Paulus

Paul Through the Eyes of the Reformers

Bei Bob on Books ist eine Rezension des Buch Paul Through the Eyes of the Reformers von Stephen J. Chester erschienen. Darin heißt es:

Chester argumentiert auch, dass die Reformatoren zwar ein gemeinsames Bekenntnis zur Rechtfertigung durch den Glauben hatten, der auf Christus als Quelle einer fremden Gerechtigkeit blickt, dass sie jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber hatten, wie dies von den Gläubigen erlebt wurde. Im dritten Teil des Werks bietet er eine ausführliche Untersuchung von Luther, Melanchthon und Calvin. Sowohl Luther als auch Calvin betonten die Idee unserer Vereinigung mit Christus durch den Glauben. Melanchthon hingegen konzentriert sich mehr auf die Rechtfertigung aufgrund Christi. Darüber hinaus betonte Calvin im Gegensatz zu Luther die Vereinigung mit Christus sowohl in der Rechtfertigung als auch in der Heiligung, ohne die beiden zu verwechseln.

Chester konzentriert sich im abschließenden Teil des Werks darauf, wie die Idee der Vereinigung mit Christus in der heutigen Forschung fruchtbar sein kann. Dieser Vorschlag ist typisch für Chesters Ansatz im gesamten Werk. Anstatt sich den Interpreten zu widersetzen, sucht Chester nach Punkten der Übereinstimmung.

Mehr: bobonbooks.com.

J.G. Machen: Gesetzesgerechtigkeit in der anti-reformatorischen Exegese

Grasham Machen über die Gesetzesgerechtigkeit in der anti-reformatorischen Exegese (Christentum und Liberalismus, 213, S. 167–168):

Dem modernen Liberalismus nach bedeutet Glaube dasselbe wie „Jesus im eigenen Leben zum Herrn machen“. Durch diesen Akt des „Jesus zum Herrn machen“ soll das Wohlergehen der Menschen erwirkt werden. Doch das bedeutet schlichtweg, dass Erlösung durch unseren eigenen Gehorsam gegenüber Jesu Befehlen erreicht werden soll. Solch eine Lehre ist nur eine vergeistigte Form von Gesetzlichkeit. Nicht das Opfer Jesu, sondern unser eigener Gehorsam wird zum Grund der Hoffnung.

Auf diesem Weg werden alle Ergebnisse der Reformation zunichtegemacht, und man kehrt zurück zur Religion des Mittelalters. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts erweckte Gott einen Mann, der begann, den Brief an die Galater mit eigenen Augen zu lesen. Das Ergebnis war die Wiederentdeckung der Lehre von der Rechtfertigung allein durch Glauben. Auf dieser Entdeckung ruht unsere ganze evangelische Freiheit. Ausgelegt von Luther und Calvin wurde der Galaterbrief zur Magna Charta der christlichen Freiheit. Doch der moderne Liberalismus ist zu der alten Interpretation des Galaterbriefes zurückgekehrt, die von den Reformatoren so bekämpft wurde. Deswegen ist Professor Burtons raffinierter Kommentar [A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Galatians. International critical commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testaments, 1920) über diesen Brief, trotz aller modernen und wertvollen Gelehrsamkeit, in einem Punkt ein mittelalterliches Werk. Es ist zurückgekehrt zu einer anti-reformatorischen Exegese, nach der Paulus in seinen Briefen lediglich die nur bruchstückhaften Moralvorstellungen der Pharisäer anprangern soll. In Wirklichkeit ist das Ziel der Attacke des Paulus der Gedanke, dass ein Mensch sich seine Akzeptanz durch Gott auf irgendeine Weise verdienen könne. Paulus Hauptinteresse besteht nicht darin, gegen einen rein äußerlichen Kult für eine spirituelle Religion zu werben, sondern gegen menschliche Verdienste die freie Gnade Gottes zu betonen.

Die Gnade Gottes wird vom modernen Liberalismus abgelehnt. Das Resultat besteht in Sklaverei, der Versklavung unter das Gesetz, eine elende Gefangenschaft, in welcher der Mensch die unmögliche Aufgabe angeht, mithilfe seiner eigenen Gerechtigkeit vor Gott bestehen zu können. Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass ausgerechnet der Liberalismus, ein Begriff, der ja „Freiheit“ bedeutet, in Wahrheit zu elender Sklaverei führt. So merkwürdig ist dieses Phänomen aber gar nicht. Die Emanzipation vom heilsamen Willen Gottes bringt automatisch die Abhängigkeit von einem schlimmeren Zuchtmeister mit sich. Das ist der Grund, warum von der liberalen Kirche gesagt werden kann, dass sie „mit ihren Kindern in der Knechtschaft lebt“, wie es zu Paulus Zeiten von Jerusalem gesagt wurde (vgl. Galater 4,25). Gebe Gott, dass sie wieder umkehrt zur Freiheit des Evangeliums Christi.

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Werden alle Menschen gerettet?

Will all Be Saved?Werden alle Menschen gerettet? Es gibt nur wenige so sensible Fragen wie diese. Es ist so gut wie sicher, dass Antworten – wie immer sie ausfallen – emotionale Reaktionen hervorrufen. Für viele bedeutet die Antwort „nein“, den Charakter Gottes zu gefährden. Ein Gott, der nicht jeden rettet, kann nämlich kein Gott der Liebe sein. Als Reaktion darauf rütteln manchmal Evangelikale an Texten, die sagen, dass Jesus der einzige Weg ist, oder an Texten, die die Lehre von der Hölle lehren, wobei sie immer den Kern der Sache vernachlässigen: eben den Charakter Gottes selbst.

In Deutschland hat die These, Paulus sei ein Universalist gewesen, durch die Dissertation Paulus und die Versöhnung aller von Jens Adam (Tübingen, 2008, unter Hans-Joachim Eckstein und Hermann Lichtenberger) auftrieb erhalten. Für Adam ist „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (Röm 11,32) ein zentraler Vers zum Verständnis des – wie er meint – paulinischen Universalismus (Paulus und die Versöhnung aller 2009, S. 406):

Die Aussage von Röm 11,32 ist im Duktus des paulinischen Gedankengangs nicht nur innerhalb des Römerbriefs, sondern darüber hinaus als Zeugnis der paulinischen Christo-Logik insgesamt als prägnanter Beleg für den paulinischen Heilsuniversalismus zu begreifen. Dieser selbst stellt sich in höchst differenzierter wie reflektierter Weise dar. Das Heil des einzelnen Menschen wie des gesamten κόσμος liegt allein und ausschließlich in Jesus Christus beschlossen; eine wie auch immer begründete ‚Allversöhnung‘, die vom Bekenntnis zu diesem κύριος absehen möchte, ist eine paulinische Denk-Unmöglichkeit. Demzufolge geht der paulinische Heilsuniversalismus zwingend mit dem Signum des Glaubens an Jesus Christus einher, und remoto Christo hat der Mensch nichts als die gerechte Verurteilung vor dem Richterstuhl Gottes resp. Christi zu gewärtigen. Als Vater Jesu Christi bleibt Gott zugleich der Schöpfer, dessen Heilswillen in Jesus Christus von Ewigkeit her Bestand hat. Dem paulinischen Heilsuniversalismus nach fällt sich Gott selbst ins verurteilende Richterwort, begnadigt den zu Recht Verurteilten aufgrund seines umfassenden Erbarmens und spricht ihn also frei.

Die neue Ausgabe der Zeitschrift Credo hält viele interessante Artikel zum Thema bereit. Enthalten sind Beiträge von Archibald Alexander, Alan Gomes, Michael McClymond, Matthew Barrett, Glenn Butner, J. V. Fesko, Daniel Treier, Denny Burk, Joshua Greever, Todd Pruitt, Scott Smith und Matt Neidig.

Joshua Greever geht der Frage nach, ob Paulus ein Universalist war und schreibt zu Römer 11,32:

Auch die Interpretation von Römer 11,32 wird durch die Analyse des unmittelbaren literarischen Kontextes verdeutlicht. Dieser Vers schließt die heilsgeschichtliche Frage des Paulus in Römer 9–11 über die Erlösung Israels ab. Während es zahlreiche Meinungsverschiedenheiten über die genaue Identität „ganz Israels“ in 11,26 und den Begriff „Fülle“ (Römer 11,12,25) gibt, legt der Kontext nahe, dass es sich nicht um die Rettung eines jeden Menschen ohne Ausnahme, sondern um die Rettung von Volksgruppen handelt: Juden und Heiden.

Das deckt sich mit den Ausführungen von Eckhard J. Schnabel in seinem Kommentar zum Römerbrief (Der Brief des Paulus an die Römer, Bd. 2, 2016, S. 526–527):

Gott hat alle „dem Ungehorsam“ (εἰς ἀπείθειαν [eis apeitheian]) ausgeliefert bedeutet im Anschluss an das wiederholte παρέδωκεν [paredōken] von 1,24.26.28: Gott hat alle, nicht nur die Heiden, sondern auch die Juden, ihrem Ungehorsam und dessen Folgen überlassen, er hat sie „als Ungehorsame herausgestellt“. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Ungehorsams gegen Gott, in der „Gott die Abwendung der Menschen von ihm nicht bremst oder in ihrer Wirkung abmildert, sondern sich in all ihrer Destruktivität auswirken läßt“.378 Die Formulierung kombiniert Gottes souveränes Handeln, was den Ungehorsam von Juden und Heiden betrifft, mit der Verantwortung des einzelnen Juden und Heiden für seinen Ungehorsam. Dieselbe Gleichzeitigkeit von Gottes Souveränität und menschlicher Verantwortung haben wir in 1,18–3,20 bzw. 5,12–21 beobachtet. Das Ziel des Heilshandelns Gottes wird in V. 32b beschrieben: damit er sich aller erbarme (V. 32b). Mit „allen“ (πάντες [pantes]) sind Juden und Heiden gemeint, ohne dass der Gedanke der Allversöhnung (Apokatastasis) eingetragen werden darf.

Lietzmann spricht von der Ahnung eines tiefsten und beseligenden Geheimnisses, von der festen Zuversicht, „daß Gott alles zum Guten führen wird“, eine Zuversicht, die „siegreich“ durchbricht. Wilckens schreibt: „Es gibt keinerlei Ungehorsam, der nicht im Sühnetod Christi bereits aufgehoben ist, und der sich also auf Dauer und ewig dem Willen und der Kraft der Liebe Gottes entgegenstellen könnte“. Dunn spricht von der Transposition vom Ungehorsam in Moll zur Barmherzigkeit Gottes in Dur, in der sich Gottes Treue gegenüber Israel bewahrt und zur Vision der Versöhnung der ganzen Welt mit Gott am Ende führt, hält es dann aber doch für klüger, die summarische Beschreibung als lediglich allgemeine Aussagen zu interpretieren. Klein versteht Paulus im Sinn der „Rettung der ganzen Heidenwelt“. Hengel und Schwemer halten V. 32 für einen „der wichtigsten Sätze des ganzen Neuen Testaments“, der nach V. 26 festhält, dass mit dem Kommen des Messias am Ende der Weltgeschichte nicht nur ganz Israel durch Gottes Gnade gerettet wird, sondern dann auch „alle Völker im Zeichen des Evangeliums zu Gott zurückfinden, damit seine Gnade allein über alle Mächte des Bösen, Sünde, Tod und Teufel, triumphiere“, was im Blick auf die Erwartung des Paulus „durchaus realistisch-konkret“ zu verstehen sei. Flebbe sieht einen Hinweis auf „umfassendes und universales Heil für alle … ungeachtet der ethnischen Prägung“.

Paulus „will aufzeigen, welchen Sinn das widersprüchliche Geschick des Evangeliums bei Juden und Heiden im Plan Gottes haben könnte“. Weil Paulus in Röm 11 von Israel und den Völkern als kollektiven Größen spricht, meint πάντες in V. 32 nicht alle Menschen ohne Ausnahme, sondern „alle“ im Sinn von Juden und Heiden. Paulus spricht nicht nur in 1,18 vom Zorn Gottes, der etwa in 11,32 aufgehoben wäre, sondern auch in 12,19; in 13,2 ist vom Gericht Gottes, in 14,10 vom Richterstuhl Gottes die Rede. Die Unterscheidung zwischen individueller Erwählung (9,6–29) und kollektiver Erwählung (11,1.28–29), die Paulus im Blick auf Israel entfaltet, ist auch für V. 32b wichtig, in dem von Juden und von Heiden die Rede ist. Wie der individuelle Ungehorsam von Juden die kollektive Erwählung Israels nicht aufhebt, so hebt die kollektive Erwählung (Israel) bzw. Erschaffung (Heiden) die individuelle Verantwortung, die Heilsoffenbarung Gottes im Glauben anzunehmen, nicht auf. Die kollektive Erwählung Israels verschafft genauso wenig jedem einzelnen Israeliten/Juden Heil, ohne Rücksicht auf dessen Gehorsam oder Ungehorsam Gott gegenüber, wie die kollektive Erschaffung der Heiden durch Gott bedeutete, dass alle Polytheisten oder Atheisten, nur weil sie Geschöpfe Gottes sind, durch Gottes Gnade gerettet werden. Wie Gott innerhalb der kollektiven Erwählung Israels einzelne Individuen erwählt, denen er seine Gnade gewährt (9,6–29), so gewährt er innerhalb der Gesamtheit der von ihm geschaffenen Menschheit einzelnen Heiden seine Gnade. Die πάντες sind als solche zu bestimmen, „die in der Kraft der in Christi Tod und Auferstehung über sie gefallenen Entscheidung zum Glauben an ihren Erlöser kommen werden“.

Hier die aktuelle Ausgabe von Credo: credomag.com.

Die Sühnewirkung des Todes Jesu

In der Paulusforschung herrscht seit längerem die Annahme vor, dass der Apostel Paulus keine in sich konsistente Lehre vom Endgericht vertrete, sondern je nach Kontext auf unterschiedliche, einander teilweise widersprechende Motive zurückgegriffen habe. Christian Stettler zeigt durch die Analyse von allen paulinischen Gerichtstexten mit Hilfe der kognitiven Frame-Semantik, dass Paulus nicht von unterschiedlichen oder gar widersprüchlichen „Gerichtskonzeptionen“, sondern von einer in sich konsistenten Gerichtserwartung ausging. Zudem vertieft der Autor die gewonnenen Erkenntnisse durch weitere exegetische Analysen, welche sich kritisch mit Ergebnissen der konfessionellen Paulusexegese und der Neuen Paulusperspektive auseinandersetzen und zu einer differenzierteren Sicht führen.

In seinem Fazit schreibt der Christian Stettler über das Gericht nach den Werken bei den Christusgläubigen unter anderem:

Paulus hat also die Sühnewirkung des Todes Jesu offensichtlich nicht nur auf Sünden vor der Taufe, sondern auch auf die Sünden von Christen bezogen. Wo Sünde nach der Bekehrung vorkommt, kann ein Christ nicht aufgrund seines noch so weitgehenden Liebeswerkes gerechtfertigt werden, sondern ist weiterhin auf die Vergebung Christi angewiesen. Im Blick auf die Rechtfertigung gilt ohnehin das ganze Leben einer Person als Einheit und wird nicht in die Zeit vor und die Zeit nach der Bekehrung aufgeteilt. Abgesehen von Jesus (2Kor 5,21) gibt es niemand, der sein ganzes Leben über ohne Sünde geblieben ist (vgl. Röm 3,9-20). Rechtfertigung selbst durch einen vollkommenen Gehorsam nach der Bekehrung ist dadurch ohnehin ausgeschlossen.

Nach Paulus sind die Glaubenden dem Gericht nach den Werken nicht enthoben, vielmehr sind sie denselben Maßstäben unterworfen wie die übrige Menschheit. Was sie jedoch von nicht an Jesus glaubenden Menschen unterscheidet, ist zweierlei: erstens, dass ihre Sünden vergeben sind, auch die, die nach ihrer Taufe geschahen, sofern sie nicht im sündigen Verhalten verharrt, sondern darüber Buße getan haben, und zweitens, dass sie mit dem Heiligen Geist, der Kraft der neuen Schöpfung, begabt sind, durch den sie ein Gott wohlgefälliges Leben führen können. Beides, Vergebung und Geist, haben sie aus Gottes Gnade empfangen, aufgrund ihres Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn. Also ist auch das neue Handeln aus dem Geist eine Wirkung des Auferstandenen, eine Wirkung der Gnade. Das neue Handeln ist ganz die Verantwortung des Menschen und zugleich ganz die Wirkung Gottes (vgl. Phil 2,12f.).

Es ist deshalb kein Widerspruch, sondern Ausdruck des typisch frühjüdischen aspekthaften Denkens des Paulus, dass nach Paulus die Rettung und Rechtfertigung im Endgericht einerseits ganz Geschenk, ganz „Gnade“ ist und denen gilt, die glauben, und andererseits Paulus dennoch die Gabe des ewigen Lebens im Endgericht auch als eine Antwort auf das Werk der Christen, auf ihren Glaubensgehorsam, ja als „Lohn“ bezeichnen kann.

Für die Untersuchung:

  • Stettler, Christian, Das Endgericht bei Paulus: Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soterologie, WUNT, Band 371, Mohr Siebeck, 2017, 415 S.

wurde dem Autor der Johann-Tobias-Beck-Preis 2018 verliehen.

Paulinische Rechtfertigungslehre nur Missionstheologie?

Für Krister Stendahl und andere Vertreter der Neuen Paulusperspektive (siehe auch: Was ist die „Neue Paulusperspektive?“) geht es im Galaterbrief nicht um die Frage, wie ein Mensch mit Gott versöhnt wird, sondern vielmehr darum, unter welchen Bedingungen Heiden in das Volk Gott aufgenommen werden können.

Schon im „Paulus“ von William Wrede gehörte die Rechtfertigungslehre nicht in die Soteriologie. Sie erscheint bei ihm als Nebenkrater der apostolischen Missionstheologie. 1904 schrieb er:

Die Reformation hat uns gewöhnt, diese Lehre als den Zentralpunkt bei Paulus zu betrachten. Sie ist es aber nicht. Man kann in der Tat das Ganze der paulinischen Religion darstellen, ohne überhaupt von ihr Notiz zu nehmen, es sei denn in der Erwähnung des Gesetzes. Es wäre ja auch sonderbar, wenn die vermeintliche Hauptlehre nur in der Minderzahl der Briefe zum Worte käme. Und das ist der Fall; d. h. sie tritt überall nur da auf, wo es sich um den Streit gegen das Judentum handelt. Damit ist aber auch die wirkliche Bedeutung dieser Lehre bezeichnet: sie ist die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebenskampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich und nur für diese gedacht, – insofern dann freilich geschichtlich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch.

Bei N.T. Wright klingt es folgendermaßen: (Worum es Paulus wirklich ging, 2010, S. 151):

Die Frage, um die es in der Gemeinde von Antiochien ging, auf die Paulus im 2. Kapitel [des Galaterbriefes; Anm. R.K.] verweist, lautet nicht, wie Menschen in eine Beziehung zu Gott eintreten, sondern sie lautete: Mit wem darf man essen? Wer gehört zum Volk Gottes? Sind ehemalige heidnische Konvertiten Mitglieder im vollen Sinne sind oder nicht.

Stephen Westerholm hält in seinem hilfreichen Buch Justification reconsidered entgegen (zitiert nach Stephen Westerholm, Angriff auf die Rechtfertigung: Die Neue-Paulus-Perspektive auf dem Prüfstand, Oerlinghausen: Bethanien, 2015, siehe meine Rezension hier):

Wie können Sünder einen gnädigen Gott finden? Diese Frage ist für den modernen westlichen Menschen alles andere als typisch; doch Paulus weckte diese Frage mit seiner Botschaft überall, wohin er auch ging. Paulus aber war nicht dazu gesandt, einen Notstand zu beleuchten, sondern einer Welt, die unter dem Gericht Gottes steht, Rettung zu bringen. Seine Antwort lautete (in den Thessalonicherbriefen inhaltlich, wenn auch nicht ausdrücklich; in den Korintherbriefen ausdrücklich, wenn auch nicht vorherrschend; im Galaterbrief thematisch und in seinen weiteren Briefen regelmäßig): Sünder, für die Christus starb, werden von Gott für gerecht erklärt, wenn sie an Jesus Christus glauben.

Peter O’Brien in München

Stefan Beyer hat freundlicherweise die Veranstaltung „Paulus und das Gesetz“ mit Peter O’Brien in München beschrieben.  Nachfolgend ein Bericht und Kommentar von Simon Mayer über die Vorträge des Neutestamentlers aus Sydney:

Peter O’Brien in München

Peter O’Brien, langjähriger Professor am Moore Theological College in Sydney (Australien) und Autor zahlreicher Bücher, darunter vielbeachtete Kommentare zum Epheser-, Philipper-, Kolosser-, Philemon- und Hebräerbrief, war von 21. bis 23. März zu Besuch in München.

Am Samstag hielt er am Martin Bucer Seminar eine Vorlesung, in der er die Teilnehmer unter dem Titel „Fröhliche Bürger in Gottes Königreich“ in vier Einheiten durch den Philipperbrief hindurchführte.

O Brien01In der ersten Einheit zeigte Prof. O’Brien die tiefe Verbundenheit auf, welche der Apostel Paulus für die Gemeinde in Philippi empfand: Sein Dankgebet kommt von ganzem Herzen und Gott selbst ist Zeuge für die große Zuneigung, die er für die Gläubigen hegt (Phil 1,3-8). Es ist gerade diese Zuneigung, die ihn dann dazu bringt, auch im Bittgebet für die Philipper einzustehen und um noch mehr Liebe und Erkenntnis zu beten (Phil 1,9-11). O‘Brien erklärte weiterhin, wie im Philipperbrief der ungewöhnliche Fortschritt des Evangeliums deutlich wird und Paulus sich darüber trotz seiner Gefangenschaft freut, da es ihm nicht um den eigenen Ruf, sondern ausschließlich die Ausbreitung der Herrschaft Christi geht (Phil 1,12-26).

Die zweite Einheit behandelte die Thematik eines des Evangeliums würdigen Lebensstils. Diese Aufforderung von Paulus in Phil 1,27 betrifft sowohl den Umgang mit und das Zeugnis gegenüber Außenstehenden, d.h. Nichtchristen (Phil 1,27-30), als auch den Umgang mit Geschwistern im Herrn, welcher von Einheit, Demut und Liebe geprägt sein sollte (Phil 2,1-4). Das ultimative Vorbild für solch einen Lebensstil ist Jesus Christus, der sich selbst zuerst bis zum Tod am Kreuz erniedrigte und anschließend vom Vater erhöht wurde (Phil 2,5-11). Diesem Beispiel sollen wir als Christen nachfolgen.

Das Leben des Paulus war das Hauptthema in der dritten Einheit. Nachdem O’Brien verdeutlicht hatte, dass wir uns z. B. in der Politik nach Menschen mit einem vorbildlichen, integren Lebensstil sehnen, solche Menschen jedoch leider eine Seltenheit sind, zeigte er anhand von Phil 3,1-14, wie der Apostel sein eigenes Leben sowohl als negatives als auch als positives Beispiel benutzt. Paulus genoss vor seiner Bekehrung größte Privilegien und konnte alle möglichen Errungenschaften vorweisen, dies alles war aber wertlos (Phil 3,4-6). Denn man konnte in theologischer Hinsicht nicht weiter daneben liegen als Paulus: Er vertraute auf seine eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Erst nach seiner dramatischen Lebenswende auf der Straße von Damaskus hatte er das richtige Fundament ausgemacht: Die Gerechtigkeit Gottes, die da kommt aus Glauben (Phil 3,7-9). Ausgehend von diesem Fundament konnte er nun auch die richtigen Ambitionen entwickeln: Das Vergangene – die eigene Sündhaftigkeit – hinter sich zu lassen und dem Ziel der vollständigen Gleichförmigkeit Christi nachzujagen (Phil 3,10-14).

Zuletzt behandelten wir das Dilemma unerhörter Gebete in Philipper 4. Die Aufforderung des Paulus, sich um nichts zu sorgen, sondern alles im Gebet vor Gott zu bringen (Phil 4,6), scheint auf den ersten Blick eine allzu theoretische Lösung zu sein, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun hat. Prof. O’Brien zeigte jedoch auf, wie der Friede, von dem Paulus in Vers 7 spricht, kein subjektives Gefühl ist, sondern der objektive Friede der Erlösung, die Christus für uns geschaffen hat. Dies ist auch der Grund für die Gewissheit, die alle Christen bezüglich ihrer zukünftigen Herrlichkeit haben dürfen – selbst wenn wir in der Gegenwart mit schlimmsten äußeren Umständen zu tun haben. Gott wird all unseren Mangel ausfüllen, nicht zwingend in materieller oder körperlicher Hinsicht, aber in geistlicher Hinsicht in Jesus Christus (Phil 4,10-20).

Am Montagabend sprach Peter O‘Brien dann noch in der FEG München-Mitte über „Paulus und das Gesetz“. Zuerst betonte er dabei sowohl die Wichtigkeit als auch die Komplexität des Themas: Es ist wichtig, da Paulus‘ Verständnis des Gesetzes eng mit seinem Verständnis des Evangeliums verbunden ist und es ist komplex, da in den neutestamentlichen Briefen scheinbar widersprüchliche Aussagen zum Gesetz gemacht werden. So bestätigt Paulus das Gesetz einerseits (Röm 3,31) und sagt anderseits, dass wir nicht mehr unter dem Gesetz stehen (Röm 6,14). Was also ist die Stellung des Christen zum Gesetz? O’Brien zeigte zuerst auf, dass wir das mosaische Gesetz immer in seinem heilsgeschichtlichen Kontext sehen müssen; es war im Alten Testament vor der Ankunft Jesu Christi gegeben worden und sein Zweck war nicht die Vermittlung von Heil, sondern die Offenbarung der Persönlichkeit Gottes und der Sündhaftigkeit aller Menschen (Röm 3,20). Dennoch wussten schon im Alten Testament Menschen um ihre Vergebung. Wie war diese Vergebung möglich? Allein dadurch, dass Jesus Christus das Gesetz in jeder Hinsicht für uns erfüllte (Mt 5,17). Gleichzeitig sind wir als Christen deshalb nicht Antinomisten – wir sind nicht gegen das Gesetz. Sondern in der Kraft des Heiligen Geistes soll das Gesetz nun auch in uns zur Erfüllung kommen (Röm 8,4). Paulus redet hierbei nicht von dem mosaischen Gesetz, sondern von dem Gesetz des Christus (Gal 6,2). Wir sind daran gebunden, weil wir auch an Christus gebunden sind. D.h. das mosaische Gesetz ist für uns als Christen nicht mehr direkt anwendbar, aber es zeigt uns Prinzipien auf, es hilft uns zu verstehen, was Gott von uns will. Die höchste Form der Erfüllung des Gesetzes ist die Liebe (Röm 13,8-10).

Wir sind dankbar für die gemeinsame Zeit mit Peter O’Brien. Er hat uns einerseits als Experte des Neuen Testaments anhand von allerlei Details aufgezeigt, dass ein tiefgründiges Studium von Gottes Wort unerlässlich ist und wir niemals am Ende desselben angelangt sein werden. Andererseits hat er durch sein sorgendes Pastorenherz immer wieder auch deutlich gemacht, welche Auswirkungen die entdeckten Wahrheiten auf unser Leben haben sollten. Man hat ihm angemerkt, dass es ihm nicht um seine eigene Ehre, sondern um Gottes Reich geht. Sein Zeugnis darüber, dass er und andere Geschwister in Sydney nicht nur regelmäßig für das Martin Bucer Seminar in München, sondern die ganze Christenheit in Deutschland beten, hat diese Tatsache unterstrichen und uns ermutigt, unserem wunderbaren Herrn treu zu sein und mit ganzem Herzen zu dienen.

Simon Mayer, Student am Martin Bucer Seminar in München

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Der Vortrag über „Paulus und das Gesetz“ kann hier mit deutscher Übersetzung (Matthias Lohmann) abgerufen werden:

O’Brien: Paulus und das Gesetz

Justification and variegated nomismWir freuen uns, mitteilen zu können, dass Prof. Dr. Peter O’Brien am Montag, den 23. März, um 19.30 Uhr in der FeG München Mitte (Mozartstraße 12, 80336 München) einen Vortrag zum Thema „Paulus und das Gesetz“ halten wird. Bereits am Samstag, den 21. März, wird er am Martin Bucer Seminar München eine Vorlesung über den Philipperbrief halten (siehe hier).

Prof. O’Brien hat gemeinsam mit D.A. Carson das zweibändige Werk Justification and Variegated Nomism: The Paradoxes of Paul (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 2004) herausgegeben und gilt als exzellenter Kenner des Themas.

Wir sind dankbar, dass Prof. O’Brien zu dem Thema „Paulus und das Gesetz“ sprechen wird. Die Vorlesung wird in englischer Sprache gehalten und ins Deutsche übersetzt. Der Eintritt ist frei. Eine Kollekte wird erbeten.

Weitere Blicke auf die Neue Paulusperspektive

Hier der Hinweis auf zwei frei verfügbare Aufsätze zur „Neuen Paulusperspektive“ (NPP), die 2010 im SBJT  erschienen sind:

  • Der Aufsatz  „The New Perspektive from Paul“ von Mark A. Seifrid ist eine überarbeitete Version des Vortrags, der bereits in deutscher Sprache erschienen ist als: „Die neue Perspektive auf Paulus im Lichte der neuen Perspektive des Paulus“, Theologisches Gespräch 31 (2007), S. 75–88.
  • In dem Beitrag „Another Look at the New Perspective“ von Thomas R. Schreiner geht es um die Verteidigung der reformierten Rechtfertigungslehre im Lichte der Herausforderungen, die sich durch die NPP ergeben.

Im Jahre 2012 veröffentlichte die Zeitschrift Kerygma und Dogma (Jg. 58, S. 268–283) zudem den Aufsatz „Paulus und seine neue Perspektive“ von Mark A. Seifrid. Darin heißt es (S. 282–283):

Das Umdenken über die paulinische Rechtfertigungslehre hat auch ein Umdenken über seine Ethik mit sich gebracht, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Endgericht. An dieser Stelle ist es besonders evident, dass, wie immer ihre Stärken und Schwächen geartet sein mögen, die „neue Perspektive“ auf Paulus ein Ausdruck der theologischen Fragen unserer Zeit ist. Ist es wahr, dass die Rechtfertigungsbotschaft, die die Vergebung der Sünden bringt, für die Erlösung ausreicht? Ist diese Botschaft die Botschaft des Paulus? Bereits E.P. Sanders nahm eine Unterscheidung im frühjüdischen Verständnis der Errettung vor, nämlich zwischen „Hineinkommen“ (durch Gottes erwählende Gnade) und „Darinbleiben“ (durch ein gewisses Maß an Gehorsam). Einige der bekannteren Vertreter der „neuen Perspektive“ gingen soweit zu behaupten, dass auch Paulus mit diesem Erlösungsverständnis arbeitet. Man wird zunächst aus Glauben gerechtfertigt, doch werden die eigenen Werke schlussendlich für die Errettung im Endgericht mitzählen.

Nach einem anderen Modell ist Rechtfertigung Gottes Beurteilung, dass wir wirklich Menschen sind, die Glauben haben und ihm treu sind. Es ist mehr als nur leicht ironisch, dass jene, die mit Luthers Rechtfertigungslehre aufzuräumen suchen, dem Erlösungsverständnis, das er zu reformieren suchte, wieder bemerkenswert nahe kommen! Es gibt eindeutig schwierige Texte über das Endgericht (z. B. 2Kor 5, 10; Röm 2, 12–16), die ausführlichere Diskussion verdienen, als wir ihnen hier geben können. Sicher werden sie zukünftig im Zentrum der Debatte stehen. Paulus macht es aber ziemlich deutlich, dass Gottes Rechtfertigungswerk in Christus und unsere Verbindung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn uns durch das Endgericht hindurch zur neuen Schöpfung bringen und uns die Gabe des Geistes, d.h. neues Leben hier und jetzt verleihen (Röm 6, 4–5; 8, 1–3; Gal 6, 15). Wir werden durch das Endgericht hindurch getragen, weil wir in Jesus Christus schon das Leben jenseits des Gerichts besitzen. Doch nicht nur das, sondern das Leben, das wir durch den Glauben an Jesus Christus ergreifen, macht uns zu neuen Menschen (2 Kor 5, 17). Das Werk der Rechtfertigung Gottes in Christus reicht für christlichen Gehorsam aus und zwar ohne Ergänzungen, weil nämlich Gehorsam nur aus einem erneuerten Herzen erwachsen kann. Die „neue Perspektive auf Paulus“ hat noch immer viel von der neuen Perspektive des Paulus zu lernen!

F. Avemarie: Neues Testament und frührabbinisches Judentum

Nachfolgend ein Auszug aus einer Rezension, die vollständig in der Zeitschrift Glauben & Denken heute erscheinen wird. Besprochen wird folgendes Buch:

41uWWgG3oxL SY445Im Oktober 2012 wurde Friedrich Avemarie unerwartet im Alter von nur 51 Jahren aus dem Leben gerissen. Die Nachricht von seinem Tod traf die Fachwelt wie ein Schlag. Wer immer sich für das Studium der rabbinischen Literatur oder der „Neuen Paulusperspektive“ interessierte, kam an den Beiträgen des Neutestamentlers und Judaisten nicht vorbei. Avemarie wurde 1994 in Tübingen unter Martin Hengel mit der Untersuchung „Tora und Leben“ (Tora und Leben: Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen, 1996) promoviert. Zwei Jahre nach seiner erfolgreichen Habilitation über die „Tauferzählungen“ in der Apostelgeschichte ging er 2002 an die Universität Marburg und lehrte dort für zehn Jahre. Er verknüpfte großes Interesse für die Auslegung neutestamentlicher Texte mit hervorragenden Kenntnissen der rabbinischen Literatur und leistete in seinem kurzen Leben materialreiche und maßgebende Forschungsbeiträge zum frühen rabbinischen Judentum.

Dankbarerweise haben Jörg Frey und Angela Standhartinger unter Mithilfe von Beate Herbst, der Ehefrau Avemaries, einen stattlichen Aufsatzband in der WUNT-Reihe des Mohr Siebeck Verlags publiziert. Neues Testament und frührabbinisches Judentum versammelt Beiträge zur rabbinischen Martyriumsliteratur, zur Soteriologie, zu Jesu Gleichnissen, zum historischen Hintergrund der Apostelgeschichte, zur Anthropologie, zur Israelfrage und zur paulinischen Rechtfertigungslehre.

Der Züricher Neutestamentler Jörg Frey würdigt einführend das wissenschaftliche Vermächtnis Friedrich Avemaries (S. XII – XXXIII) und führt in die Aufsatzsammlung ein. Da ich die Beiträge nicht einzeln vorstellen kann, knüpfe ich an Freys’ Ausführungen an und stelle dabei Avemaries Untersuchungen zur rabbinischen Soteriologie heraus.

Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts etablierte sich insbesondere in der angelsächsischen Paulusforschung die „New Perspective on Paul“ (NPP). Da Martin Hengel gute Kontakte zu James D. G. Dunn in Durham, einem der Väter der NPP, unterhielt, wurden in Tübingen viele Fragen rund um das neu aufkommende Paulusbild diskutiert. Avemarie greift insbesondere in seiner Dissertation die Fragestellung auf, inwiefern das Heil im frühen Judentum mit der Einhaltung der Thora verbunden war. Gelehrte wie Ferdinand Weber oder Paul Billerbeck zeichneten das Bild eines Judentums, indem der Einhaltung des Gesetzes quasi eine heilbringende Funktion zukam. Die NPP wehrte sich gegen die Darbietung einer jüdischen „Leistungsreligion“. Insbesondere E. P. Sanders sah weniger einen Gegensatz als eine Entsprechung zwischen den Rabbinen und der paulinischen Religionsstruktur. „Auf beiden Seiten identifizierte Sanders eine Struktur, der zufolge der Eingang in das Heil durch Erwählung begründet ist und der Verbleib im Heil ein bestimmtes Verhalten, d. h. ‚Werke‘, voraussetzt. Die Erwählung ist somit grundlegender als die Werke, außerdem sei die Gebotserfüllung im antiken Judentum nicht perfektionistisch verstanden worden, sondern vielmehr seien für jedes Vergehen auch Sühne und Vergebung möglich. So erscheint das gesamte Judentum zwischen Ben Sira und der Mischna ebenso wie das paulinische Denken als ‚Religion der Gnade‘“ (S. XVI).

Wenn also die Gnadenlehre des Paulus der des rabbinischen Judentums sehr weitgehend entspricht, muss zurückgefragt werden, weshalb Paulus das Judentum so scharf kritisiert hat. „Warum wendet sich Paulus so gegen die ‚Werke des Gesetzes‘, wenn diese für das Heil ohnehin nie konstitutiv waren?“ (S. XVI). Sollten die Gesetzeswerke wie Beschneidung oder Reinheits- und Speisegebote nur als Abgrenzungsbestimmungen (engl. ‚boundery markers‘) verstanden werden? Kritisierte Paulus vornehmlich das nationalistische Erwählungsbewusstsein der Juden, das Menschen aus anderen Völkern weiterhin vom Heil ausschloss? Oder hatte Paulus das Judentum schlichtweg missverstanden?

Im Horizont solcher Probleme erforschte Avemarie die Soteriologie der frühen Rabbinen. Seine Monographie „ist methodologisch und sachlich eine der bedeutendsten Arbeiten, die in deutscher Sprache zum antiken Judentum geschrieben wurden“ (S. XVII). Anders als Sanders bricht er Einzelaussagen nicht aus ihrem literarischen Kontext heraus, sondern nimmt sie in ihrem Umfeld wahr, auch dann, wenn sich Einzelaussagen nicht harmonisieren lassen. So gelang Avemarie der Nachweis, dass es im frühen Judentum keine verbindliche Soteriologie gab, sondern bei den Rabbinen unterschiedliche und sogar sich widersprechende Vorstellungen über Erwählung, Gesetz, Bund oder Gnade zu finden sind. „Neben der Forderung, alle Gebote zu halten, steht die realistische Einschätzung, dass die Israeliten dies eben nicht praktizierten und ständig der Sühne bedürften. Und sogleich besteht die Überzeugung unhinterfragt, dass jeder Mensch die Gebote Gottes erfüllen kann“ (XVIII).

Frey schreibt:

„In einem zusammenfassenden Aufsatz zur ‚optionalen Struktur der rabbinischen Soteriologie‘ hat Friedrich Avemarie die Erträge seiner Dissertation selbst knapp resümiert: Was entscheidet für die Rabbinen über das Leben, die Zugehörigkeit zur kommenden Welt? Weder das ,Vergeltungsprinzip‘ dass die Werke eines Menschen über sein Heil entscheiden (so Weber und Billerbeck), noch das ,Erwählungsprinzip‘ dass allein die Zugehörigkeit zum erwählten Volk entscheide (so Moore und Sanders), lässt sich verabsolutieren. ‚Beide Denkmuster lassen sich in der rabbinischen Literatur reichlich belegen‘, die Überordnung der einen These über die andere ist unangemessen. Den theologischen Systematisierungsversuchen entgegen steht die große Fähigkeit der Rabbinen, divergente, ja widersprechende Ansichten im Diskurs zu integrieren und gleichsam ,aspektiv‘ einander zuzuordnen. Nicht eine Position ist allein ,richtig‘, andererseits ist auch nicht alles ,gleich gültig‘ oder beliebig, sondern innerhalb bestimmter Grenzen kann beides gesagt werden. So kann der Heilsverlust von Israeliten (durch Sünde) ebenso ausgesagt werden wie der Heilsgewinn von Heiden (durch Erwählung) – was weder dem Modell von Weber und Billerbeck noch dem von Moore und Sanders entspricht“ (S. XIX).

Die Untersuchung bestätigt damit einerseits die Einsicht der NPP, dass der Apostel Paulus sehr grundlegend vom Denken seiner jüdischen Herkunft geprägt war. Zugleich ist die Annahme eines normativen palästinensischen Judentums vor oder nach dem Jahr 70 unhaltbar. Paulus stand keinem monolithischen Judentum, sondern unterschiedlichen jüdischen Traditionen gegenüber (vgl. S. XX). Noch einmal Frey:

„Die vereinfachende Sicht des zeitgenössischen Judentums unter dem Begriff ,Common Judaism‘ (Sanders), die im Grunde das ältere Modell eines normativen Judentums unter anderen Vorzeichen fortsetzt, erfasst schon die Diversität der rabbinischen Aussagen nicht hinreichend, und noch viel weniger die tiefgreifenden Differenzen zwischen den Religionsparteien zur Zeit des Zweiten Tempels, zwischen Sadduzäern und Pharisäern oder gar zwischen diesen und der sich selbst exklusiv im ,Bund‘ Gottes verstehenden Qumrangemeinde. Nur im Prisma einer simplifizierenden Religionsstruktur kann als gleichartig erscheinen, was im Detail zutiefst strittig ist. Dass die Charakterisierung auch des rabbinischen Judentums unter der einseitigen Priorisierung der Erwählung bzw. der Gnade (wie z. B. bei Sanders) so nicht zutrifft und daneben das Vergeltungsparadigma und der Gedanke von Verdienst und Lohn durchaus Vorkommen, hat Friedrich Avemarie deutlich gezeigt. Paulus trifft also, wenn er solches an einigen seiner jüdischen Zeitgenossen kritisiert, nicht ein Zerrbild, sondern einen Aspekt, der zumindest bei einigen dieser Zeitgenossen und auch bei anderen judaisierenden Jesusnachfolgern durchaus vorgekommen sein dürfte, ebenso wie bei den späteren Rabbinen“ (S. XXI).

Jörg Frey erörtert des Weiteren ausführlich Avemaries Habilitationsschrift zu den Tauferzählungen der Apostelgeschichte und der Geschichte des frühen Christentums, die wie seine Dissertation als Monographie erschienen ist (Tauferzählungen der Apostelgeschichte: Theologie und Geschichte. Tübingen. WUNDT 139, Tübingen 2002). Avemarie distanzierte sich zwar verhalten von den konservativen Thesen seines Lehrers Hengel zur Vertrauenswürdigkeit der Apostelgeschichte, wendet sich aber gegen die Tendenz, sie „als eine weithin fiktive oder romanhafte Gründungserzählung zu lesen“ (S. XXV). Auf andere Forschungsthemen Avemaries weist Frey kurz hin, in erster Linie Themen der rabbinischen Literatur, aber auch Ausarbeitungen zur Theologie des Paulus oder zur Jesusüberlieferung. Die wichtigsten Aufsätze sind im Sammelband enthalten.

Zum Buch gehören vier bisher nicht veröffentlichte Vorträge aus den Jahren 2007 bis 2011. Neben einer Gesamtbibliographie enthält es alle nützlichen Register. Der Leser wird von Avemaries weitem Horizont und seiner Beobachtungsgabe sehr profitieren. Ein empfehlenswerter Band.

Podiumsdiskussion mit N.T. Wright

Ich habe kürzlich auf die Tagung „Der gekreuzigte Messias“ mit N.T. Wright in der Schweiz hingewiesen. Die Podiumsdiskussion der Konferenz, in der es insbesondere um die Sühnetheologie, die Überbetonung des Exil- und Exodusmotives sowie die Israelfrage geht, kann hier nachgehört werden:

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