Antonio Gramsci: Die organischen Intellektuellen

GramsciDer Grünen-Politiker Volker Beck sagte einmal über seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter (Das Parlament, 06.04.2009, S. 6):

Ich bin Parlamentarier, weil das Parlament der Ort ist, an dem man gesellschaftliche Anliegen durchsetzen kann, und wenn die Zeit noch nicht reif ist, sie solange auf die Tagesordnung setzen kann, bis man Gehöhr findet.

Das klingt nett. Als Volksvertreter möchte er gesellschaftliche Anliegen durchsetzen. Dafür ist er ja da, könnte man meinen. Wir gestehen ihm selbstredend zu, dass er grüne Interesse vertritt – nicht etwa die der FDP.

Doch in dem Zitat steckt mehr als das, was durch Artikel 38 des Grundgesetzes gedeckt ist. In der Verfassung ist davon die Rede, dass Parlamentarier „Vertreter des ganzen Volkes“ sind. Bei Beck klingt durch, dass er im Parlament auch jene Anliegen durchsetzen kann, die das Volk noch gar nicht kennt. Er setzt eine gewisse Erleuchtung voraus. Er weiß mehr als die Menschen in der Gesellschaft – und er weiß es besser. Er gehört zu jener Elite, die die einfachen Menschen in eine gute Zukunft führt. Nach seinem Selbstverständnis ist er dafür da, das Bewusstsein der Unerleuchteten zu beeinflussen, damit sie irgendwann das tun, was er will.

Karl Marx und Friedrich Engels gingen noch davon aus, dass das Proletariat quasi auf natürliche Weise siegt. Aus ihrer Sicht war es eine historische Notwendigkeit, dass das kapitalistische System eines Tages kollabiert. Das einfache Volk würde selbstständig ein Bewusstsein für die Sache der Revolution entwickeln.

Marx hat freilich nie erklären können, wie diese Entwicklung des proletarischen Selbstbewusstseins vonstattengehen soll. Diese Lücke wurde durch die Ereignisse der Geschichte noch verfänglicher: Im Europa des frühen 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass Krisen im Weltkapitalismus allein nicht ausreichen, um das notwendige „Klassenbewusstsein“ zu schaffen (vgl. dazu Carl Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, 2022, S. 270–273).

Hier kommt der kommunistische Philosoph Antonio Gramsci (1891–1937) ins Spiel. Der Italiener arbeitete in seiner Gefängniszelle eine Lösung für diese theoretische und praktische „Lücke“ aus.

Er entwickelte den Begriff der „organischen Intellektuellen“. Demnach repräsentieren die Philosophen, Schriftsteller, Professoren usw. keine eigene Klasse, sondern sie sind dafür da, die einfachen Menschen an das neue Bewusstsein heranzuführen. Sie nutzen die gesellschaftlichen Institutionen wie Hochschulen, Medien oder auch die Politik, um das Bewusstsein für eine marxistische Umgestaltung der Gesellschaft herzustellen.

Sogar der von Rudi Dutschke beschworene „Marsch durch die Institutionen“ ist letztlich eine Methode, die auf den Einfluss von Antonio Gramsci zurückgeht, auch wenn es Dutschke eher um eine Zerstörung der traditionellen Institutionen als um die politische Machtübernahme gegangen ist. Liegen die Hebel der kulturellen Macht erst einmal in den richtigen Händen, ist der Weg für die Bildung eines angemessenen politischen Selbstbewusstseins frei. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte man allerdings eine erleuchtete Vorhut, die sich von der Masse unterscheidet. Das sind die Intellektuellen. Sie nutzen Einrichtungen wie Parlamente, um ein neues Bewusstsein und neue Gesetze zu schaffen, die dann zur Transformation der Gesellschaft führen.

Es liegt auf der Hand, dass diese Elite ein großes Interesse daran hat, auch die Schulen, Medienhäuser und Kirchen für diese Transformation einzuspannen, da in ihnen eine enorme kulturelle Prägekraft liegt. Kurz: Wir müssen die Kirchen nicht schließen, sondern dafür sorgen, dass sie unsere gottlosen Interessen vertreten.

Nachfolgend einige Gramsci-Zitate (Antonio Gramsci, Erziehung und Bildung, 2004):

Kritisches Selbstbewusstsein bedeutet geschichtlich und politisch Schaffung einer Elite von Intellektuellen: eine menschliche Masse unterscheidet sich nicht und wird nicht ‚per se‘ unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisatoren und Führer, das heißt, ohne dass die theoretische Seite des Theorie-Praxis-Nexus sich konkret ausdifferenziert in einer Schicht von Personen, die auf die begriffliche und philosophische Ausarbeitung spezialisiert sind. Aber dieser Prozess der Schaffung der Intellektuellen ist lang, schwierig, voll von Widersprüchen, von Vorstößen und Rückzügen, von Zersplitterungen und Neugruppierungen, in denen die ‚Treue‘ der Masse (und die Treue und die Disziplin sind anfänglich die Form, welche die Unterstützung der Masse und ihre Mitarbeit bei der Entwicklung des gesamten kulturellen Phänomens annehmen) mitunter auf eine harte Probe gestellt wird. Der Entwicklungsprozess ist an eine Dialektik Intellektuelle-Masse gebunden; die Intellektuellenschicht entwickelt sich quantitativ und qualitativ, aber jeder Sprung zu einer neuen ‚Ausdehnung‘ und Komplexität der Intellektuellenschicht ist an eine entsprechende Bewegung der Masse von Einfachen gebunden, die zu höheren Kulturniveaus aufsteigt und zugleich ihren Einflussbereich ausweitet, mit individuellen Vorstößen oder auch solchen von mehr oder weniger wichtigen Gruppen in Richtung auf die Schicht der spezialisierten Intellektuellen. (S. 106–107)

Man muss die Wichtigkeit und die Bedeutung hervorheben, die in der modernen Welt die Parteien bei der Ausarbeitung und Verbreitung der Weltauffassungen haben, da sie wesentlich die diesen konforme Ethik und Politik ausarbeiten, also quasi als geschichtliche ‚Experimentatoren‘ dieser Auffassungen fungieren. Die Parteien lesen die handelnde Masse individuell aus, und die Auslese erfolgt zusammen auf praktischem wie auf theoretischem Gebiet, mit einem desto engeren Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, je mehr die Auffassung vital und radikal erneuernd und antagonistisch zu den alten Denkweisen ist. Daher kann man sagen, dass die Parteien die Erzeugerinnen der neuen integralen und ganzheitlichen Intellektualitäten, das heißt der Schmelztiegel der als wirklicher geschichtlicher Prozess verstandenen Vereinigung von Theorie und Praxis sind, und es wird klar, wie notwendig die Bildung über individuelle Mitgliedschaft und nicht nach dem ‚Labour‘-Typ ist, denn wenn es sich darum handelt, organisch ‚die gesamte ökonomisch aktive Masse‘ zu führen, handelt es sich darum, sie nicht nach alten Mustern zu führen, sondern indem man erneuert, und die Erneuerung kann in ihren ersten Stadien die Masse nur vermittels einer Elite ergreifen, bei der die der menschlichen Tätigkeit innewohnende Auffassung bereits zu einem gewissen Grad aktuelles kohärentes und systematisches Bewusstsein und genauer und entschlossener Wille geworden ist. (S. 107)

Die Schule in all ihren Stufen und die Kirche sind in jedem Land die beiden größten kulturellen Organisationen nach der zahlenmäßigen Stärke des von ihnen beschäftigten Personals. Die Zeitungen, die Zeitschriften und der Buchhandel, das Privatschulwesen, sei es als Ergänzung der staatlichen Schule, sei es als Kulturinstitutionen vom Typ der Volkshochschule. Andere Berufe umschließen in ihrer spezialisierten Tätigkeit einen nicht unerheblichen kulturellen Anteil, wie derjenige der Ärzte, der Armeeoffiziere, des Richterstandes. (S. 109)

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