationen in den intellektuellen Diskurs eingeleitet haben. Doug Wilson hat mit Budziszewski über das Naturrecht und die allgemeine Gottesoffenbarung gesprochen. Das Gespräch ist interessant, da Wilson in der Tradition von Cornelius Van Til steht und ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zum Naturrecht hat. Richtig lustig wird es übrigens ab Minute 52:18.

Spaemann: Das Scheitern des Christentums ist christlich

Robert Spaemann sprach mit der Tagespost über die christlichen Verstehensvoraussetzungen der Aufklärung, die Diktatur des Relativismus, das Naturrecht, die Grenzen des Fortschritts und den Antichrist.

Tagespost: Herr Professor Spaemann, durch Ihr ganzes Denken, haben Sie einmal geschrieben, ziehe sich wie ein roter Faden das Bemühen, die Aufklärung gegen ihre Selbstdeutung zu verteidigen. Warum muss man die Aufklärung vor sich selbst in Schutz nehmen? Ihrem Selbstverständnis nach ist sie doch der Mut, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Sie sollte also ganz gut alleine zurechtkommen …

Spaemann: Der erste, der das sah, war Nietzsche. Nietzsche schreibt einmal, dass die Aufklärung letzten Endes zum Atheismus führe. Wenn aber dieses Ziel erreicht wird, wird die Aufklärung selbst sinnlos, denn sie bringt eine Voraussetzung mit, die sie vom Christentum geerbt hat, nämlich dass es Wahrheit gibt und – wie Nietzsche sagt – dass die Wahrheit göttlich ist. Wenn es Gott nicht gibt, sagte Nietzsche, dann gibt es keine Wahrheit, dann gibt es nur die individuellen Perspektiven jedes Menschen auf die Welt, und die Frage nach einer wahren Perspektive stellt sich nicht, denn das wäre die Perspektive Gottes. Wenn dem aber so ist, folgt daraus, dass das ganze Geschäft der Aufklärung rückblickend sinnlos war.

Hier geht es zu dem sehr lesenswerten Interview »Aufhalten ist alles!« : www.die-tagespost.de.

VD: EP

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