Evangelikale

Spaltet das ChristusForum die Gemeinden?

Im April 1937 wurden die so genannten „geschlossenen“ Brüdergemeinden vom NS-Staat verboten, da ihnen eine staatsfeindliche Gesinnung vorgehalten wurde. Bereits im Mai 1937 konnte sich der größte Teil der „geschlossenen Brüder“ mit Genehmigung der Behörden als Bund freikirchlicher Christen (BfC) neu organisieren. Diesem Bund schlossen sich im November 1937 auch die „Offenen Brüder“ an. 1942 fusionierte der BfC mit dem Bund der Baptisten zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (BEFG). 1980 wurde die „Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden“ (AGB) gegründet, um die Anliegen der Brüdergemeinden innerhalb des BEFG angemessen zu vertreten. Diese AGB benannte sich 2020 in das „ChristusForum Deutschland“ um, um einen internen Wandlungsprozesses auch sprachlich besser abzubilden (Einzelheiten können folgender Broschüre entnommen werden).

Dieses ChristusForum Deutschland hat in den letzten Tagen für Aufregung gesorgt, indem es seinen Austritt aus dem BEFG ankündigte. Auf der Jahreskonferenz des Forums vom 12.–13. April 2024 hatte eine große Mehrheit der Delegierten dafür gestimmt, eigene Körperschaftsrechte und damit die Unabhängigkeit vom Bund anzustreben. Mit dem Austritt würde der BEFG etwa ein Achtel seiner Mitglieder verlieren.

Die Gründe für den Austritt hat der Geschäftsführer des ChristusForums, Alexander Rockstroh, in einem idea-Interview beschrieben. Als Hauptgrund nennt er die Abschaffung von Doppelstrukturen. Hinzu kommen theologische Differenzen: „Wir sehen die geistliche Einheit als gefährdet. Zwischen Brüder- und Baptistengemeinden wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder kontrovers theologisch diskutiert. Heute besteht die Trennlinie nicht mehr zwischen ChristusForum und Baptisten, sondern zwischen theologisch konservativen und progressiven Gemeinden.“ Laut einer Klärungsdokumentation sieht das ChristusForums die Einheilt in folgenden theologischen Fragen gefährdert:

  • Infragestellung einer leibhaftigen, historisch realen Auferstehung Jesu;
  • Infragestellen des Sühneopfertodes Christi;
  • Infragestellung der Jungfrauengeburt;
  • Die Ordination von nicht-heterosexuell liebender und queerer Personen, die dies praktizieren und leben;
  • das Gleichsetzen von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe zwischen Mann und Frau;

Zitat (Klärungsdokumentation „Wo stehen wir?“, S. 12):

Es reicht unserer Meinung nach nicht aus, eine „Kirche des Dialogs“ zu sein. Miteinander sprechen und im Dialog zu sein ist gut und wichtig. Für die Fragen, bei denen man Homogenität voraussetzt, um eine Einheitsein zu können, braucht es ein gewisses Maß an Klarheit. Wenn die Rechenschaft vom Glauben unsere gemeinsame Bekenntnisschrift ist, dann müssten sich Positionen auch genau daran orientieren. Lehrmeinungen, Überzeugungen und Positionen, die nicht mit der Bekenntnisgrundlage übereinstimmen oder ihr sogar widersprechen, gehören nicht zur gewünschten Vielfalt, weil sie im Kern die geistliche Einheit zerstören. Dies muss auch in intensiven Diskussionsphasen beim Bundesrat etc. seitens des Präsidiums durch Klarstellung ihrer Sicht (z.B. durch eine Stellungnahme zu dem Buch „Glaube, Liebe, Hoffen“), deutlich gemacht werden.

Präsident Michael Noss und Generalsekretär Christoph Stiba haben inzwischen eine Erklärung zu den Trennungsabsichten des Forums für ihren Bund abgegeben. Darin heißt es:

Die Trennung wird mit einem Zerrbild des Bundes begründet und geht von falschen Annahmen aus. Nur ein Beispiel: Vom CFD ist zu hören, im BEFG stelle man den Sühneopfertod und die Auferstehung Jesu infrage. Wer sich damit befasst und sich beispielsweise Statements und Andachten leitender Verantwortlicher durchliest oder sich den aktuellen Podcast der Theologischen Hochschule Elstal anhört, merkt schnell, wie unfair und übertrieben solch verallgemeinernde Aussagen sind. Auch in Fragen der Sexualethik wird mitunter der Eindruck erweckt, im BEFG gebe es ausschließlich liberale Positionen. Richtig ist, dass es in unserem Bund respektiert wird, wenn Gemeinden zu unterschiedlichen Erkenntnissen kommen; auch darin drückt sich die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde im Sinne des Kongregationalismus aus. Wir möchten unser Ringen in Erkenntnisfragen nicht über Grenzziehungen oder rote Linien definieren, sondern am gemeinsamen Bekenntnis festhalten.

Dabei hat unser Bund ein klares gemeinsames Glaubensfundament. Wir stehen auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Unsere Glaubensbasis haben wir in der „Rechenschaft vom Glauben“ zusammengefasst, die wiederum Bezug nimmt auf das Apostolische Glaubensbekenntnis, das – wie die Heilige Schrift – alle Christen verbindet. Auf dieser Basis, deren unverrückbare Mitte Christus ist, sind wir eine Kirche des Dialogs. In der Diskussion um die Trennungsabsichten des CFD wird der falsche Eindruck erweckt, Dialog sei mit Beliebigkeit gleichzusetzen. An dieser Stelle möchten wir hierzu das wiederholen, was Präsidium, Bundesgeschäftsführung und die Leiterinnen und Leiter der Landesverbände im November 2023 in ihrer Stellungnahme „Gemeinsam sind wir Bund!“ über das Miteinander der konfessionellen Traditionen im BEFG geschrieben haben:

Eine solche Übereinkunft setzt […] einen anhaltenden Dialog voraus. Dazu gehört die Bereitschaft, diese Übereinstimmung immer wieder neu in den Blick zu nehmen und ihre Konkretion auch miteinander auszudiskutieren. Solche theologischen Gespräche sind nie einfach, brauchen Zeit, Gebet und dauern mitunter viele Jahre. Dabei sind das geistliche Miteinander und das Beieinanderbleiben in aller Unterschiedlichkeit ein starkes Zeugnis für die Menschen in unseren Gemeinden und darüber hinaus. Eine Trennung wäre ein fatales Signal. Wir haben einen gemeinsamen Auftrag. Wir sind mit hineingenommen in Gottes Mission. Wir sind dazu berufen, in Einheit der Welt die gute Nachricht von Jesus Christus zu verkündigen. Diese Einheit untereinander macht uns glaubwürdig, damit die Welt glaubt. Lasst uns diese Einheit bewahren, wo sie vorhanden ist, schützen, wo sie gefährdet ist, und neu suchen, wo sie abhandengekommen ist. Wir sind berufen, das Band des Friedens zu knüpfen, mögliche Schritte aufeinander zuzugehen, vorhandene Vorurteile abzubauen und Einwände respektvoll zu formulieren und zu vertreten, Verschiedenheiten untereinander anzuerkennen, voneinander zu lernen, füreinander zu beten und gemeinsam Christus in Wort und Tat zu verkündigen. In diesem Sinne wünschen wir uns, dass wir uns den Glauben gegenseitig glauben. Wir wollen die Vielfalt in der Einheit, in der Jesus Christus das Zentrum ist und bleibt.

Traurig müssen wir erkennen, dass Teile des Bundes anderen Teilen des Bundes ihren Glauben nicht glauben. Gemeinden, in deren Geschichte die baptistische und die Brüder-Tradition bedeutsam sind, stehen jetzt möglicherweise vor einer Zerreißprobe.

Nun bin ich kein Freund des Separatismus und gebe zu, dass solche Trennungserfahrungen immer mit Schmerzen verbunden sind und dort, wo möglich, vermieden werden sollten.

Was mich allerdings ärgert, ist, dass die Vertreter des BEFG den Eindruck erwecken möchten, das ChristusForum habe spalterische Absichten. Die Formel, dass „wir uns den Glauben gegenseitig glauben“, habe ich vor einigen Jahren mal von Ulrich Eggers gehört. Ich halte sie für völlig ungeeignet, notwendige theologische Klärungen herbeizuführen. Sie soll nämlich verschleiern, dass es substantielle Unterschiede im „Was-Glauben“ gibt (fides quae creditur), indem auf die gegenseitige Anerkenntnis des persönlichen Glaubensaktes verwiesen wird (fides qua creditur). Natürlich kann ein Christ glauben, dass ein Zeuge Jehovas seinen Glauben sehr ernst nimmt. Und doch wird er hoffentlich darauf verweisen, dass der Glaubensinhalt eines Zeugen Jehovas biblisch nicht gedeckt ist.

Wenn der WAS-Glaube sich von der Schrift entfernt hat, muss das notfalls zu Spaltungen führen (vgl. 1Kor 11,19). Die Verantwortung für diese Spaltungen tragen diejenigen, die es versäumt haben, an der heilsamen Lehre festzuhalten. Ein Kirchenbund, in dem alles geglaubt werden darf, ist wertlos. Ich zitiere dazu den Punkt 4 aus dem Dokument „Gemeinsam für das Evangelium“:

Die Einheit aller Christen ist ein von Gott bewirktes Wunder. Sie soll nicht durch Parteiung und Selbstsucht gefährdet werden. Abseits der Wahrheit des Evangeliums kann es keine Einheit geben. Echter Glaube wird nicht zuerst durch die individuelle Lebensgeschichte bestimmt. Unterschiede, die nicht zum Wesen des Evangeliums gehören, müssen ertragen werden. Vor falscher Lehre bezüglich des Evangeliums muss offen gewarnt werden.

– – –

Hinweis: Der erste Absatz wurde nach dem Kommentar von Dr. A. Liese am 4. Mai 2024 überarbeitet.

Christentum und funktionaler Liberalismus

Unter einem „theologische Liberalismus“ können sich viele Leute etwas vorstellen. Sie denken dabei beispielsweise an Friedrich Schleiermacher oder Ernst Troeltsch. Aber schon mal was von einem „funktionalen Liberalismus“ gehört?

Der funktionale Liberalismus unterscheidet sich vom bekannten „alten Liberalismus“, indem er den Lehrbekenntnissen offiziell zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, „indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt“.

Doug Ponder und Bryan Laughlin haben das näher herausgearbeitet: 

Während Machen über das Christentum und den Liberalismus schrieb, schreiben wir, dazu ergänzend, eine Art Anhang über das Christentum und den funktionalen Liberalismus.13 Wir nennen ihn „funktionalen Liberalismus“ (und nicht Liberalismus simpliciter), weil diese Sorte des Virus im Gegensatz zur Bedrohung zu Machens Zeiten nicht die gleichen Symptome aufweist (auch wenn er eine ähnliche Ursache hat). Machens Liberale waren Modernisten, die offen die Zuverlässigkeit der Bibel, die Realität des Übernatürlichen, die Notwendigkeit des Sühneopfers und die physische Auferstehung Jesu Christi von den Toten leugneten. Wie die berühmte Karikatur von E.J. Pace aus dem Jahr 1922 illustriert, vollzog sich die Abkehr der Liberalen vom Glauben oft in Etappen, wobei die Wahrhaftigkeit der Bibel als Erstes infrage gestellt wurde. Es gibt noch einige wenige Liberale dieser Art. Aber diejenigen, die an dem Glauben festhalten, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist (vgl. Jud 3), sind – zum großen Teil dank Machen und seinen Erben – nicht versucht, sie als Teil des Leibes Christi anzuerkennen (vgl. 1Joh 2,19).

Das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist von einer etwas anderen Art. Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt. Wir sind nicht die Ersten, die diese Beobachtung machen. Irgendwo in den Annalen von D.A. Carsons gewaltigem Werk findet sich ein Vortrag, in dem er eine eindringliche Warnung ausspricht: „Die Zukunft des Liberalismus in den amerikanischen Gemeinden wird nicht so aussehen wie vor einem Jahrhundert. In konservativen Seminaren und Gemeinden wird es keine schamlose Verleugnung zentraler Lehrsätze geben, um die in der Vergangenheit Schlachten ausgetragen wurden. Stattdessen werden dort Leute auftreten, die behaupten, die Lehren zu bekräftigen, während sie sie durch subtile, aber substanzielle Neuinterpretationen untergraben.“

Ein wichtiger Aufsatz, auch wenn seine Beispiele alle aus Nordamerika stammen.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Culture Shift

Paul Bruderer beschreibt für „Daniel Option“, wie auf ihn innerhalb der evangelikalen Szene Druck in Sachen Sexualethik ausgeübt wurde: 

Ab 2014 traten die Forderungen immer häufiger und lauter an mich heran, gewisse Verhaltensweisen (z.B. ausgelebte Homosexualität oder sexuelle Intimität vor und ausserhalb der Ehe) grundsätzlich gutzuheissen, solange diese einvernehmlich unter Erwachsenen gelebt werden. Was mir bisher als ein respektvoller und willkommen heissender Umgang mit diesen Menschen schien, wurde nun immer mehr als etwas bezeichnet, das gegen diese Menschen gerichtet ist. Sogar als etwas Aggressives. Ich hätte eine aggressive Theologie, meinten einige. Die Forderung kam immer direkter und fordernder, meine Meinung grundlegend zu ändern.

Ich vergesse nicht, wie ein guter Freund von mir mich direkt und scharf konfrontierte: «Paul, wir haben als Christen unsere Meinung geändert in Bezug auf die Sklavenfrage und in der Frauenfrage. Wir werden (dieses Wort betonte er deutlich) unsere Meinung auch in der Frage ausgelebter Homosexualität ändern!»

Der Ball war bei mir. Ich hatte Hausaufgaben zu tun und nahm mir 2 Jahre Zeit. Inzwischen waren diese Fragen an der Basis meiner Kirchgemeinde angekommen. Ich bin meiner Gemeinde dankbar, dass sie mir die nötige Zeit gab, nochmals über die Bücher zu gehen. Und über die Bücher gehen musste ich tatsächlich! Ich war schon über 10 Jahre Pastor und Lehrer. Ich musste mir aber nochmals fast von Null auf überlegen, was die Bibel eigentlich ist und wie dieses Jahrtausend alte Buch, das in einer anderen Kultur geschrieben wurde, sich auf unsere Zeit übertragen lässt. Ich habe in dieser Zeit auch viel mit Menschen gesprochen, die persönlich mit diesen Themen und Fragestellungen leben.

Ich habe die Frage ernsthaft an mich herangelassen: Könnte es sein, dass wir als Christen während 2000 Jahre gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen zu Unrecht abverlangt haben, ihre sexuelle Präferenz nicht auszuleben? Haben wir ihnen 2000 Jahre lang Unrecht getan? Progressiv-Liberale, die mich heute kennen, werden mir nicht glauben, dass ich diese Frage wirklich an mich herangelassen habe. Ich kann es ihnen nicht beweisen. Ich hoffe, sie glauben es mir. Es war mir eine Not, hier Gottes Wege zu finden, denn ich weiss, dass seine Wege für den Menschen gut sind. Ich will den Menschen auf jeden Fall dienen, aber nach Gottes Art und Weise.

Nach den 2 Jahren kam ich aus diesem Prozess heraus mit der Erkenntnis, dass die Sklaven- und Frauenfrage keineswegs dieselben sind wie die Frage, ob Homosexuelle ihre Präferenz mit Gottes Segen ausleben können. Nur der Neo-Marxismus unserer Zeit wirft alle drei Gruppen in einen Topf: alle drei werden der grossen Kategorie von unterdrückten Minderheiten zugeordnet. Sie unterscheiden sich lediglich im Mass an sogenannter Intersektionalität. Aber der Neo-Marxismus hat wenig Unterscheidungsvermögen und den einzelnen Menschen sieht er schon gar nicht!

Mehr: danieloption.ch.

David Wells: Von der Faszination weltlicher Weisheit

David F. Wells schreibt über die Faszination der weltlichen Weisheit (God in the Wasteland: The Reality of Truth in a World of Fading Dreams, 1994, S. 54–55):

An dieser Stelle sollte klar sein, dass Weltlichkeit nicht einfach eine unschuldige kulturelle Eskapade ist, und schon gar nicht eine Angelegenheit, bei der es sich nur um unbedeutende Verhaltensverstöße oder das Übertreten trivialer Regeln der Kirche oder der erwarteten Frömmigkeit handelt. Weltlichkeit ist eine religiöse Angelegenheit. Die Welt, wie die Autoren des Neuen Testaments sie beschreiben, ist eine Alternative zu Gott. Sie bietet sich selbst als ein alternatives Zentrum der Treue an. Sie bietet einen gefälschten Sinn. Sie ist das Mittel, das Satan in seinem Kampf gegen Gott einsetzt. Teil dieser „Welt“ zu sein, bedeutet, Teil der satanischen Feindschaft gegen Gott zu sein. Deshalb ist die Weltlichkeit so oft götzendienerisch, und deshalb sind die biblischen Sanktionen gegen sie so streng. „Wisst ihr nicht“, fragt Jakobus, „dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, macht sich zum Feind Gottes“ (Jakobus 4,4).

In der heutigen evangelikalen Bewegung ist die Weltlichkeit zu spüren. Auf den ersten Blick erscheint diese Weltlichkeit keineswegs hässlich. Ganz im Gegenteil. Sie hat eine warme und freundliche Ausstrahlung und präsentiert sich als erfolgreiches Unternehmertum, als organisatorische Meisterleistung und als ein Paket ausgeklügelter PR-Kenntnisse, die für die Förderung evangelikaler Angelegenheiten unerlässlich sind.

Nun ist an sich nichts falsch an Unternehmertum oder organisatorischer Meisterleistung oder Öffentlichkeitsarbeit oder Fernsehbildern und Hochglanzmagazinen. Das Problem liegt in der gegenwärtigen Unfähigkeit der Evangelikalen zu erkennen, dass diese Dinge Werte in sich tragen, die dem christlichen Glauben feindlich gegenüberstehen. Das Problem liegt außerdem in der mangelnden Bereitschaft der Evangelikalen, auf die unmittelbaren und überwältigenden Vorteile der Moderne zu verzichten, selbst wenn korrumpierte Werte ein wesentlicher Bestandteil dieser Nutzeffekte sind. Was also ganz offensichtlich fehlt, ist Unterscheidungsvermögen, und das hat viel mit der Verdrängung der biblischen Wahrheit aus dem Leben der Kirche heute und viel mit dem Sterben ihrer theologischen Seele zu tun.

Unterscheidungsvermögen ist eine geistliche Fähigkeit. Es ist die Einsicht, die mit christlicher Weisheit einhergeht. Es ist die Fähigkeit, das Leben zu „durchschauen“, es so zu sehen, wie es wirklich ist. Manche Menschen sind von Natur aus klüger als andere, manche kritischer als andere, und Gott mag diese Art von Gabe durch seine Gnade verstärken, aber es ist nicht diese natürliche Fähigkeit, auf die ich mich hier beziehe. Der Kern der Fähigkeit, in den konkreten Lebensumständen zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist die reiche Entfaltung, die Gott aus dem Zusammenspiel der Wahrheit seines Wortes, dem Nachdenken darüber und dem daraus erwachsenden moralischen Charakter beabsichtigt. Es ist diese Kultur der Weisheit, mit der sich die Bibel in beiden Testamenten intensiv beschäftigt und für die die evangelikale Welt das Interesse verloren zu haben scheint.

Die alternative Weisheit, die die Moderne heute vorschlägt, hat eindeutig ihre Faszination, um nicht zu sagen ihre Vorteile. Die westliche Gesellschaft akzeptiert sie als normal und besteht in ihren frechen Momenten lautstark darauf, dass sie normativ ist. Sie ist populär, weil sie funktioniert. Aber in vielerlei Hinsicht bietet sie der Kirche eine gefälschte Realität, die die Macht hat, das zu zerstören, was die Kirche ist. Sie beraubt die Kirche gewiss ihrer Einsicht in den wahren Sinn des Lebens, einer grundlegenden moralischen Einsicht, weil sie die Kirche ihrer Fähigkeit beraubt, sich an Gott zu orientieren, der im Zentrum der Heiligkeit steht.

Mehr mehr über David Wells wissen möchte, kann den Artikel von Sarah Eekhoff Zylstra lesen.

Die Gamaliel-Strategie

Es gibt Sünden, vor denen die Bibel mit aller Schärfe warnt. Zu diesen Sünden gehören Götzendienst und Unzucht. Die Apostel eröffnen hier keinen Raum für Erwägungen und Dispute. Sie sagen uns: „Darum, meine Lieben, flieht den Götzendienst!“ (1Kor 10,14) oder „Flieht die Hurerei!“ (1Kor 6,18).

Es gibt Tatsünden, da muss ein Christ wie auf einem Lernfeld trainieren, nach dem Willen Gottes zu leben – ohne dass das Fliehen möglich ist. Ein Vater, der mit Zorn zu kämpfen hat und seine Kinder hin und wieder völlig unkontrolliert anschreit, kann nicht aufhören, Vater zu sein. Er muss Selbstbeherrschung im realen Leben lernen. Bei dem biblischen porneia, das wir mit „Unzucht“,  oder „sexueller Unmoral“ übersetzen können, ist die Lage anders. Wir sollen fliehen. 

In den evangelikalen Kreisen wird heute immer wieder einmal darauf verwiesen, dass wir zurückhaltender und abwägender im Blick auf sexuelle Sünde handeln sollten. Als Referenz taucht manchmal der jüdische Gesetzeslehrer Gamaliel auf, der in sokratischer Art und Weise die Mitglieder des Hohen Rats dafür warb, die Gruppe der Jesusjünger nicht vorschnell zu verurteilen: „Und nun sage ich euch: Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist dies Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird’s untergehen; ist’s aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen“ (Apg 5,38–39). 

In einem zweiteiligen Gespräch zwischen Thorsen Dietz und Stephanus Schäl in der Zeitschrift Aufatmen, das in meinen Augen als Rückschritt im Disput zwischen Post-Evangelikalen und Evangelikalen zu werten ist, sagt Dietz zum Thema christliche Einheit:

„Ich wünsche mir, dass man biblisch vielleicht mal mit Gamaliel sagt: Wenn das von Gott kommt, dass sich eine neue Einsicht durchsetzt, werden wir es nicht stoppen können. Wenn es nicht von Gott kommt, wird das Ganze irgendwann scheitern, wird zusammenbrechen. Jetzt gucken wir Tag für Tag und bleiben im Gespräch.“

Der Elefant im Raum ist vor allem die christliche Sexualethik. Thorsten Dietz oder Tobias Faix sind Unterstützer der LGBTQ+-Bewegung. Die Evangelikalen lehnen die großen Anliegen der Regenbogen-Kultur mit Verweis auf die Bibel, 2000 Jahre Tradition und die Vernunft ab. Doch Schäl widerspricht Thorsten Dietz nicht scharf, sondern erklärt fast solidarisch:

„Ich will kein Schwarzmaler sein, aber ich behaupte mal, dass sich die sexualethische Frage nicht in den nächsten ein, zwei Jahren klären wird. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Jahren. Ich wünschte, es wäre schneller. Aber diese Spannung aushalten, zu sagen, ich ringe vielleicht einen Großteil meines Dienstlebens über diese Frage – und gleichzeitig Kurs zu halten. Im Rückblick wird man irgendwann sagen: Liebe Leute, warum habt ihr euch Bibelverse an die Köpfe geworfen? Dann schaut man auf unsere Zeit zurück und sagt: Das war ja die einfache Frage.“

Wie also ist das mit dem Rat des Gamaliel? Peter Bruderer hat einen Artikel dazu verfasst, auf den ich hier gern verweise. Er schreibt: 

Ich persönlich bin überzeugt, dass der Rat des Gamaliel immer wieder einmal ein guter Rat sein kann. Die Aussage, dass am Ende nur Bestand haben wird, was Gott bewirkt, hat natürlich eine Rückendeckung in biblischen Aussagen. Für den Seher Bileam war klar, dass er das gesegnete Volk Gottes nicht verfluchen konnte (4Mo 22–24). Der Segen Gottes würde sich durchsetzen. Wir werden in der Bibel als Christen auch aufgefordert, Gott wirken und richten zu lassen und nicht mit der Brechstange selbst Dinge erzwingen zu wollen, die wir als richtig und gut erachten (z.B. Röm 12:17–21). Tatsächlich ist das Abwarten manchmal eine gute und weise Strategie.

  1. Der Rat des Gamaliel wird in der biblischen Berichterstattung nicht weiter kommentiert oder bewertet. Es wird lediglich wiedergegeben, was passiert ist und was geredet wurde. Es liegt an uns, die Aussagen Gamaliels in im Kontext weiterer biblischer Aussagen einzuordnen und zu bewerten.
  2. Die Apostelgeschichte ist primär Geschichtsschreibung und nicht christliche Lehre. Gamaliel kommt nicht die Autorität eines Propheten oder Apostels zu. Seine Statements sollten erstmal als das gewertet werden, was sie sind: Aussagen eines einflussreichen jüdischen Geistlichen in einer heiklen Auseinandersetzung.
  3. Es bleibt unklar, was die Motivation von Gamaliel war. Die Sadduzäer glaubten nicht an die Auferstehung der Toten und waren möglicherweise auch deshalb darum bemüht, die Apostel hinter Gitter zu bringen (Apg 5:17). Diese verkündeten Jesus als den Auferstandenen. Pharisäer wie Gamaliel jedoch glaubten an die Auferstehung der Toten. Deshalb hatte Gamaliel möglicherweise nicht nur weniger Probleme mit den Auferstehungsberichten der Apostel, er hatte in diesem Konflikt auch eine Gelegenheit, der theologischen Konkurrenz im Hohen Rat eins auszuwischen.
  4. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Gamaliel tatsächlich damit rechnete, dass die Apostel bald tot sein würden. Das Volk würde sich in irgendeiner Form gegen die Christen wenden oder es würde zu einer inneren Selbstzerfleischung in der Urgemeinde kommen. Auf diese Möglichkeit deutet seine Argumentation vor dem Rat hin, in welcher er zwei weitere Anführer erwähnt, deren Bewegungen vor nicht allzu langer Zeit von selbst mit dem gewaltsamen Tod ihrer Anführer ein Ende gefunden hatten (Apg 5:36–37).
  5. Nicht zuletzt kann der Apostel Paulus erwähnt werden. Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte erwähnt dieser, dass er selbst als junger Mann „zu Füssen Gamaliels“ unterrichtet worden war (Apg 22:3). So wurde aus Paulus ein religiöser Eiferer, der Christen verfolgte. Wir haben keine schriftlichen Informationen, ob es sich bei dem von Paulus erwähnten Gamaliel um den gleichen Mann handelt, der den Hohen Rat überzeugte, die Apostel freizulassen. Aber die Annahme hat aufgrund der Timeline eine gewisse Plausibilität.

Mehr: danieloption.ch.

Das Phänomen Antifeminismus

Stellen wir uns mal vor, bei der ARD würde eine evangelikale Redakteuerin sagen: Ich bin eine Evangelikale und möchte jetzt mal wissen, warum es Frauen gibt, die die gefährliche Ideologie des Feminismus bejahen. Undenkbar, oder?

Umgekehrt geht. Eine Feministin knüpft sich einige mutige christliche Frauen vor und malt uns Zuschauern (natürlich mit Deutungshoheit und cleverem Schnitt) ihre vermeintliche ideologische Verblendung vor Augen. Die Botschaft: Wer von einer natürlichen Geschlechterordnung ausgeht, ist demokratiefeindlich. Wer den Feminismus nicht unterstützt, potentiell gefährlich. 

Hier mal reinschauen: www.ardmediathek.de.

Sibylle Lewitscharoff gestorben

Sibylle Lewitscharoff ist am 13. Mai 2023 69-jährig in Berlin ihrer schweren Krankheit erlegen. Viele werden sie vermissen, zählte sie doch zu jenen Intellektuellen, die eigenständig denken und sehr poientiert zu umstrittenen Themen Stellung beziehen. Sie hat den Schriftsteller-Aufruf gegen den „Gender-Unfug“ in der deutschen Sprache unterschrieben und in ihrer Dresdner Rede unvergesslich (und für manche unverzeihlich) die moderne Fortpflanzungsmedizin kritisiert. Übrirgens versuchte sie mal, mittels LSD ihr Bewusstein zu erweitern und hat diese Erfahrung interessanter Weise so beschrieben, dass es an Schattenwelten erinnert, die auch in der Bibel beschrieben werden.

Obwohl christlich erzogen, ist sie eine Zweiflerin geblieben. Die Kirche konnte sie dennoch wortstark ermahnen. Vor allem dafür, dass sie sich im Diesseits festgebissen hat. So erinnere ich hier noch mal an ihre Kritik der kirchlichen Predigt

Die Kirchen sind ja so was von lendenlahm im Predigen. Die verstehen ja vom Tod eigentlich gar nichts mehr. Das ist ja schrecklich. Die sind ja so aufs Diesseits fixiert, die Protestanten noch schärfer als die Katholiken. Aber die Katholiken sind ganz auf diesem Wege auch. Im Grunde hat sich eine areligiöse Gesellschaft in den Kirchen breitgemacht, weil sie vom Jenseits überhaupt keine Vorstellung mehr haben.

Haben Sie mal eine Predigt gehört, die irgendwie von da oben überhaupt handelt? Also, ich wüsste nicht. Also, ich höre die im Radio immer an. Ich gehe manchmal auch in die Kirche, auch mal in katholische Kirche. Das kommt nicht vor. Es gibt die Hoffnung auf Erlösung nicht in irgendeiner Form – sei es wunschnaiv, sei es schönheitstrunken, sei es in Gedichtform irgendwie ausgekleidet. Das gibt es nicht.

Das Gottvertrauen wird beschworen. Ja. Aber worauf vertraut man denn, wenn es nicht ein wirkliches Leben und ein erfülltes Leben nach dem Tod gibt? Und was bedeutet überhaupt Erlösung? Das ist doch eine interessante Frage. Darüber kann man doch predigen.

George Verwer (1938–2023)

GeorgeVerwer1

Am Freitag, den 14. April 2023, ging der Missionar George Verwer und langjährige Leiter von OM im Alter von 84 Jahren nach einem zweimonatigen Kampf gegen Krebs zu seinem Herrn und Erlöser. Er hinterlässt seine Frau Drena und seine drei Kinder Ben, Daniel und Christa. Ich habe ihn in 80er-Jahren getroffen und war vor allem von seiner Bekehrungsgeschichte beeindruckt. Es fing mit dem beharrlichen Gebet einer Nachbarin an. Kurz vor seinem Heimgang sagte Verwer noch etwas über seinen „geistlichen Nachlass“.

Justin Taylor schreibt in einem Nachruf:

George Verwer war ein Mann, dem die gute Nachricht nie aus dem Kopf ging. Seine Leidenschaft war es, alle Völker der Welt endlich und für immer in Christus glücklich zu sehen.

Nur wenige Menschen haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr für die Unerreichten und Unbeteiligten eingesetzt, und nur wenige haben mehr Gläubige und Ungläubige mit Literatur zum Evangelium ausgestattet. Und alles begann mit einer treuen Mutter und Nachbarin, die sich verpflichtete, zu beten und einem Studenten das Johannesevangelium zu schicken, und setzte sich fort mit einem Geschäftsmann, der das Risiko einging, einen Studenten zu einer evangelistischen Veranstaltung einzuladen, und es setzte sich fort mit einem jungen Evangelisten, der die Botschaft vom Kreuz predigte. Gott hat immer Freude daran, die Torheit der Schwachen zu benutzen, um große Dinge zum Ruhm seines Namens zu vollbringen.

Mehr: www.thegospelcoalition.org.

Wie Bethel und Hillsong die Lobpreiskultur dominiert

Eine neue Studie hat nachgewiesen, dass Bethel und eine Handvoll anderer Megakirchen in den letzten Jahren den Markt für Anbetungsmusik beherrscht haben, indem sie einen Hit nach dem anderen produzierten und die Anbetungscharts dominierten.

CT schreibt: 

Die Studie untersuchte 38 Lieder, die es in die Top-25-Listen von CCLI und PraiseCharts schafften – die verfolgen, welche Lieder in Kirchen gespielt werden – und stellte fest, dass fast alle von einer der vier Megakirchen stammten. Alle in der Studie untersuchten Lieder – von „Our God“ über „God Is Able“ bis hin zu „The Blessing“ – tauchten zwischen 2010 und 2020 erstmals in diesen Charts auf. Von den untersuchten Liedern hatten 36 eine Verbindung zu einer Gruppe von vier Kirchen: Bethel, Hillsong, Passion City Church in Atlanta und Elevation in North Carolina. 

„Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, dass die meiste Anbetungsmusik gleich klingt“, schrieben die Autoren der Studie, „dann könnte das daran liegen, dass die Anbetungsmusik, die Sie in vielen Kirchen hören, von einer Handvoll Songwritern aus einer Handvoll Kirchen geschrieben wurde.“

Mehr: www.christianitytoday.com.

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