Die katholischen Calvin-Kenner Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld schreiben über das Verhältnis von Schrift und Vernunft bei Johannes Calvin (Die Hermeneutik Calvins: geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge, 1983, S. 95):
Die Überzeugung, daß die Schrift in sich selbst wahr ist und keiner besonderen kirchlichen Approbation bedarf, drängt sich Calvin allerdings auch von einer Seite her auf, die nicht unmittelbar von der übernatürlichen Bestätigung durch das innere Geistzeugnis abhängt. Es gibt auch Vemunftgründe, die die unbezweifelbare Autorität der Schrift eindrucksvoll stützen. Calvin spricht hier ausdrücklich nicht von Beweisen, wohl aber von Hilfsmitteln, die den Glauben an das Wort Gottes in der Schrift nicht unvernünftig erscheinen lassen. Solche Hilfsmittel sind für ihn die innere Ordnung, Konvenienz, Eloquenz und das hohe Alter der Schrift sowie die Beobachtung, daß sich Verheißungen der Schrift erfüllt haben. Den Glauben kann man auf diese Gründe allein zwar nicht stützen, aber es ist doch bemerkenswert, wie Calvin Geistzeugnis und Vernunft nicht etwa in ein dialektisch-antithetisches Verhältnis zueinander setzt, sondern eine Konvenienz beider annimmt, die der Sicherheit des Glaubens zugute kommt. Wir werden dieser Struktur theologischen Denkens, die darin besteht, Gnade und Glaube als das Grundlegende zu betrachten, das Natürliche aber zur Unterstützung beizuziehen, noch öfter begegnen. Dieser Denkansatz erscheint katholisch und hinsichtlich Anselms Prinzip „fides quaerens intellec-tum“ auch traditionsgemäß, obgleich auffällt, daß Calvin sowohl das Geistzeugnis als auch die Vernunft zunächst nicht an eine bestimmte Kirchlichkeit zurückbindet. Dies hängt mit dem Bestreben des Reformators zusammen, wie seine Mitreformatoren und manche spätmittelalterlichen Schrifttheologen Schrift und Kirche zunächst zu trennen, um dann von der Schrift her kritisch gegen die Mißstände kirchlicher Lehre und Praxis vorzugehen. Legitim ist dies für Calvin, weil die Schrift und das mit ihr verbundene Geistzeugnis ihre Glaubwürdigkeit in sich selbst tragen, und die Vernunftgründe für die Schriftautorität nicht von kirchlichen Urteilen abhängen.