Warum ist Adolf Schlatter mit seinem Ansatz gescheitert?

Warum ist Adolf Schlatter innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts ein Außenseiter geblieben? Peter Stuhlmacher meint, dass die Vernachlässigung der bibelkritischen Perspektiven Schlatter zeitlebens übelgenommen wurde. Zitat (Vom Verstehen des Neuen Testaments, 1986, S. 174):

Der Hauptgrund für Schlatters Isolierung lag also in seiner im Alleingang vorangetriebenen judaistischen und neutestamentlich-historischen Arbeit. Schlatter hatte sich nach einigen gescheiterten Anfangsversuchen aus der wissenschaftlichen Diskussion fast ganz zurückgezogen und begründete seine historischen Urteile so gut wie nie mehr in direkter kritischer Argumentation. Diese Urteile waren teils wegweisend, teils aber auch einfach traditionell und apologetisch konstruiert. Schlatter hat nicht nur zeitlebens die Priorität des Matthäusevangeliums gegenüber Markus und Lukas verfochten und in Einleitungsfragen einen ganz konservativen Standpunkt eingenommen, sondern er hat auch aus seiner Skepsis gegen die religionsgeschichtliche und traditionsgeschichtliche Erforschung der neutestamentlichen Texte keinen Hehl gemacht. Über all diese Probleme hat er jedoch noch mit sich reden lassen. Fundamental wurde sein Widerspruch gegen die liberale Exegese nur an einer einzigen, seiner Überzeugung nach alles entscheidenden Stelle. Schlatter insistierte darauf, daß schon der irdische Jesus der messianische Gottessohn gewesen sei, und warf allen Gegnern seiner Auffassung fehlendes historisches Sehvermögen vor. Da diese sich mit dem Gegenvorwurf mangelnder kritischer Urteilskraft revanchierten und ein direktes wissenschaftliches Gespräch nicht zustandekam, blieb der Gegensatz unausgetragen, und zwar bis in unsere Zeit herein. So wegweisend Schlatters Gesamtansatz aus dem Rückblick heraus erscheint, so sehr unterliegt er also bei der Ausarbeitung subjektiven und methodologischen Begrenzungen, die Schlatters Wirkung behindert haben. Erst wenn man in methodologischer Hinsicht frei über Schlatter hinauszufragen wagt, wird die Kraft seiner Gesamtkonzeption deutlich.

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Kommentator
2 Stunden zuvor

Bin schon gespannt, wie diese Diskussion weitergeht, wenn die bibelkritischen Neutestamentler in diesem Jahrhundert bei Marcionischer Priorität angekommen sein werden. Geht man demzufolge von einer Tora-ähnlichen Textschichtung des Neuen Testaments aus, kann man in der Theologie den Frühkatholizismus nicht mehr wegdiskutieren, da dann wesentliche Teile des heutigen Grundtextes aus der frühen Ekklesia („Kirche“, nicht „Gemeinde“) stammen würden.

Unterhaltsamerweise werden dann alle Seiten Federn lassen müssen: Bei einem dann mutmaßlich messianisch-jüdischen Paulus in der ältesten Textschicht ist die Rekonstruktion eines liberalen Hippie-Jesus ebenso wenig haltbar, wie die evangelikale Rekonstruktion einer von ihm gegründeten „Urgemeinde“, die sich der konservative Flügel wünscht.

Wir hätten dann vielmehr ein toratreues (homophobes, sklavereiphiles, frauenfeindliches) Judentum mit Passahmahl, das nahtlos in einen toratreuen (homophoben, slavereiphilen, frauenfeindlichen) Frühkatholizismus mit Eucharistie übergeht. Und nebendran noch eine Sammlung „Protestanten“ oder „Häretiker“ mit anderen Manuskripten, die ab dem 3. Jahrhundert weniger erfolgreich waren und daher heute gar nicht mehr offiziell zum Christentum gezählt werden. Oder wieder?

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