„Vergib uns unsere Gewissheit“

Heute gibt es fast keine größere Sünde als die der „Gewissheit“. Wer sich einer Sache sicher ist, erfüllt damit fast schon ein wichtiges Merkmal des Fundamentalismus. Tatsächlich gibt es falsche Gewissheiten und hier und da auch einfach Denkfaulheit. Doch muss ein gewisser Glaube gleich ein arroganter Glaube sein? Es war Martin Luther, der gesagt hat: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, der nur Zweifel oder bloße Meinungen in unseren Herzen erweckte, sondern er bestätigt gewiss in unserem Gewissen, so dass der Mensch dafür steht und stirbt.“

Mike Ovey schreibt in „Du sollst nicht gewiss sein“:

Natürlich sind Menschen manchmal nicht vertrauenswürdig, sodass Unsicherheit hinsichtlich ihrer Worte und Versprechen durchaus berechtigt ist. Aber der biblische Gott ist jemand, dessen Wort das bewirkt, was er beabsichtigt, und der nicht lügen kann (vgl. Tit 1,2). Das Problem radikaler Ungewissheit besteht darin, dass sie uns davon abhält, Gott zu vertrauen.

Aus geistlicher Perspektive ist dies äußerst gefährlich: Es entehrt Gott und verleitet uns dazu, uns auf uns selbst oder unsere Götzen zu verlassen. Leider ist dies auch äußerst verlockend, denn ich ziehe es vielleicht vor, mich auf mich selbst zu verlassen (mit all der Kontrolle und Selbstbehauptung, die Selbstvertrauen mit sich bringt) anstatt Gott zu vertrauen (mit der Demut und Abhängigkeit, die ein solches Vertrauen mit sich bringt).

Drittens verleitet mich radikale Ungewissheit dazu, an Jesus zu zweifeln: Sie lässt mich daran zweifeln, dass er ein vollkommener Gott ist, der Mensch geworden ist und behauptet, mir Dinge – insbesondere den Namen seines Vaters (vgl. Joh 17,6) – offenbart zu haben. Er hat uns vielleicht nicht alle Dinge im Himmel und auf Erden offenbart, aber er behauptet, offenbart zu haben, wer Gott ist.

Ist es eine Sünde, Gewissheit über Jesus zu haben? Definitiv nicht. Ist es eine Sünde, sich dafür zu entscheiden, hinsichtlich seiner Person, seiner Worte und seines Willens in Ungewissheit zu verharren? Ganz bestimmt. Natürlich kann Gewissheit an sich eine Sünde sein. Aber das gilt auch für vorsätzliche Ungewissheit. Das ist eine ebenso reale und – so fürchte ich – größere Gefahr.

Mehr: www.evangelium21.net.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

3 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments
Matze
22 Tage zuvor

Das ist ein sehr irritierender Artikel. Realität ist doch auf der einen Seite, dass wir immer wieder Zweifel und damit Ungewissheit haben. Das ist Teil von unserem Leben und damit ganz normal. Was noch viel wichtiger ist: in der Schrift heißt es, dass Gottes Geist in uns nach der Bekehrung bezeugt, dass wir seine Kinder sind und wir damit ewig bei Gott leben werden. Diese Gewissheit ist ein Geschenk, das wir nicht selbst erzeugen können. Dass diese beiden so wichtigen Punkte hier ausgeblendet werden ist schon eigenartig.

Schandor
20 Tage zuvor

Ist es eine Sünde, sich dafür zu entscheiden, hinsichtlich seiner Person, seiner Worte und seines Willens in Ungewissheit zu verharren? Ganz bestimmt.“

Was soll denn das für eine Entscheidung sein? Entweder man hat diese Gewißheit oder man hat sie nicht, aus Maus.
Wenn man sie hat, ist sie subjektiv (und kann natürlich richtig sein!).
Wenn man sie nicht hat, hat man sie subjektiv nicht (und kann trotzdem das Heil erlangen!).
So what? Die Bibel kann man so oder eben anders verstehen, und daraus folgt die Gewißheit — oder eben nicht. Die Kategorie „Sünde“ halte ich hier für verfehlt.
Gewißheit kann KEINE Sünde sein. Denn Gewißheit ist eine psychologisches Kategorie, über die man keine Macht hat.
Ich fürchte, die Gefahr besteht eher darin, anderen Christen das Leben schwer zu machen — das dürfte dem Autor ganz gut gelingen.

Kommentator
21 Stunden zuvor

Der Aufsatz befasst sich mit der Denkweise eines Menschen, der mit evangelikalen Überbetonung der Schrift aufgewachsen ist. Diese Denkweise kann nicht nachträglich erlernt werden, weshalb die Unterhaltungen mit Nichtevangelikalen (im Aufsatz die sogenannten „Nichtchristen“) regelmäßig unfruchtbar ausfallen.

Diese meisten Menschen konstruieren ihre Wahrnehmung der persönlichen Wirklichkeit aus unterschiedlichen Quellen (dazu kann auch eine Bibel gehören), aber nicht singulär aus einem „vox dei“. Letztere Konstruktion ist naturgemäß instabil und anfällig für Dekonstruktion, weshalb Zweifel mit moralischen Sündbegriffen aufgeladen werden, um das kritische Denken a priori auszuschalten.

Kennzeichnend für diese Denkweise ist auch, dass schon der Kontakt mit „bösen“ Gedanken als sündhaft gilt, womit der Dialog mit „Nichtchristen“ ebenso unmöglich wird, was wiederum dem Missionsbefehl widerspricht. Folglich tritt der missionierende Evangelikale in den Monolog, darf aber nicht zuhören. Die zwangsläufige Abwertung des „Nichtchristen“ ist die Folge. Genau letzteres ist dann die Sünde, die den Überzeugten vom Reich Gottes trennt.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner