Akzente

Akzente, Film

Hollywood: Alles so woke hier

In dem Artikel Kino im Herzen habe ich im April 2021 darauf hingewiesen, dass die Filmindustrie eine Mission verfolgt. Ich schrieb damals:

Manche Jugendliche lassen sich von Filmen zeigen, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Diese Beobachtung ist erst einmal neutral gemeint. Es gibt Filme, die pädagogisch wertvoll sind, etwa indem sie die Liebe zu Tieren fördern oder dabei helfen, mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Filme werden genau wegen ihrer intensiven Wirkung dafür eingesetzt, bestimmte Vorstellungen über Religion, Familie, Gerechtigkeit, Lebenssinn oder Sexualität zu verstetigen. Sie transportieren gezielte Botschaften, häufig auf fast unmerkliche Weise (manchmal als „Subtexte“ bezeichnet). So nehmen sie Einfluss auf die Art und Weise, wie wir denken, fühlen und handeln. Sie stoßen quasi Verinnerlichungsprozesse an, bei denen die Haltungen filmischer Vorbilder von den Betrachtern übernommen werden.

Genau deshalb lassen sich Spielfilme wunderbar verzwecken. Tatsächlich orientieren sich immer mehr Einrichtungen der Unterhaltungsindustrie an Vorgaben, die von politischen oder kulturellen Institutionen eingefordert werden. So hat kürzlich die Oscar-Akademie bekannt gegeben, dass Filme ohne bestimmte inhaltliche Standards gar nicht mehr für die Kategorie „bester Film“ nominiert werden dürfen. Filmbeiträge sollen Themen behandeln, die sich um Frauen, Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder LGBT-Inhalte – also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans-Menschen drehen.

Die UFA hat sich als erstes deutsches Unternehmen kürzlich explizit zu mehr Diversität vor und hinter der Kamera verpflichtet. Als Orientierung dient dabei der Zensus der Bundesregierung: Ziel sei es, „den Anspruch von Diverstität, Inklusion, Chancengleichheit und Toleranz als Selbstverständlichkeit zu leben“. Die UFA fokussiert sich deshalb vorrangig auf Frauen, LGBTIQ*, People of Color sowie Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie will Diversität als Normalität zeigen, statt stereotypische Narrative durch Geschichten und Besetzung zu verstärken. Um die Zielsetzung der Selbstverpflichtung zu erreichen und alle Aktivitäten zu bündeln und voranzutreiben, „haben Mitarbeiterinnen einen internen Diversity-Circle gegründet. Dieser besteht aus Patinnen und Paten zu den vier Fokusthemen Gender, LGBTIQ, People of Color sowie Menschen mit Beeinträchtigungen“. 

Inzwischen gibt es erste Anzeichen dafür, dass die Menschen nicht bereit sind, diese Woke-Kultur langfristig mitzutragen. Der neue „Indiana Jones“ ist ein Kassenflop. Die Zuschauer haben keine Lust mehr auf Identitätspolitik im Kinosaal. Langsam scheinen das auch die Produzenten zu merken. Es gibt erste Entlassungen. Jörg Wimalasena schreibt für die WELT:

Und wie bei Lucasfilm läuft es auch in anderen Disney-Produktionen und anderen Konzernen. Wokeness regiert. Im Marvel-Universum hält die weibliche Version von Hulk (She-Hulk) Vorträge darüber, wie schwer es ist, eine Frau zu sein. Bei „Star Trek“ wird der weiße hochnäsige Sternenflotten-Offizier beim „mansplainen“ von einem Asteroiden getötet und in dem Amazon-Prequel zu „Der Herr der Ringe“, in dem Elben, Zwerge und Hobbits natürlich auch ethnisch divers sind, gibt Galadriel als wackere und praktisch unbesiegbare und unbeirrbare Heldin den Ton an.

Das Schema ähnelt sich in vielen Produktionen. Neben der Dekonstruktion des „alten weißen Mannes“ tauscht man häufig weiße durch schwarze oder asiatische Charaktere aus, oder macht aus männlichen Protagonisten weibliche. So gab es Neuauflagen der Heist-Filmserie „Ocean‘s Eleven“ mit weiblichen Hauptrollen und eine Frauenversion von „Ghostbusters“ (die floppte).

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Pädagogik, Akzente

Bindungstheorie und Identitätspolitik

Bindung beschreibt in der Bindungstheorie die emotionale Beziehung zwischen einem Kind und seinen primären Bezugspersonen, meist den biologischen Eltern. So bezeichnet man das Bindungsverhalten als jene Muster, die die Qualität einer Eltern-Kind-Bindung widerspiegeln. Die Bindungstheorie setzt voraus, dass Menschen ein natürliches Bedürfnis nach engen Beziehungen zu ihren Mitmenschen besitzen und Störungen dieser emotionalen Stress provozieren.

In dem Fachtext Grundlagen der Bindungstheorie von Karoline Kirschke und Kerstin Hörmann heißt es zur Bedeutsamkeit von Bindung:

In Bowlbys Buch „Bindung als sichere Basis“ verdeutlicht er „die unverzichtbare soziale Funktion der Eltern“ (Bowlby 2008, 3). Bowlby verweist dabei auf diverse Studien, die bestätigten, dass zufriedene, gesunde und selbstbewusste Jugendliche meist in stabilen Familien aufwuchsen, in denen sie viel Aufmerksamkeit und Zuwendung von den Eltern erhielten (vgl. Bowlby 2008, 3). Vor allem solche sicher gebundene Kinder seien in der Lage affektive Stressmomente zu bewältigen. Zudem seien sie im Unterschied zu unsicher gebundenen Kindern fähiger Probleme zu lösen, wenden sich aufmerksamer Aufgaben zu und besäßen ein ausgeprägteres Selbstwertgefühl. Je mehr ein Kind sich auf die Verfügbarkeit seiner Fürsorgeperson verlassen kann, desto mehr kann es sich Neugierde, Erkundungsdrang und dem Spiel hingeben. Durch die Fürsorge der Bindungsperson kann das Kind ein soziales Verhalten ausbilden, welches ihm erleichtert, positiven sowie negativen Situationen entgegenzutreten (vgl. König 2009, 101f.).

Die Erkenntnis über die wesentliche Bedeutung der elterlichen Fürsorge in den ersten Lebensjahren eines Kindes für dessen spätere seelische Gesundheit beschreibt Bowlby als enormen Fortschritt der Psychiatrie. Es bestünde Einigkeit darüber, dass die Basis für psychische Gesundheit und Charakterbildung bereits im frühkindlichen Alter entsteht.

Grundlage hierfür sei eine herzliche, innige und konstante Beziehung des Kleinkindes zu einer gleich bleibenden Bezugsperson – meist zur Mutter. Ein langfristiger, dauerhafter Entzug der mütterlichen Zuwendung wurde nach Bowlby als „Mutterentbehrung“ bezeichnet. Die Einschränkung des Kindes durch die Mutterentbehrung werde umso erheblicher, je weniger vertraut die stellvertretende Betreuungsperson dem Kind sei (vgl. Bowlby 2010, 11).

Nicht alle erfreut die neue Lust am bindungsorientierten Erziehen. Lisa Kreuzmann hat in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT sogar die These aufgestellt, dass das „Attachment Parenting“, wie es im Englischen heißt, unter Rechtsradikalen und Evangelikalen besonders gut ankäme, weil es in diesen Milieus sowieso schon die Faszination für ein biologistisches Familienbild sowie Vorbehalte gegenüber einer Fremdbetreuung von Kindern gäbe.

Zitat:

Die Bindungsorientierung ist von Anfang an mehr als ein feinfühliger Erziehungsstil achtsamer Eltern gewesen. Mit ihrer Rückbesinnung auf vermeintlich natürliche Instinkte von Müttern bietet sie ein offenes Tor für mütterverherrlichende Glaubenssätze.

Der Artikel enthält viel Stoff für eine sachlich-kritische Bewertung und ich hoffe, dass sich jemand damit auseinandersetzt. Auf ein Phänomen möchte ich hier schon mal hinweisen. Gern wird identitätspolitisch argumentiert. So wird unter Berufung auf eine schwedische Forschungsarbeit der bindungsorientierten Elternszene im deutschsprachigen Raum vorgeworfen, dass zu ihr vor allem weiße Frauen aus der Mittelschicht gehörten. Ich zitiere:

Eine schwedische Forschungsarbeit University aus dem Jahr 2022 hat deutschsprachige Onlinedebatten innerhalb der bindungsorientierten Elternszene untersucht und festgestellt: Die Szene ist entgegen ihrer lautesten Stimmen mehrheitlich weder liberal noch divers. Es sind vor allem weiße Frauen aus der Mittelschicht, die dort aushandeln, was Mutterschaft bedeutet, wer Verantwortung für die Kinder trägt und was daraus folgt. Darunter nur wenige Mütter, die sich als Feministinnen oder Antirassistinnen verstehen, heißt es in der Studie. Dagegen viele Frauen, für die Mutterschaft der eigenen Selbstheilung im Sinne der esoterischen New-Age-Bewegung dient, und die laut Studie in Teilen neurechte Verschwörungserzählungen verbreiten. Und schließlich Frauen, denen es darum geht, die traditionelle Mutterrolle zu ehren. Die Rhetorik von der sicheren Bindung wird dort gezielt herangezogen, um konservative und oftmals mütterzentrierte Politik zu machen, die in Teilen von einem biologistischen Familienbild geprägt ist.

Man wundert sich, dass im deutschsprachigen Raum auf Instagram vor allem weiße Frauen angetroffen werden (die – ach du Schreck – auch noch in deutscher Sprache kommunizieren). Wen erwartet man denn da? Apropos Forschungsarbeit. Es gibt nur eine Autorin. Es handelt sich um die Masterarbeit „Attachment-Oriented Motherhood and the German New Right on Instagram“ im Fach Gender Studies. Datenbasis sind 45 Instagram-Posts und die dazugehörigen Kommentare. Kann man machen. Aber sollte so ein Projekt dafür herangezogen werden, die bindungsorientierte Erziehung zu kritisieren?

Eine konstruktiver Diskurs sieht meiner Meinung nach anders aus. Ich habe den Verdacht, dass Lisa Kreuzmann ungewollt schon im ersten Absatz ihres ZEIT-Beitrags offenlegt, was sie an den Eltern, die sich gern selbst um ihre Kinder kümmern, doof findet:

Wenn Romy Richter vom „natürlichen Bindungsbedürfnis“ eines Kindes spricht, spricht sie von Gott, von Hingabe und von Gefolgschaft. „Gott hat Familie geschaffen und er hat Freude daran, wenn Eltern sich hingebungsvoll um seine Schöpfung kümmern“, sagt die selbstständige Referentin für Bindung aus Chemnitz. Mit ihrem Verein Nestbau setzt sie sich für ein Familienmodell ein, das politisch nicht mehr gewollt sei: eine Mutter, die in den ersten drei Lebensjahren bei ihrem Kind ist – und nicht im Beruf. „Kitas sind ein Konkurrenzangebot zur sicheren Mutter-Kind-Bindung, das scheint vielen nicht bewusst zu sein“, sagt die 42-Jährige. Eltern und vor allem Müttern möchte die evangelische Christin, die selbst Mutter ist, Mut machen, einen anderen Weg zu gehen. „Wenn Eltern ihre Kinder prägen wollen, wenn sie wollen, dass sie ihnen folgen, loyal sind und zu ihnen aufschauen, brauchen sie die Bindung“, sagt Romy Richter. Und dazu gehöre es mitunter, dass eine Mutter ihre Bedürfnisse zugunsten kleiner Kinder auch mal hintanstellt.

Hier der Artikel (hinter einer Bezahlschranke): www.zeit.de.

Gesellschaft, Akzente, Ethik

Die Repressionsthese auf dem Prüfstand

Schon in seiner kulturtheoretischen Abhandlung „Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität“ (enthalten in: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, 5. Aufl., Fischer, 2018) aus dem Jahre 1908 stellt Sigmund Freud einerseits die These auf, dass die Bändigung, Umleitung oder Veredlung des Sexualtriebs zur Kulturentwicklung beiträgt (Sublimierung). Andererseits behauptet er, dass der Triebverzicht gleichwohl psychische Erkrankungen fördert (er sprach von „Nervosität“). Die Neurose ist das negative Pendant zur Perversion, „weil sie dieselben Neigungen wie die positiv Perversen im ‚verdrängten‘ Zustand enthalten“ (S. 120).

Für Freud produziert die Sexualität selbst keine inneren Konflikte, wenn sie auf natürliche Weise ausgelebt wird. Erst durch die Regulierung mittels gesellschaftlicher Normen kommt es zu Spannungen und innerer Zerrissenheit. Die gesellschaftliche Repression der Triebe führe zu seelischen Erkrankungen (Repression). Das klingt dann so (S. 123):

Wer in die Bedingtheit nervöser Erkrankung einzudringen versteht, verschafft sich bald die Überzeugung, daß die Zunahme der nervösen Erkrankungen in unserer Gesellschaft von der Steigerung der sexuellen Einschränkung herrührt.

Anders gesagt: Um so weniger die Sexualität eingeschränkt wird, desto seltener treten nervöse Erkrankungen auf.

Freud war dennoch nicht dafür, Sexualität ungehemmt auszuleben. Das forderte erst später sein Schüler Wilhelm Reich. Ulrich Gutmair, Kulturredakteur der taz, schreibt:

Reich entwickelte aus der Freud’schen Idee der Libido eine psychosomatische Theorie. Er verstand psychische Strukturen als erstarrte Energie, die es freizusetzen gilt, um Panzerungen in Körper und Charakter zu lösen. Er war seiner Zeit voraus. Massenhaft suchten Patienten die sexualhygienischen Beratungsstellen auf, die Reich erst in Wien, dann in Berlin betrieb.

Aber sind die nervösen Erkrankungen mit der sexuellen Befreiung zurückgegangen?

Schauen wir mal nach Berlin. Sarah Obertreis hat kürzlich in der FAZ den interessante Artikel „Wo Monogamie out ist“ veröffentlicht. Sie zeigt dort anhand von Umfrageergebnissen und Beispielen, dass in der Hauptstadt die Verbindlichkeit in den Beziehungen verloren gegangen ist wie in keiner anderen Stadt Deutschlands. Sie schreibt:

Berlin ist nicht wie andere Millionenstädte. Es ist schnelllebiger, anarchischer und diverser als München, Köln oder Hamburg. Hier zählt das Leben oft mehr als die Arbeit – und Geld nur, wenn es mal nicht für die Miete reicht. Sesshaft zu werden sei hier viel schwerer als anderswo, konstatiert eine Psychologin. Was das für Auswirkungen hat, lässt sich in einem Lebensbereich besonders gut beobachten: dem Dating. Dutzende Umfragen zeigen: In der Hauptstadt folgt die Liebe anderen Gesetzen als im Rest der Republik.

Tatsächlich zeigen Statistiken: Berlin ist die Stadt der Partnerlosen. Je nachdem welche Studien man liest, reichen die Schätzungen von 30 bis 50 Prozent Singles. Gleichzeitig gibt es hier so viele junge und so viele offen queere Menschen wie kaum an einem anderen Ort in Deutschland. Sie treffen sich auf den Tanzflächen, in den Cafés, Parks und den berühmt-berüchtigten Sexclubs der Stadt. Oft zählt dabei der Austausch von Körperflüssigkeiten mehr als der Austausch von Gedanken.

Bei so viel ungehemmter Sexualität in der Hauptstadt erwartet man eigentlich – vorausgesetzt an Repressionsthese ist was dran, dass es dort deutlich weniger psychische Erkrankungen gibt als anderswo. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wie aus einem DAK-Report hervorgeht, gibt es in keinem anderen Bundesland es so viele Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen wie in Berlin/Brandenburg (vgl. a. hier).

Natürlich soll das keine Widerlegung der Repressionsthese sein. Es soll lediglich dazu anregen, vielleicht mal darüber nachzudenken, ob wir für unverbindliche Sexualität einen sehr hohen Preis zahlen, der auch die „Nervosität“ betrifft.

Der letzte Absatz im Artikel „Wo Monogamie out ist“ zeigt übrigens, dass bei so viel Unverbindlichkeit in Beziehungsfragen die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Bindung zurückkehrt:

Deswegen erzählen Menschen wie Falk, die trotz allem eine glückliche verbindliche Beziehung gefunden haben, davon auch wie von einem Lottogewinn: ziemlich stolz, aber auch ein bisschen ungläubig und fast schon verschämt. Falk hat seine Freundin über Bekannte kennengelernt, nach ein paar Monaten fragte er: Könntest du dir eine Beziehung vorstellen? Sie antwortete: Ja, aber nur eine offene. Diesmal war Falk nicht bereit, seine Grenzen zu verschieben. Sie wurden trotzdem ein Paar, weil ihre Lust auf Falk größer war als die auf eine offene Partnerschaft. Und es fühlt sich für ihn gut an: „Jetzt bin ich seit sieben Monaten in einer ganz stinknormalen Beziehung und denke: Wow, ist Monogamie geil!“

Akzente, Praktische Theologie, Zeitgeist

Abendmahl to go?

Gerald Felber hat in dem FAZ-Artikel „Hilft ein ‚Abendmahl to go‘?“ die Misere der großen Kirchen in Deutschland sehr anschaulich beschrieben. Der Mitgliederschwund ist gewaltig. Experten rechnen damit, dass „zeitnah mindestens ein Drittel der aktuell reichlich 130.000 Kirchenimmobilien beider großer Konfessionen in Deutschland aufgegeben werden müssen“. Gegensteuern möchte man mit modernen Gottesdienstformen. 

Vorschläge dafür kommen etwa von Christian Grethlein (zur Kritik an seinem Konzept der „Kommunikation des Evangeliums“ siehe hier). Er empfiehlt, die gewohnten liturgischen Ordnungen zu durchbrechen und digitale Kanäle aufzuwerten: 

„Abendmahlsvergessenheit“ etwa, verstanden als Fremdeln mit oder gleich gänzliche Abwendung von der kollektiven Feier im Kirchenraum, erscheint zuerst als resignativer und fast schon dystopischer Begriff. Wenn man allerdings dem Theologen Christian Grethlein folgt, kann der scheinbare Verlust durchaus auch in neue Qualitäten umschlagen, die durch die Corona-Jahre mit ihren tiefen Einschnitten womöglich sogar forciert worden sind: Abendmahlsfeiern im häuslichen Rahmen oder „to go“ aus vorgepackten Tüten; digitale Vernetzungen, die schon ziemlich bald mehr bedeuteten, als nur eine Übertragungskamera auf den Zelebranten zu richten, sondern zum kommunikativen Austausch in den sozialen Netzwerken (bis hin zum „christlichen Yoga“) werden konnten.

Gewohnte liturgische Ordnungen lösen sich auf. Gemeinsam ist ihnen, dass solches Agieren in „multilokalen, mehrgenerationalen Familien“ (Grethlein) mit den gewohnten liturgischen Ordnungen oft nur noch randständig zu tun hat; doch als gelebtes, individuell ausgefülltes Christsein wird man auch solche „wilden Ränder“ – der Begriff kam am letzten Tag aufs Tapet und überspannte viele vorherige Ansätze – sehen dürfen.

Alexander Deeg fordert mehr Mut, im Gottesdienst die eigenen Zweifel zu artikulieren und gemeinsam auf die Suche zu gehen. Felber schreibt: 

Aufregender und zeitgemäßer schien jedenfalls die Idee des Leipziger Theologen AlexanderDeeg zu einer „paradoxen Gottesdienstwerbung“, die genau das schwierig zu Durchschauende, Anstrengende und Vertrackte theologischer Vermittlung als Herausforderung für die Besucher in den Mittelpunkt stellt. Öfter wiederkehrend wurde der Mut beschworen, auch eigene Zweifel zu artikulieren, Fragen offenzulassen, mit Kollegen undGläubigen gemeinsam auf die Suche zu gehen, statt allein dem – scheinbar? – Bewährten und gefestigten Dogmen zu trauen. Jenes letztlich Unverfügbare, das den „Überschuss“ des Glaubens gegenüber einem ökonomisch-pragmatisch strukturierten Alltag und seine Feier im Gottesdienst als – so Deeg – „heilsame Unterbrechung der Logiken dieser Welt“ konstituiert, könnte dann besser zu fassen und zu vermitteln sein: transformativ gedacht, mit oszillierenden Phänomenen statt linearen Entwicklungen rechnend. Man wird es hören und sehen.

Das ist ja alles nicht neu. Vieles davon haben wir zum Beispiel im Kontext der Emerging Church-Debatte schon einmal gehört. Die Verzweiflung muss also wirklich sehr groß sein, wenn man hier zukunftsweisende Konzepte erwartet. Wir müssen keine zehn Jahre beobachten, um zu wissen, wie das ausgeht. Wir hören und sehen jetzt schon, dass mit der Aufgabe der festen biblischen Evangeliumsverkündigung die Kirche auf ihrem Weg in die Bedeutungslosigkeit protegiert wird.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Seelsorge, Akzente

Depression oder Faulheit?

Jay Adams (vgl. hier) gehörte zu den Pionieren der sogenannten „Biblischen Seelsorge“. Wir haben ihm viele hilfreiche Anregungen zu verdanken und können verzeihen, wenn er als Missionar der „nouthetischen Seelsorge“ manchmal provoziert hat oder über das Ziel hinausgeschossen ist. Gelegentlich fällt mir das freilich schwer. Gestern las ich in einer relativ frischen Publikation folgenden Absatz (Jay E. Adams, Critical Stages of Biblical Counseling, 2020, Kindle Version, Pos. 772–773, meine Übers.):

Ein ähnlicher Weg aus einer Depression (die schnell und nachhaltig sein kann) besteht darin, sich einzubringen und die aufgegebenen Aufgaben wieder zu übernehmen. Das wird den gewünschten Stimmungsumschwung herbeiführen. Aber der Ratsuchende sollte nicht nur versuchen, sich besser zu fühlen. Vielmehr sollte er in erster Linie den Wunsch haben, seine Verantwortung zur Ehre Gottes wahrzunehmen. Ein depressiver Mensch (dessen Schlagwort „kann nicht” ist) ist im Reich Gottes nutzlos. Er hat „aufgegeben”. Er muss die Worte aus 1. Korinther 15,58 hören. Gott zu dienen ist nie vergeblich; wir können immer erreichen, was er von uns verlangt, wenn wir uns seiner Weisheit und Kraft bedienen. Der Gläubige hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Er wird gebraucht. Er darf sich nicht vor seiner Verantwortung dort (Galater 6,5) oder gegenüber seiner Familie und seinem Arbeitgeber drücken. Das muss er ja auch nicht. Aufgeben ist nichts, was man jemals tun muss. Lassen Sie Ihren depressiven Ratsuchenden wissen, dass sich sein Zustand noch in dieser Woche ändern kann, wenn er bereit ist, dies zu tun. Finden Sie heraus, was er in den verschiedenen Bereichen seines Lebens versäumt hat, und stellen Sie einen Plan auf, wie er zumindest einige dieser Bereiche sofort in Angriff nehmen kann. Je kleiner der Stapel an Arbeit wird, desto besser wird seine Laune!

Adams verwechselt hier Faulheit mit einer Depression. Dem Faulen sagen wir (Spr 6,6–9):

Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise! Wenn sie auch keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, so bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte. Wie lange liegst du, Fauler! Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?

Einem Menschen, der mit einer mittelschweren oder schweren Depression zu kämpfen hat, wird so ein Appell selten helfen; noch wird er die Kraft haben, einfach loszulegen. Vorauszusetzen, dass er einfach nur faul ist, also kann, aber nicht will, mag hin und wieder sogar die Stimmung der Verzweiflung steigern. Denn eigentlich möchte ein Depressiver aufstehen, kann es aber nicht.

Da ist aber noch etwas: „Ein depressiver Mensch … ist im Reich Gottes nutzlos.“

Darf man das so sagen? Würde Adams auch sagen: „Ein behinderter Mensch, der täglich auf die Fürsorge anderer angewiesen ist, ist nutzlos im Reich Gottes“? Ich hoffe nicht! Gott gebraucht Menschen, die keine gute Performance aufweisen. Ein Depressiver hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Im Reich Gottes ist es eben nicht so, dass wir mal eben einen Schalter umlegen und schon ändert sich der Zustand. Manche müssen lange auf Besserung warten. Diese Zeiten des Wartens können können sogar geistlich wertvoll sein. Wir wissen aus der Kirchengeschichte, dass viele Diener Gottes mit depressiven Stimmungen und Episoden zu kämpfen hatten, darunter Luther oder Spurgeon (vgl. hier).

Der Beter in Psalm 43 hat eine vorbildliche Einstellung. Er befahl seine eigene Seele mit ihrer tiefen Unruhe und Verzweiflung angesichts von erfahrenem Unrecht und Verrat dem lebendigen Gott an: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meine Rettung und mein Gott ist!“ (Ps 43,5). Er gab also nicht auf, sondern schüttete sein Herz vor Gott aus. Auch für diesen Beter hatten seine Gefühle nicht das letzte Wort. Er befahl sie seinem Herrn an und konnte geduldig und hoffnungsvoll warten – bis Gott Rettung bringt.

Philosophie, Akzente, Recht

„Die wahre Quelle allen Rechtes“

Nach Auffassung des sogenannten Rechtspositivismus gilt als Recht allein das, was der Gesetzgeber als solches verabschiedet hat. Eine Beurteilung des Rechts an moralischen Maßstäben verbietet sich in rechtspositivistischen Gesellschaften, weil es keine einheitlichen Moralvorstellungen gibt. Jegliches Recht ist von Menschen gemacht. Falls diese meinen, wir brauchen ein neues Ehe- und Familienverständnis, dann wird eben ein „Ehe für alle“-Gesetz beschlossen.

In Abgrenzung zu diesem Rechtspositivismus vertritt das Naturrecht, dass Recht und Moral nicht so einfach voneinander getrennt werden kann. Etwas ist Recht oder Unrecht, weil es uns mit der Natur gegeben ist. Eltern die Kinder wegzunehmen, ohne das es dafür schwerwiegende Gründe gibt, ist demnach Unrecht – egal was das positive Recht dazu sagt. Alle vom Menschen gemachten Gesetze müssen an der Moral gemessen werden. Nur Gesetze, die diesen moralischen Ansprüchen des Naturrechts genügen, können den Anspruch erheben, befolgt zu werden. So waren viele Gesetze der Nationalsozialisten – etwa die Rassengesetze – objektives Unrecht.

Die „modernen Gesellschaften“ haben sich weitgehend von einem höheren Gesetz oder einer höheren Ordnung verabschiedet. Der Mensch tritt als alleiniger Gesetzgeber auf. Das macht es Despoten leicht, ihre eigenen Interessen auch rechtlich durchzusetzen. Sie haben in den Augen der Positivisten schlichtweg andere Werte. Mangels eines übergeordneten Maßstabs ist es im strengen Sinne unmöglich, zu behaupten, irgendein Wertsystem sei besser als ein anderes.

Der Philosoph Robert Spaemann (1927–2018), selbst Verfechter einer Naturrechtsposition, hat einmal anhand eines persönlichen Erlebnisses demonstriert, dass der Rechtspositivismus eine „Schönwettertheorie“ ist. Spaemann schreibt in „Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht?“ (in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 27–34, hier S. 27):

Nach dem Krieg hörte ich in Münster auf dem Domplatz eine Predigt des Kardinals von Galen vor dem zerstörten Dom. Der Domplatz war schwarz vor Menschen, und der damalige Bischof, Clemens August, sagte: „Eurer Liebe verdanke ich mein Leben.“ Dann fügte er mit donnernder Stimme hinzu: „Was wir jetzt erlebt haben, die Tyrannei, die Unterdrückung, die Zerstörung, das alles war die Strafe Gottes für das, was die Deutschen 1919 an den Anfang ihrer Verfassung gestellt haben: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.’ Jetzt haben wir die Staatsgewalt kennen gelernt, die vom Volke ausgeht. Es wird Zeit, dass wir uns besinnen auf die wahre Quelle allen Rechtes.“

Nach den grauenhaften Tyranneien des 20. Jahrhunderts ist der Rechtspositivismus eigentlich kaum zu retten. Er ist eine Schönwettertheorie. Er entzieht der Verurteilung von Staatsverbrechen jede objektive Grundlage. Wenn der Wille des Gesetzgebers an keinen ihm vorgegeben Maßstab des Richtigen und des Falschen, des Guten und des Schlechten gebunden ist, und wenn die Verkündigung im Gesetzblatt eines Staates die höchste Legitimation der Gesetze ist, dann kann es keine Rechtfertigung geben, die den Bürger auf irgend eine Weise im Gewissen binden kann.

Akzente, Ethik, Zeitgeist

Simulierte Liebe

Erich Fromm, der sich übrigens mit seinem ehemaligen Kollegen bei der Frankfurter Schule, Herbert Marcuse, zutiefst zerstritten hatte, schrieb einmal über den „Beziehungsbetrieb“ der Moderne/Spätmoderne (Jeffries, Grand Hotel Abrund, 2019, S. 354):

Wir leben in einem Zeitalter von Wegwerf-Lovern, in dem ausgeklügelte sexuelle Lust die Unvorhersehbarkeit der Liebe verdrängt hat, in dem die Suche nach Liebe etwas Ähnliches geworden ist wie Shoppen, und in dem wir von der Liebe verlangen, was wir auch von unseren anderen Einkäufen erwarten – Neuheit, Abwechslung, Verfügbarkeit.

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist voll auf diesen Zug der redundanten Beziehungsethik aufgesprungen. Die Lust, das Vergnügen, der Konsum, das sexuelle Abenteuer gehen aus ihrer Sicht völlig in Ordnung. Zwei Beispiele: Das Portal der Kirche feiert einen Pfarrer, der nebenberuflich im Gemeindesaal als Drag-Queen auftritt und die Kundschaft dabei von der Jugendgruppe bewirten lässt. Einfach super! Und Pastor Max besucht den Dominus André, der seit neun Jahren in der Rotlichtszene „Sexarbeit“ leistet und ist – wie vorhersehbar – von seinem engagierten Einsatz begeistert. Es sei sehr wichtig, immer noch vorhandene Vorurteile abzubauen. Alle sexuellen Spielarten, egal ob SM oder Blümchensex, sind für Max völlig legitim. Es sei wichtig, dass wir darüber reden. 

Wie billig, durchschaubar und oberflächlich das alles ist, können uns sogar die linken Soziologen und Philosophen der Frankfurter Schule vor Augen malen. Es ist im Grunde der Versuch, auf dem Markt zu bleiben. Die Kirche will den Anschluss nicht verlieren und dockt an die Wünsche und Begehren der Menschen an.

Aber die Kirche schafft sich dabei ab. Gott hat seinem Volk die Möglichkeit eröffnet, tiefer zu schauen. Der Heilige Geist wurde nicht gesandt, um Sünde zu feiern oder zu propagieren. Der Heilige Geist ist gekommen, damit er die Welt von Sünde, Gerechtigkeit und Gericht überführt (vgl. Joh 16,8). In einer Kirche, die Gesetz und Evangelium verwirft, zieht sich Gottes Geist zurück und überlässt die Menschen „den Begierden ihrer Herzen“ (vgl. Röm 1,24). 

Philosophie, Akzente, Geschichte

Antonio Gramsci: Die organischen Intellektuellen

GramsciDer Grünen-Politiker Volker Beck sagte einmal über seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter (Das Parlament, 06.04.2009, S. 6):

Ich bin Parlamentarier, weil das Parlament der Ort ist, an dem man gesellschaftliche Anliegen durchsetzen kann, und wenn die Zeit noch nicht reif ist, sie solange auf die Tagesordnung setzen kann, bis man Gehöhr findet.

Das klingt nett. Als Volksvertreter möchte er gesellschaftliche Anliegen durchsetzen. Dafür ist er ja da, könnte man meinen. Wir gestehen ihm selbstredend zu, dass er grüne Interesse vertritt – nicht etwa die der FDP.

Doch in dem Zitat steckt mehr als das, was durch Artikel 38 des Grundgesetzes gedeckt ist. In der Verfassung ist davon die Rede, dass Parlamentarier „Vertreter des ganzen Volkes“ sind. Bei Beck klingt durch, dass er im Parlament auch jene Anliegen durchsetzen kann, die das Volk noch gar nicht kennt. Er setzt eine gewisse Erleuchtung voraus. Er weiß mehr als die Menschen in der Gesellschaft – und er weiß es besser. Er gehört zu jener Elite, die die einfachen Menschen in eine gute Zukunft führt. Nach seinem Selbstverständnis ist er dafür da, das Bewusstsein der Unerleuchteten zu beeinflussen, damit sie irgendwann das tun, was er will.

Karl Marx und Friedrich Engels gingen noch davon aus, dass das Proletariat quasi auf natürliche Weise siegt. Aus ihrer Sicht war es eine historische Notwendigkeit, dass das kapitalistische System eines Tages kollabiert. Das einfache Volk würde selbstständig ein Bewusstsein für die Sache der Revolution entwickeln.

Marx hat freilich nie erklären können, wie diese Entwicklung des proletarischen Selbstbewusstseins vonstattengehen soll. Diese Lücke wurde durch die Ereignisse der Geschichte noch verfänglicher: Im Europa des frühen 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass Krisen im Weltkapitalismus allein nicht ausreichen, um das notwendige „Klassenbewusstsein“ zu schaffen (vgl. dazu Carl Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, 2022, S. 270–273).

Hier kommt der kommunistische Philosoph Antonio Gramsci (1891–1937) ins Spiel. Der Italiener arbeitete in seiner Gefängniszelle eine Lösung für diese theoretische und praktische „Lücke“ aus.

Er entwickelte den Begriff der „organischen Intellektuellen“. Demnach repräsentieren die Philosophen, Schriftsteller, Professoren usw. keine eigene Klasse, sondern sie sind dafür da, die einfachen Menschen an das neue Bewusstsein heranzuführen. Sie nutzen die gesellschaftlichen Institutionen wie Hochschulen, Medien oder auch die Politik, um das Bewusstsein für eine marxistische Umgestaltung der Gesellschaft herzustellen.

Sogar der von Rudi Dutschke beschworene „Marsch durch die Institutionen“ ist letztlich eine Methode, die auf den Einfluss von Antonio Gramsci zurückgeht, auch wenn es Dutschke eher um eine Zerstörung der traditionellen Institutionen als um die politische Machtübernahme gegangen ist. Liegen die Hebel der kulturellen Macht erst einmal in den richtigen Händen, ist der Weg für die Bildung eines angemessenen politischen Selbstbewusstseins frei. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte man allerdings eine erleuchtete Vorhut, die sich von der Masse unterscheidet. Das sind die Intellektuellen. Sie nutzen Einrichtungen wie Parlamente, um ein neues Bewusstsein und neue Gesetze zu schaffen, die dann zur Transformation der Gesellschaft führen.

Es liegt auf der Hand, dass diese Elite ein großes Interesse daran hat, auch die Schulen, Medienhäuser und Kirchen für diese Transformation einzuspannen, da in ihnen eine enorme kulturelle Prägekraft liegt. Kurz: Wir müssen die Kirchen nicht schließen, sondern dafür sorgen, dass sie unsere gottlosen Interessen vertreten.

Nachfolgend einige Gramsci-Zitate (Antonio Gramsci, Erziehung und Bildung, 2004):

Kritisches Selbstbewusstsein bedeutet geschichtlich und politisch Schaffung einer Elite von Intellektuellen: eine menschliche Masse unterscheidet sich nicht und wird nicht ‚per se‘ unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisatoren und Führer, das heißt, ohne dass die theoretische Seite des Theorie-Praxis-Nexus sich konkret ausdifferenziert in einer Schicht von Personen, die auf die begriffliche und philosophische Ausarbeitung spezialisiert sind. Aber dieser Prozess der Schaffung der Intellektuellen ist lang, schwierig, voll von Widersprüchen, von Vorstößen und Rückzügen, von Zersplitterungen und Neugruppierungen, in denen die ‚Treue‘ der Masse (und die Treue und die Disziplin sind anfänglich die Form, welche die Unterstützung der Masse und ihre Mitarbeit bei der Entwicklung des gesamten kulturellen Phänomens annehmen) mitunter auf eine harte Probe gestellt wird. Der Entwicklungsprozess ist an eine Dialektik Intellektuelle-Masse gebunden; die Intellektuellenschicht entwickelt sich quantitativ und qualitativ, aber jeder Sprung zu einer neuen ‚Ausdehnung‘ und Komplexität der Intellektuellenschicht ist an eine entsprechende Bewegung der Masse von Einfachen gebunden, die zu höheren Kulturniveaus aufsteigt und zugleich ihren Einflussbereich ausweitet, mit individuellen Vorstößen oder auch solchen von mehr oder weniger wichtigen Gruppen in Richtung auf die Schicht der spezialisierten Intellektuellen. (S. 106–107)

Man muss die Wichtigkeit und die Bedeutung hervorheben, die in der modernen Welt die Parteien bei der Ausarbeitung und Verbreitung der Weltauffassungen haben, da sie wesentlich die diesen konforme Ethik und Politik ausarbeiten, also quasi als geschichtliche ‚Experimentatoren‘ dieser Auffassungen fungieren. Die Parteien lesen die handelnde Masse individuell aus, und die Auslese erfolgt zusammen auf praktischem wie auf theoretischem Gebiet, mit einem desto engeren Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, je mehr die Auffassung vital und radikal erneuernd und antagonistisch zu den alten Denkweisen ist. Daher kann man sagen, dass die Parteien die Erzeugerinnen der neuen integralen und ganzheitlichen Intellektualitäten, das heißt der Schmelztiegel der als wirklicher geschichtlicher Prozess verstandenen Vereinigung von Theorie und Praxis sind, und es wird klar, wie notwendig die Bildung über individuelle Mitgliedschaft und nicht nach dem ‚Labour‘-Typ ist, denn wenn es sich darum handelt, organisch ‚die gesamte ökonomisch aktive Masse‘ zu führen, handelt es sich darum, sie nicht nach alten Mustern zu führen, sondern indem man erneuert, und die Erneuerung kann in ihren ersten Stadien die Masse nur vermittels einer Elite ergreifen, bei der die der menschlichen Tätigkeit innewohnende Auffassung bereits zu einem gewissen Grad aktuelles kohärentes und systematisches Bewusstsein und genauer und entschlossener Wille geworden ist. (S. 107)

Die Schule in all ihren Stufen und die Kirche sind in jedem Land die beiden größten kulturellen Organisationen nach der zahlenmäßigen Stärke des von ihnen beschäftigten Personals. Die Zeitungen, die Zeitschriften und der Buchhandel, das Privatschulwesen, sei es als Ergänzung der staatlichen Schule, sei es als Kulturinstitutionen vom Typ der Volkshochschule. Andere Berufe umschließen in ihrer spezialisierten Tätigkeit einen nicht unerheblichen kulturellen Anteil, wie derjenige der Ärzte, der Armeeoffiziere, des Richterstandes. (S. 109)

Akzente, Gesellschaft, Zeitgeist

Schwarz-Rot-Gold ist wie der Regenbogen

Wenn durch Umdeutung ein Geschehen, ein Zeichen oder ein Begriff eine andere Bedeutung oder einen neuen Sinn zugewiesen bekommt, indem man das Geschehen, das Zeichen oder den Begriff in einen neuen Kontext stellt, nennt man das Reframing. Das Reframing ist heutzutage sehr beliebt, auch in der Theologie oder in der Ethik. Man spricht von „Sünde“ oder „Familie“, meint damit aber etwas ganz anderes als das, was diese Begriffe im christlichen Kontext über Jahrhunderte hinweg bedeutet haben. Sünde ist etwa nicht mehr Übertretung des göttlichen Gebots und damit Auflehnung gegen Gott, sondern selbstschädigendes Verhalten. 

Ein wunderschönes Beispiel für politisches Reframing bietet (wahrscheinlich unfreiwillig) aktuell der sächsische Ministerpräsident. Auf die Frage, was er von der Regenbogenflagge auf dem Reichstag hält, antwortet Michael Kretschmer dem Magazin Cicero:

Die deutschen Nationalfarben, Schwarz-Rot-Gold, drücken genau das aus, was auch die Farben des Regenbogens zeigen sollen. Unser Land steht genau für diese Freiheit, steht für Gleichberechtigung, für die Vielfalt der Lebensentwürfe. Dafür weht unsere schwarz-rot-goldene Flagge über dem Reichstag. Ein selbstbewusstes Statement: Die schwarz-rot-goldene Flagge bleibt hängen, weil sie die Farben des Regenbogens sozusagen mit enthält.

Kretschmer legt übrigens noch nach und bekennt, dass er den CSD klasse findet: „Und ich bin auch schon beim Christopher Street Day gewesen. Unsere Junge Union ist mit einem Wagen dabei gewesen. Die jungen Leute hatten unglaublich viel Spaß, und das freut mich. Wir leben in einem offenen Land, in dem vieles möglich ist.“

Bei so viel Euphorie darf man fragen: Was spricht eigentlich dagegen, die Regenbogenflagge als Flagge der Bundesrepublik Deutschland anzunehmen? Irgendwie steht doch der Regenbogen auch noch für die Einheit des Volkes und politische Mitbestimmung, und er steht auch für die Prioritäten des politischen Tagesgeschäfts.

Ethik, Akzente

Sex vor der Ehe

Ein junges, verlobtes Pärchen kämpft mit der Frage, ob Sex vor der Ehe in Ordnung ist und wendet sich deshalb an einen evangelischen Pfarrer, der auf evangelisch.de seine Antwort öffentlich macht. Der Geistliche schreibt dort unter anderem:

Wenn jemandem wichtig ist, dass die Ehe allein der Ort für Sex ist, wird dieser jemand immer Argumente dafür finden. Das gilt insbesondere, wenn dieser jemand ein frommer Mensch ist und die Bibel als Argumentationshilfe nutzt. Das Problem dabei ist, dass dabei eigene Moralvorstellungen unhinterfragt auf antike Texte übertragen werden. Redlicher ist es, die Texte genau anzuschauen und zu erkennen, was sie aus sich selbst heraus sind. 

Und weiter schreibt er:

Die Bibel dafür heranzuziehen, Paaren zu verbieten, vor der Ehe Sex zu haben, empfinde ich als unredlich gegenüber der Bibel selbst. Besonders ärgerlich werde ich, wenn diese Menschen sagen, sie würden die Bibel ernst nehmen, weil sie ja eindeutig sei. Wer das behauptet, meint in der Regel die eigene Auslegung und nicht die Bibel. Wie ich bereits schrieb: Die Moral steckt nicht im Hohenlied, sondern in den Köpfen der Interpretierenden. 

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man diese seelsorgerische Antwort mit Humor nehmen. Zu offensichtlich macht der Pfarrer genau das, was er den (aus seiner Sicht) unaufrichtigen Bibellesern unterstellt: „Das Problem dabei ist, dass dabei eigene Moralvorstellungen unhinterfragt auf antike Texte übertragen werden.“ Mit einer Geste der Überlegenheit und Reife projiziert er seine Vorstellungen zur Sexualität (die – so dürfen wir vermuten – von der Sexuellen Revolution imprägniert sind) auf die biblischen Texte zurück; gegen ihren Sinngehalt und gegen ihre lange Auslegungsgeschichte.

Dass für das Judentum der Sex in die Ehe gehört, kann man in so gut wie jedem Standardwerk nachlesen. „Das erste biblische Gebot über die Fortpflanzung des Menschengeschlechts soll nur in der Ehe erfüllt werden (TRE, Bd. 9, 1982, S. 314). Das Judentum kennt ein klares Ideal, nämlich den ehelichen Sex. Dennis Prager schreibt in „Das Geschenk des Judentums an unsere Kultur“

Alle anderen Formen sexuellen Verhaltens, obwohl sie nicht alle gleich verwerflich sind, weichen von diesem Ideal ab. Je mehr sie abweichen, desto ausgeprägter ist die Abneigung des Judentums gegen dieses Verhalten.

Das Alte Testament selbst verortet die Sexualität eindeutig in der Ehe. Zum Erweis vorehelicher Keuschheit bewahrten die jüdischen Familien etwa das Hochzeitsgewand als „Beweisstück“ auf (vgl. 5Mose 22,13ff). Oder: „Wenn jemand eine Jungfrau beredet, die noch nicht verlobt ist, und schläft bei ihr, so soll er den Brautpreis für sie geben und sie zur Frau nehmen“ (2Mose 22,15).

Und das Neue Testament? Jesus hat die alttestamentliche Eheordnung bestätigt und in gewisser Hinsicht sogar strenger ausgelegt als das Judentum (vgl. Mt 5,27ff). Und Paulus können wir nicht gegen Jesus ausspielen. Für den Apostel gehörte Sex in den Ehebund. So schreibt er etwa in 1Thess 4,3–8 (ELB): 

Denn dies ist Gottes Wille: eure Heiligung, dass ihr euch von der Unzucht fernhaltet, dass jeder von euch sich sein eigenes Gefäß in Heiligung und Ehrbarkeit zu gewinnen weiß, nicht in Leidenschaft der Begierde wie die Nationen, die Gott nicht kennen; dass er sich keine Übergriffe erlaubt noch seinen Bruder in der Sache übervorteilt, weil der Herr Rächer ist über dies alles, wie wir euch auch vorher schon gesagt und eindringlich bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht zur Unreinheit berufen, sondern in Heiligung. Deshalb nun, wer dies verwirft, verwirft nicht einen Menschen, sondern Gott, der auch seinen Heiligen Geist in euch gibt.

Ich zitiere mal Douglas Moo dazu (A Theology of Paul and His Letters, Zondervan, 2021, S. 631–632): 

Wenn wir über die Ehe diskutieren, müssen natürlich auch ein paar Worte zum Thema Sex gesagt werden. Zur Zeit des Paulus, so wie auch zu unserer Zeit, war Sex ein Lebensbereich, in dem die biblischen Maßstäbe besonders hart mit den zeitgenössischen Sitten kollidierten. Es überrascht uns daher nicht, dass er seinen nichtjüdischen Bekehrten einige Warnungen mit auf den Weg gibt. Wie ich bereits erwähnt habe, ist Sexualität der Bereich der Sündhaftigkeit, den Paulus am häufigsten in seinen Lasterkatalogen erwähnt. 1Thess 4 ist besonders pointiert. Paulus wiederholt hier, was er jenen hauptsächlich nichtjüdischen Bekehrten in der kurzen Zeit, die er mit ihnen verbracht hat, darüber gelehrt hat – wie sie leben sollen, „um Gott zu gefallen“ (V. 1). Das erste, was er erwähnt und mit ihrer Heiligung in Verbindung bringt (V. 3), ist die Notwendigkeit, „sexuelle Unmoral zu meiden“ (porneia, das griechische Wort für unangemessenes sexuelles Verhalten). Wie ich oben dargelegt habe, konkretisiert Paulus dies, indem er die Gläubigen auffordert, ihre Geschlechtsorgane „in heiliger und ehrbarer Weise“ zu gebrauchen (V. 4). Paulus folgt dem jüdischen Präzedenzfall, indem er unangemessenes sexuelles Verhalten als ein besonders deutliches Anzeichen dafür sieht, wie sich die Menschen von der Anbetung Gottes abgewandt haben (vgl. Röm 1,24–27).

Obwohl dieser Abschnitt an Nichtjuden geschrieben wurde, zeigt er auch, dass sich Paulus in seiner ethischen Lehre dem Alten Testament verpflichtet fühlt. Der Abschnitt ist durchdrungen von Aufrufen zur Heiligkeit (1Thess 4,3.4.7), die an den bekannten alttestamentlichen Aufruf zur Heiligkeit anknüpfen (z.B. Lev 11,44; siehe oben). Paulus’ Verweis auf die Gabe des Heiligen Geistes in V. 8 erinnert an die Verheißung in Hesekiel 36,25–27, dass Gott sein Volk durch eine neue Ausgießung seines Geistes von „Unreinheit“ und Götzendienst „reinigen“ würde (vgl. 1Thess 1,9). Die vielleicht klarste theologische Grundlage für Paulus’ Aufruf zur sexuellen Reinheit findet sich in 1Korinther 6,12–20. Als Antwort auf eine korinthische Ansicht, die den Körper offenbar als unwichtig für das geistliche Leben ansah, bekräftigt Paulus hier die Bedeutung des Körpers und unterstreicht daher die Notwendigkeit, den Körper im sexuellen Bereich angemessen zu gebrauchen. Man darf sich nicht mit Prostituierten zusammentun, denn das würde die intime und exklusive Verbindung der Gläubigen mit Christus verletzen (V. 15–17). Unsere Leiber sind in der Tat „Tempel des Heiligen Geistes“ (V. 19). Gläubige müssen, so schließt Paulus, „Gott mit [ihren] Leibern ehren“ (V. 20) – und das bedeutet natürlich, sie im sexuellen Bereich so zu gebrauchen, dass sie Gott wohlgefällig sind.

Auch Christen sündigen. Was haben die antiken Gläubigen in den Gemeinden getan, wenn ein unverheiratetes Paar doch Sex vor der Ehe hatte? Armin Baum wird mit seiner Vermutung richtig liegen

Wie Paulus oder die paulinischen Gemeinden mit festen Paaren verfahren
sind, die unverheiratet Geschlechtsverkehr hatten, wird im Neuen Testament
nirgends ausdrücklich gesagt. Am wahrscheinlichsten ist, dass man
eine ähnliche Differenzierung vornahm wie im 5. Mosebuch (Dtn 22,13–29). Man kann daher vermuten, „dass eine christliche Gemeinde, wenn ein
solches Verhalten bekannt geworden wäre, es missbilligt und … auf die
Legalisierung des Verhältnisses gedrungen hätte“.

VD: WH

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