Hermeneutik

Bibelwissenschaft, Hermeneutik

Die Bibel als Literatur lesen

C.S. Lewis stellte einmal fest: „Die Bibel, die ja nun einmal Literatur ist, kann gar nicht richtig gelesen werden, außer als Literatur; und ihre verschiedenen Teile nicht anders als die verschiedenen Arten von Literatur, die sie sind.“ Diese häufig zitierte Aussage ist der Leitgedanke eines Artikels von Leland Ryken. Er schreibt in „Die Bibel als Literatur lesen“:

Wenn der literarische Charakter der Bibel anhand ihres Erfahrungsgehalts bestimmt werden kann, dann ist dies auch in Bezug auf die Formen möglich, die diesen Inhalt transportieren. Im Laufe der Jahrhunderte war die gängigste Methode, einen Text als literarisch zu bezeichnen, ihn bestimmten Gattungen oder literarischen Typen zuzuordnen. Schon seit Langem wurden einige Gattungen als expositorisch und andere als literarisch anerkannt. Der expositorische Diskurs vermittelt Informationen direkt und abstrakt (z.B. Berichte, Tagebucheinträge und Aufsätze). Zu den literarischen Gattungen gehören Geschichte oder Erzählung, Poesie, Satire, visionäres Schreiben, Sprichwort und Epistel. Die Bibel ist eine der umfangreichsten Sammlungen verschiedener literarischer Gattungen und Formen in der Welt. Ihr Vorhandensein zeigt klar, dass es sich bei der Bibel um Literatur handelt.

Ein zweiter Hinweis auf den literarischen Charakter der Bibel ist ihre hohe Qualität, die wir als Kunstfertigkeit bezeichnen und mit der wir automatisch Schönheit assoziieren. Allgemein kann man dies an der durchgängigen Struktur einer Geschichte oder dem sorgfältigen Aufbau eines Gedichts nach dem Prinzip von Thema und Variation erkennen. In Psalm 1 wird die Glückseligkeit des gottesfürchtigen Menschen so beschrieben, dass wir verschiedene Facetten eines einzigen Themas betrachten können. Die Schönheit des Wortes durchdringt die Bibel und macht sie zum aphoristischsten Buch, das wir kennen – voller einprägsamer, leicht zu merkender Aussagen. Die rhetorische Gestaltung ist eine Form der Kunstfertigkeit, wie in Matthäus 5,2–10 zu sehen ist, wo jede Seligpreisung dem gleichen Muster folgt: (1) Segenszusage, (2) Benennung einer Gruppe, (3) Grund für den Segen, der mit der Formel denn beginnt, und (4) Nennung einer versprochenen Belohnung. Zum Beispiel: „Glückselig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Reich der Himmel!“ (Mt 5,3).

Mehr: www.evangelium21.net.

Bibelwissenschaft, Hermeneutik

Sola scriptura à la EKD

Die EKD hat den Grundlagentext Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen herausgeben und schreibt dazu:

Der Begriff des Überlegungsgleichgewichts zielt darauf ab, dass Erfahrungswissen und Einsichten aus den Wissenschaften ebenso wie biblische Einsichten berücksichtigt, gewichtet und „so ins Verhältnis gesetzt“ werden, „dass die orientierende und bindende Kraft der Bibel zum Tragen kommt“. Dem Evangelium solle dabei, so wird betont, „der Vorrang im Sinne der begründenden, orientierenden, prägenden Bedeutung für den Zusammenhang aller Aspekte“ zukommen. Außerdem solle die Schriftauslegung vor allem darauf abzielen, neue Impulse in die Fragestellung einzubringen und ein tieferes Verständnis der Problemlage zu fördern. Das alles geschehe „in einem komplexen, nicht eindeutig methodisierbaren Abwägungsprozess. Um zu veranschaulichen, wie das in der Praxis aussehen kann, wird der Prozess im Text anhand von vier Beispielen nachgezeichnet. Dabei wird auch deutlich, dass unterschiedliche Gewichtungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Ich habe einen ersten Blick auf den Grundlagentext geworfen und bisher nichts Überraschendes gefunden. Vom Evangelium her gesehen werden Texte für eine rein kontextgebundene (historische, kulturgeschichtliche) Auslegung freigegeben. An den Anwendungsbeispielen kann gut erkannt werden, wie so der semantische Inhalt biblischer Texte geradezu auf den Kopf gestellt werden kann.

Hier das Buch: bedeutung_bibel_EVA_2021.pdf.

Zitate, Calvinismus, Hermeneutik

Die Klarheit der Schrift bei Johannes Calvin

Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld schreiben über die Klarheit der Schrift bei Johannes Calvin (Die Hermeneutik Calvins: geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge, 1983, S. 96–98):

Weil die Schrift durchsichtig, hell und klar ist, kann es keinen Zweifel an ihrer Wahrheit geben. Die ganze Schrift durchzieht nämlich im Grunde nur ein einziger Skopus bzw. Sinn: Jesus Christus. Das Alte Testament verheißt ihn; im Neuen Testament tritt er direkt in Erscheinung. Dies ist auch der Grund, warum Calvin übereinstimmend mit Bucer sagen kann, die Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Bund sei in ihrem Wesen identisch. An der Einfachheit, Deutlichkeit und Klarheit der Epiphanie Gottes zu zweifeln, würde somit dem gesamten Duktus der Wortoffenbarung im Alten und Neuen Bund widersprechen. Gott hat sich in seinem Wort, das er den Urvätern und Propheten mitteilte und das er in Jesus Christus unüberbietbar und unüberhörbar ausspricht, in die Niederungen menschlichen Fleisches begeben. Er paßt sich unserem Verständnisvermögen an und handelt wie ein guter Pädagoge. Um allen Menschen einen Zugang zu seinem Wort zu verschaffen, äußert er sich sowohl in kunstvoller und gehobener Sprache als auch in einfacher und schlichter Rede.

Entsprechend bunt ist das Erscheinungsbild der biblischen Autoren. David, Salomon und Jesaja können als Dichterfürsten gelten, und auch Paulus und Lukas zeichnen sich durch Bildung aus, während sowohl die Propheten Amos, Jeremia, Sacharja als auch die Apostel Petrus, Johannes und Matthäus einfache Menschen waren.

Es kann daher nur ein Vorwand für mangelnde Verständnisbereitschaft sein, wenn behauptet wird, die Schrift sei dunkel oder ein Labyrinth. Calvin gibt zwar zu, daß es einige unklare Stellen in der Schrift gibt, aber diese sollen doch nicht dazu veranlassen, das Wort Gottes pauschal der Unklarheit zu bezichtigen. Gott spricht nämlich niemals ohne Grund und Zweck und enthüllt zu seiner Zeit den Sinn seiner Rede, wenn seine Worte im Herzen bewahrt werden.

Zitate, Calvinismus, Hermeneutik

Schrift und Vernunft bei Johannes Calvin

Die katholischen Calvin-Kenner Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld schreiben über das Verhältnis von Schrift und Vernunft bei Johannes Calvin (Die Hermeneutik Calvins: geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge, 1983, S. 95):

Die Überzeugung, daß die Schrift in sich selbst wahr ist und keiner besonderen kirchlichen Approbation bedarf, drängt sich Calvin allerdings auch von einer Seite her auf, die nicht unmittelbar von der übernatürlichen Bestätigung durch das innere Geistzeugnis abhängt. Es gibt auch Vemunftgründe, die die unbezweifelbare Autorität der Schrift eindrucksvoll stützen. Calvin spricht hier ausdrücklich nicht von Beweisen, wohl aber von Hilfsmitteln, die den Glauben an das Wort Gottes in der Schrift nicht unvernünftig erscheinen lassen. Solche Hilfsmittel sind für ihn die innere Ordnung, Konvenienz, Eloquenz und das hohe Alter der Schrift sowie die Beobachtung, daß sich Verheißungen der Schrift erfüllt haben. Den Glauben kann man auf diese Gründe allein zwar nicht stützen, aber es ist doch bemerkenswert, wie Calvin Geistzeugnis und Vernunft nicht etwa in ein dialektisch-antithetisches Verhältnis zueinander setzt, sondern eine Konvenienz beider annimmt, die der Sicherheit des Glaubens zugute kommt. Wir werden dieser Struktur theologischen Denkens, die darin besteht, Gnade und Glaube als das Grundlegende zu betrachten, das Natürliche aber zur Unterstützung beizuziehen, noch öfter begegnen. Dieser Denkansatz erscheint katholisch und hinsichtlich Anselms Prinzip „fides quaerens intellec-tum“ auch traditionsgemäß, obgleich auffällt, daß Calvin sowohl das Geistzeugnis als auch die Vernunft zunächst nicht an eine bestimmte Kirchlichkeit zurückbindet. Dies hängt mit dem Bestreben des Reformators zusammen, wie seine Mitreformatoren und manche spätmittelalterlichen Schrifttheologen Schrift und Kirche zunächst zu trennen, um dann von der Schrift her kritisch gegen die Mißstände kirchlicher Lehre und Praxis vorzugehen. Legitim ist dies für Calvin, weil die Schrift und das mit ihr verbundene Geistzeugnis ihre Glaubwürdigkeit in sich selbst tragen, und die Vernunftgründe für die Schriftautorität nicht von kirchlichen Urteilen abhängen.

Zitate, Hermeneutik

Peter Stuhlmacher: Bibelauslegung soll eindeutiges und wegweisendes Glaubenszeugnis fördern

Peter Stuhlmacher sagte in einem Vortrag vor der bayrischen Landessynode in Augsburg am 23. April 1975 (Peter Stuhlmacher, „Evangelische Schriftauslegung“, in: Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie, 1975, S. 167–183):

Sich auf die Bedeutung und die Möglichkeiten evangelischer Bibelauslegung zu besinnen, ist heute aus zwei Gründen ratsam. Erstens ist seit dem 16. Jh. nicht daran zu zweifeln, daß die reformatorischen Kirchen in ihrer christlichen Zeugnisexistenz mit dem Gelingen oder Mißlingen ihrer jeweiligen Schriftauslegung stehen und fallen. Zweitens aber steht heute landauf landab vor Augen, daß die gegenwärtige Bibelauslegung nur bedingt das leistet, was sie eigentlich sollte, nämlich unserer Kirche zu einem eindeutigen und wegweisenden Glaubenszeugnis, zu verhelfen.

Hermeneutik

Kleine Kritik der queeren Bibelinterpretation

Eine gekürzte Version meines Artikel über das „Hermeneutische Cruising“ ist jetzt bei Evangelium21 erschienen:

Der hermeneutische Cruiser wird beim Lesen der Bibeltexte seine Augen und Ohren für das offenhalten, was seine Wünsche und Sehnsüchte anspricht. Er ist immer dabei, „in dem Wald von Texten nach lebenseröffnenden, spannenden Spuren und Begegnungen zu suchen!“. In der Bibel herumcruisen bedeutet, die eigene erotische Erkenntnisfähigkeit und das mir gehörende erotische Wissen in die Begegnung mit den biblischen Schriften einzubringen. „Hermeneutisches Cruising setzt wie jedes Cruising in der wirklichen Welt voraus, dass ich offen bin für neue Möglichkeiten, dass ich dem Aufmerksamkeit schenke, was mir neu vor Augen kommt, meine Neugier erregt oder als vielversprechendes Signal daherkommt – und mich einfach darauf einlasse.“ Es geht nicht um institutionelle Anerkennung oder den Entwurf einer neuen Ethik. „Der einzige ‚vernünftige‘ Grund dafür, dass wir für dieses Cruising Zeit und Energie aufwenden, ist, dass wir Lust haben, es zu tun, und es tun können – und dass es etwas ist, das uns wirklich Spaß macht!“

Diese Herangehensweise führt im Vergleich mit der traditionellen Hermeneutik zu einem Fokussierungswechsel. Die Einsicht, dass das menschliche Herz auf Erleuchtung durch die Schrift und den Geist angewiesen ist, wird auf den Kopf gestellt. Beim Cruising leuchtet die im eigenen Herzen liegende Kraft des Erotischen den Bibeltext aus. Die Bibeltexte werden entmachtet. Ihnen wird nicht mehr zugestanden, das Herz des Auslegers zu durchleuchten, zu ermahnen oder zu trösten. Sie werden vielmehr dazu benutzt, das eigene Begehren zu rechtfertigen und zu stimulieren.

Mehr: www.evangelium21.net.

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