Theologiegeschichte

Evangelikale Schwärmerei für Aquinas?

Leonardo De Chirico hat für CT die neuerliche evangelikale Begeisterung für Thomas von Aquin differenziert bewertet. Ich schließe mich seinem Urteil an. Auszüge:

Frühere Generationen protestantischer Gelehrter kamen angesichts seiner Größe und Bedeutung für die Theologie nicht um Aquin herum, aber er wurde immer mit selektiven Augen gelesen. Heute gibt es jedoch eine zunehmende Tendenz zu denken, dass man nicht richtig orthodox (im „katholischen“ Sinne) sein kann, wenn man die grundlegenden Lehren des Thomismus nicht annimmt.

Was von diesen evangelikalen Anhängern oft übersehen wird, ist die umstrittene Geschichte des Aquinismus. Seit der Reformation und darüber hinaus hat der römische Katholizismus Aquinas als seinen Hauptverfechter für seine antireformatorische Haltung und die daraus resultierenden antibiblischen Entwicklungen betrachtet, wie z. B. das marianische Dogma der leiblichen Himmelfahrt Mariens von 1950.

Was ist von diesem Streit um Aquin zu halten? Was sind die Stärken und Schwächen, wenn nicht gar die Gefahren, wenn wir Aquin für die Theologie heute wiederentdecken? Es geht nicht darum, Aquin zu studieren oder Aquin unkritisch zu meiden, sondern darum, die theologische Landkarte bereitzustellen, mit der sich Evangelikale ihm nähern können.

Wir sollten Aquin lesen wie Petrus Lombardus, Bonaventura, Duns Scotus und andere mittelalterliche Theologen, die von Aquins Einsichten und Lehren profitierten, aber auch Probleme benannten, wenn sein System von der Heiligen Schrift abwich.

Wir dürfen uns weder vor Aquin fürchten noch ihn zum absoluten Maßstab für die christliche Orthodoxie erheben – weder sein Denksystem ablehnen noch es naiv übernehmen. Die evangelikale Theologie muss eine realistische Lesart von Aquin anstreben, die sich der höchsten Autorität der Schrift unterordnet und im Dienst des Evangeliums steht.

Mehr: https: www.christianitytoday.com.

Warum konvertieren Protestanten?

Einige der besten und klügsten protestantischen Denker sind in den letzten Jahrzehnten zum römischen Katholizismus übergetreten. Manche von ihnen haben den Protestantismus in Bezug auf Lehre, Geschichte, Ethik und Liturgie als zu oberflächlich empfunden. Chris Castaldo, Mitautor des Buches Why Do Protestants Convert? hat in einem Podcast mit Carl Trueman und Todd Pruitt die psychologischen, theologischen und soziologischen Faktoren erörtert, die hinter diesen Konversionen stehen.

Obwohl die Kritik vieler Konvertiten am heutigen Protestantismus berechtigt sein mag, weist Chris Castaldo darauf hin, dass der historische Protestantismus Antworten auf diese Einwände und außerdem die Ressourcen für eine protestantische Erneuerung enthält.

Hier:

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Die ausgebuchten Taylor Swift-Gottesdienste

Es gibt derzeit einen Hype um die US-Sängerin Taylor Swift – auch unter Frommen. Izaac Cowling, der für die Gospel Coalition in Australien schreibt, meint, mit Songtexten von Swift das Evangelium zusammenfassen zu können/müssen. Blake Glosson schrieb für TGC in den USA den Artikel „7 Dinge, die Christen von Taylor Swifts Eras-Tour lernen können“. Der wurde allerdings wegen vieler Proteste schnell wieder zurückgezogen. Die Heiliggeistkirche Heidelberg setzt dem Hype nun eine Krone auf, in dem sie im Mai zwei „Taylor Swift-Gottesdienste“ anbieten wird. Das Nachrichtenportal der katholischen Kirche in Deutschland meldet:

Zwei Gottesdienste am 12. Mai in Heidelberg um die Lieder der US-Sängerin Taylor Swift haben großes Interesse geweckt. Nachdem der erste Gottesdienst um 11 Uhr bereits ausgebucht ist, seien auch alle 420 Karten für die zweite Veranstaltung um 13 Uhr kurz nach der Freischaltung am Donnerstagmorgen vergriffen, sagte Citykirchenpfarrer Vincenzo Petracca dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Donnerstag. „Ganz Deutschland scheint im Swift-Fieber zu sein“, sagte der evangelische Theologe. Am Freitag wolle der SWR-Rundfunksender „Das Ding“ vier Tickets für den Gottesdienst in der ersten Reihe verlosen. In den Gottesdiensten mit dem Titel „Anti Hero“ – nach dem gleichnamigen Swift-Song – interpretiert die Sängerin Tine Wiechmann, die bis vor kurzem Professorin für Pop-Kirchenmusik an der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg war, Stücke der Pop-Ikone. Thematisiert werde aber auch, welche Rolle der christliche Glaube im Leben der 34-jährigen Swift spiele. Mit 280 Millionen Followern auf Instagram, vier Grammys und musikalischen Milliardenumsätzen gilt Swift derzeit als eine der einflussreichsten Popstars.

Hauptsache, die Kirche ist mal wieder gefüllt. So einfach ist das.

Taylor Swift soll tatsächlich in einer christlichen Familie im US-Bundesstaat Tennessee aufgewachsen sein. In den letzten Jahren ist sie mehrfach als Missionarin der LGBTQ+Bewegung aufgetreten (siehe das eindrückliche Video zu ihrem Song „You need to calm down“).

Giles Gough hat versucht, die Dekonstruktion ihres Glaubens in „The changing faith of Taylor Swift“ nachzuvollziehen. Er schreibt dort :

Es scheint so, dass wir zwei Taylors haben. Die erste hat eine unkomplizierte, aber aufrichtige Beziehung zu Gott. Eine, die zu ihrer Bible Belt-Erziehung passt. Die zweite, die sich nur in Krisenzeiten an ihn wendet ist typisch für die säkulare Mainstream-Welt, in der sie lebt.

Natürlich ist dies eine Entwicklung, die über zwei Jahrzehnte hinweg stattgefunden hat, aber es ist verlockend, sich zu fragen, ob wir einen Wendepunkt finden können, einen Beweis für einen Moment, in dem Taylor ihren Glauben verloren haben könnte?

Vielleicht haben wir einen solchen Beweis in dem Song „Would’ve Should’ve Could’ve“ gefunden. Es wird allgemein angenommen, dass dieser Song von John Mayer handelt, einem amerikanischen Sänger, mit dem Swift angeblich eine Beziehung hatte, als er 32 und sie gerade 19 war. Die Beziehung endete unglücklich, und obwohl sie nur ein paar Monate dauerte, scheint diese Erfahrung Swift für ihr ganzes Erwachsenenleben gezeichnet zu haben. Nicht nur das, sondern sie deutet auch stark an, dass diese Beziehung ihre Beziehung zu Gott unwiderruflich beschädigt hat.

In einem Song voller biblischer Anspielungen sagt Swift uns das: „If you’d never touched me, I would’ve / Gone along with the righteous“ und „you’re a crisis of my faith“. Der Refrain „I regret you all the time“ hat zu intensiven Spekulationen geführt. Wie schlecht muss man eigentlich als Freund sein, um den Glauben an Gott zu erschüttern?

Für mich klingt Taylor Swift wie jemand, der seinen Glauben dekonstruiert hat und nun nicht mehr weiß, woran er glaubt. Das ist kein Urteil über ihren Charakter. Swift scheint sich immer noch nach Gott zu sehnen, und wenn sie ihn nicht finden kann, hat sie vielleicht versucht, ihr Heil in der romantischen Liebe zu suchen. Aber das ist nur eine fundierte Vermutung. Schließlich sprechen wir über den Glaubensweg einer Person, die sich noch auf diesem Weg befindet. Es ist durchaus möglich, dass Gott mit Taylor Swift noch nicht fertig ist.

Spaltet das ChristusForum die Gemeinden?

Im April 1937 wurden die so genannten „geschlossenen“ Brüdergemeinden vom NS-Staat verboten, da ihnen eine staatsfeindliche Gesinnung vorgehalten wurde. Bereits im Mai 1937 konnte sich der größte Teil der „geschlossenen Brüder“ mit Genehmigung der Behörden als Bund freikirchlicher Christen (BfC) neu organisieren. Diesem Bund schlossen sich im November 1937 auch die „Offenen Brüder“ an. 1942 fusionierte der BfC mit dem Bund der Baptisten zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (BEFG). 1980 wurde die „Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden“ (AGB) gegründet, um die Anliegen der Brüdergemeinden innerhalb des BEFG angemessen zu vertreten. Diese AGB benannte sich 2020 in das „ChristusForum Deutschland“ um, um einen internen Wandlungsprozesses auch sprachlich besser abzubilden (Einzelheiten können folgender Broschüre entnommen werden).

Dieses ChristusForum Deutschland hat in den letzten Tagen für Aufregung gesorgt, indem es seinen Austritt aus dem BEFG ankündigte. Auf der Jahreskonferenz des Forums vom 12.–13. April 2024 hatte eine große Mehrheit der Delegierten dafür gestimmt, eigene Körperschaftsrechte und damit die Unabhängigkeit vom Bund anzustreben. Mit dem Austritt würde der BEFG etwa ein Achtel seiner Mitglieder verlieren.

Die Gründe für den Austritt hat der Geschäftsführer des ChristusForums, Alexander Rockstroh, in einem idea-Interview beschrieben. Als Hauptgrund nennt er die Abschaffung von Doppelstrukturen. Hinzu kommen theologische Differenzen: „Wir sehen die geistliche Einheit als gefährdet. Zwischen Brüder- und Baptistengemeinden wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder kontrovers theologisch diskutiert. Heute besteht die Trennlinie nicht mehr zwischen ChristusForum und Baptisten, sondern zwischen theologisch konservativen und progressiven Gemeinden.“ Laut einer Klärungsdokumentation sieht das ChristusForums die Einheilt in folgenden theologischen Fragen gefährdert:

  • Infragestellung einer leibhaftigen, historisch realen Auferstehung Jesu;
  • Infragestellen des Sühneopfertodes Christi;
  • Infragestellung der Jungfrauengeburt;
  • Die Ordination von nicht-heterosexuell liebender und queerer Personen, die dies praktizieren und leben;
  • das Gleichsetzen von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe zwischen Mann und Frau;

Zitat (Klärungsdokumentation „Wo stehen wir?“, S. 12):

Es reicht unserer Meinung nach nicht aus, eine „Kirche des Dialogs“ zu sein. Miteinander sprechen und im Dialog zu sein ist gut und wichtig. Für die Fragen, bei denen man Homogenität voraussetzt, um eine Einheitsein zu können, braucht es ein gewisses Maß an Klarheit. Wenn die Rechenschaft vom Glauben unsere gemeinsame Bekenntnisschrift ist, dann müssten sich Positionen auch genau daran orientieren. Lehrmeinungen, Überzeugungen und Positionen, die nicht mit der Bekenntnisgrundlage übereinstimmen oder ihr sogar widersprechen, gehören nicht zur gewünschten Vielfalt, weil sie im Kern die geistliche Einheit zerstören. Dies muss auch in intensiven Diskussionsphasen beim Bundesrat etc. seitens des Präsidiums durch Klarstellung ihrer Sicht (z.B. durch eine Stellungnahme zu dem Buch „Glaube, Liebe, Hoffen“), deutlich gemacht werden.

Präsident Michael Noss und Generalsekretär Christoph Stiba haben inzwischen eine Erklärung zu den Trennungsabsichten des Forums für ihren Bund abgegeben. Darin heißt es:

Die Trennung wird mit einem Zerrbild des Bundes begründet und geht von falschen Annahmen aus. Nur ein Beispiel: Vom CFD ist zu hören, im BEFG stelle man den Sühneopfertod und die Auferstehung Jesu infrage. Wer sich damit befasst und sich beispielsweise Statements und Andachten leitender Verantwortlicher durchliest oder sich den aktuellen Podcast der Theologischen Hochschule Elstal anhört, merkt schnell, wie unfair und übertrieben solch verallgemeinernde Aussagen sind. Auch in Fragen der Sexualethik wird mitunter der Eindruck erweckt, im BEFG gebe es ausschließlich liberale Positionen. Richtig ist, dass es in unserem Bund respektiert wird, wenn Gemeinden zu unterschiedlichen Erkenntnissen kommen; auch darin drückt sich die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde im Sinne des Kongregationalismus aus. Wir möchten unser Ringen in Erkenntnisfragen nicht über Grenzziehungen oder rote Linien definieren, sondern am gemeinsamen Bekenntnis festhalten.

Dabei hat unser Bund ein klares gemeinsames Glaubensfundament. Wir stehen auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Unsere Glaubensbasis haben wir in der „Rechenschaft vom Glauben“ zusammengefasst, die wiederum Bezug nimmt auf das Apostolische Glaubensbekenntnis, das – wie die Heilige Schrift – alle Christen verbindet. Auf dieser Basis, deren unverrückbare Mitte Christus ist, sind wir eine Kirche des Dialogs. In der Diskussion um die Trennungsabsichten des CFD wird der falsche Eindruck erweckt, Dialog sei mit Beliebigkeit gleichzusetzen. An dieser Stelle möchten wir hierzu das wiederholen, was Präsidium, Bundesgeschäftsführung und die Leiterinnen und Leiter der Landesverbände im November 2023 in ihrer Stellungnahme „Gemeinsam sind wir Bund!“ über das Miteinander der konfessionellen Traditionen im BEFG geschrieben haben:

Eine solche Übereinkunft setzt […] einen anhaltenden Dialog voraus. Dazu gehört die Bereitschaft, diese Übereinstimmung immer wieder neu in den Blick zu nehmen und ihre Konkretion auch miteinander auszudiskutieren. Solche theologischen Gespräche sind nie einfach, brauchen Zeit, Gebet und dauern mitunter viele Jahre. Dabei sind das geistliche Miteinander und das Beieinanderbleiben in aller Unterschiedlichkeit ein starkes Zeugnis für die Menschen in unseren Gemeinden und darüber hinaus. Eine Trennung wäre ein fatales Signal. Wir haben einen gemeinsamen Auftrag. Wir sind mit hineingenommen in Gottes Mission. Wir sind dazu berufen, in Einheit der Welt die gute Nachricht von Jesus Christus zu verkündigen. Diese Einheit untereinander macht uns glaubwürdig, damit die Welt glaubt. Lasst uns diese Einheit bewahren, wo sie vorhanden ist, schützen, wo sie gefährdet ist, und neu suchen, wo sie abhandengekommen ist. Wir sind berufen, das Band des Friedens zu knüpfen, mögliche Schritte aufeinander zuzugehen, vorhandene Vorurteile abzubauen und Einwände respektvoll zu formulieren und zu vertreten, Verschiedenheiten untereinander anzuerkennen, voneinander zu lernen, füreinander zu beten und gemeinsam Christus in Wort und Tat zu verkündigen. In diesem Sinne wünschen wir uns, dass wir uns den Glauben gegenseitig glauben. Wir wollen die Vielfalt in der Einheit, in der Jesus Christus das Zentrum ist und bleibt.

Traurig müssen wir erkennen, dass Teile des Bundes anderen Teilen des Bundes ihren Glauben nicht glauben. Gemeinden, in deren Geschichte die baptistische und die Brüder-Tradition bedeutsam sind, stehen jetzt möglicherweise vor einer Zerreißprobe.

Nun bin ich kein Freund des Separatismus und gebe zu, dass solche Trennungserfahrungen immer mit Schmerzen verbunden sind und dort, wo möglich, vermieden werden sollten.

Was mich allerdings ärgert, ist, dass die Vertreter des BEFG den Eindruck erwecken möchten, das ChristusForum habe spalterische Absichten. Die Formel, dass „wir uns den Glauben gegenseitig glauben“, habe ich vor einigen Jahren mal von Ulrich Eggers gehört. Ich halte sie für völlig ungeeignet, notwendige theologische Klärungen herbeizuführen. Sie soll nämlich verschleiern, dass es substantielle Unterschiede im „Was-Glauben“ gibt (fides quae creditur), indem auf die gegenseitige Anerkenntnis des persönlichen Glaubensaktes verwiesen wird (fides qua creditur). Natürlich kann ein Christ glauben, dass ein Zeuge Jehovas seinen Glauben sehr ernst nimmt. Und doch wird er hoffentlich darauf verweisen, dass der Glaubensinhalt eines Zeugen Jehovas biblisch nicht gedeckt ist.

Wenn der WAS-Glaube sich von der Schrift entfernt hat, muss das notfalls zu Spaltungen führen (vgl. 1Kor 11,19). Die Verantwortung für diese Spaltungen tragen diejenigen, die es versäumt haben, an der heilsamen Lehre festzuhalten. Ein Kirchenbund, in dem alles geglaubt werden darf, ist wertlos. Ich zitiere dazu den Punkt 4 aus dem Dokument „Gemeinsam für das Evangelium“:

Die Einheit aller Christen ist ein von Gott bewirktes Wunder. Sie soll nicht durch Parteiung und Selbstsucht gefährdet werden. Abseits der Wahrheit des Evangeliums kann es keine Einheit geben. Echter Glaube wird nicht zuerst durch die individuelle Lebensgeschichte bestimmt. Unterschiede, die nicht zum Wesen des Evangeliums gehören, müssen ertragen werden. Vor falscher Lehre bezüglich des Evangeliums muss offen gewarnt werden.

– – –

Hinweis: Der erste Absatz wurde nach dem Kommentar von Dr. A. Liese am 4. Mai 2024 überarbeitet.

Was heißt Biblizismus?

Hans Joachim Iwand sagte in einer Göttinger Vorlesung über die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Hans Joachim Iwand u. Gerard Cornelis den Hertog (Hg.), Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Vater und Söhne, Nachgelassene Werke, Bd. 3,  Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2001, S. 27):

Was heißt Biblizismus? Es bezeichnet den Kampf um die Autopistie [unmittelbare Glaubwürdigkeit; Anm.]der Heiligen Schrift, also um die Frage, was nun die kritische Wissenschaft, die vergleichende, quellenkritisch vorgehende Wissenschaft des Alten und Neuen Testaments, die im neunzehnten Jahrhundert ihre größten Triumphe feiert, für das Vertrauen des Christen zur Heiligen Schrift bedeutet. Schiebt sich nicht hier ein neuer Papalismus [die Auffassung, nach der dem Papst die volle Kirchengewalt zusteht; Anm.] nämlich die Gelehrten – zwischen das Wort und den Glauben? Der Biblizismus im neunzehnten Jahrhundert ringt darum, hier einen vielleicht sehr engen, aber doch unantastbaren Zugang frei zu halten. Er sieht die furchtbare Gefahr, die in Positivismus und Liberalismus liegt – daß an die Stelle des Vertrauens zum Wort Gottes das Vertrauen auf die Wissenschaft tritt, ein Vertrauen, das nicht ausreicht, um die Seligkeit und Gewißheit darauf zu gründen. Darum ist dieser Kreis von Theologen – unter denen Menken, Beck und Kähler insonderheit zu nennen sind, – immer wieder von der Gewißheitsfrage bewegt – und Karl Heim ist der bis in unsere Generation hineinreichende, lebendige Vertreter dieser wichtigen theologischen Tradition. Vielleicht wird man hier auch Kohlbrügge, auch den älteren Blumhardt nennen müssen. Sie fühlen sich als die Vertreter des Laien in der Theologie, und einer unter ihnen hat diese Aufgabe geradezu als die der Dogmatik bezeichnet. 

Christentum und funktionaler Liberalismus

Unter einem „theologische Liberalismus“ können sich viele Leute etwas vorstellen. Sie denken dabei beispielsweise an Friedrich Schleiermacher oder Ernst Troeltsch. Aber schon mal was von einem „funktionalen Liberalismus“ gehört?

Der funktionale Liberalismus unterscheidet sich vom bekannten „alten Liberalismus“, indem er den Lehrbekenntnissen offiziell zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, „indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt“.

Doug Ponder und Bryan Laughlin haben das näher herausgearbeitet: 

Während Machen über das Christentum und den Liberalismus schrieb, schreiben wir, dazu ergänzend, eine Art Anhang über das Christentum und den funktionalen Liberalismus.13 Wir nennen ihn „funktionalen Liberalismus“ (und nicht Liberalismus simpliciter), weil diese Sorte des Virus im Gegensatz zur Bedrohung zu Machens Zeiten nicht die gleichen Symptome aufweist (auch wenn er eine ähnliche Ursache hat). Machens Liberale waren Modernisten, die offen die Zuverlässigkeit der Bibel, die Realität des Übernatürlichen, die Notwendigkeit des Sühneopfers und die physische Auferstehung Jesu Christi von den Toten leugneten. Wie die berühmte Karikatur von E.J. Pace aus dem Jahr 1922 illustriert, vollzog sich die Abkehr der Liberalen vom Glauben oft in Etappen, wobei die Wahrhaftigkeit der Bibel als Erstes infrage gestellt wurde. Es gibt noch einige wenige Liberale dieser Art. Aber diejenigen, die an dem Glauben festhalten, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist (vgl. Jud 3), sind – zum großen Teil dank Machen und seinen Erben – nicht versucht, sie als Teil des Leibes Christi anzuerkennen (vgl. 1Joh 2,19).

Das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist von einer etwas anderen Art. Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt. Wir sind nicht die Ersten, die diese Beobachtung machen. Irgendwo in den Annalen von D.A. Carsons gewaltigem Werk findet sich ein Vortrag, in dem er eine eindringliche Warnung ausspricht: „Die Zukunft des Liberalismus in den amerikanischen Gemeinden wird nicht so aussehen wie vor einem Jahrhundert. In konservativen Seminaren und Gemeinden wird es keine schamlose Verleugnung zentraler Lehrsätze geben, um die in der Vergangenheit Schlachten ausgetragen wurden. Stattdessen werden dort Leute auftreten, die behaupten, die Lehren zu bekräftigen, während sie sie durch subtile, aber substanzielle Neuinterpretationen untergraben.“

Ein wichtiger Aufsatz, auch wenn seine Beispiele alle aus Nordamerika stammen.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Culture Shift

Paul Bruderer beschreibt für „Daniel Option“, wie auf ihn innerhalb der evangelikalen Szene Druck in Sachen Sexualethik ausgeübt wurde: 

Ab 2014 traten die Forderungen immer häufiger und lauter an mich heran, gewisse Verhaltensweisen (z.B. ausgelebte Homosexualität oder sexuelle Intimität vor und ausserhalb der Ehe) grundsätzlich gutzuheissen, solange diese einvernehmlich unter Erwachsenen gelebt werden. Was mir bisher als ein respektvoller und willkommen heissender Umgang mit diesen Menschen schien, wurde nun immer mehr als etwas bezeichnet, das gegen diese Menschen gerichtet ist. Sogar als etwas Aggressives. Ich hätte eine aggressive Theologie, meinten einige. Die Forderung kam immer direkter und fordernder, meine Meinung grundlegend zu ändern.

Ich vergesse nicht, wie ein guter Freund von mir mich direkt und scharf konfrontierte: «Paul, wir haben als Christen unsere Meinung geändert in Bezug auf die Sklavenfrage und in der Frauenfrage. Wir werden (dieses Wort betonte er deutlich) unsere Meinung auch in der Frage ausgelebter Homosexualität ändern!»

Der Ball war bei mir. Ich hatte Hausaufgaben zu tun und nahm mir 2 Jahre Zeit. Inzwischen waren diese Fragen an der Basis meiner Kirchgemeinde angekommen. Ich bin meiner Gemeinde dankbar, dass sie mir die nötige Zeit gab, nochmals über die Bücher zu gehen. Und über die Bücher gehen musste ich tatsächlich! Ich war schon über 10 Jahre Pastor und Lehrer. Ich musste mir aber nochmals fast von Null auf überlegen, was die Bibel eigentlich ist und wie dieses Jahrtausend alte Buch, das in einer anderen Kultur geschrieben wurde, sich auf unsere Zeit übertragen lässt. Ich habe in dieser Zeit auch viel mit Menschen gesprochen, die persönlich mit diesen Themen und Fragestellungen leben.

Ich habe die Frage ernsthaft an mich herangelassen: Könnte es sein, dass wir als Christen während 2000 Jahre gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen zu Unrecht abverlangt haben, ihre sexuelle Präferenz nicht auszuleben? Haben wir ihnen 2000 Jahre lang Unrecht getan? Progressiv-Liberale, die mich heute kennen, werden mir nicht glauben, dass ich diese Frage wirklich an mich herangelassen habe. Ich kann es ihnen nicht beweisen. Ich hoffe, sie glauben es mir. Es war mir eine Not, hier Gottes Wege zu finden, denn ich weiss, dass seine Wege für den Menschen gut sind. Ich will den Menschen auf jeden Fall dienen, aber nach Gottes Art und Weise.

Nach den 2 Jahren kam ich aus diesem Prozess heraus mit der Erkenntnis, dass die Sklaven- und Frauenfrage keineswegs dieselben sind wie die Frage, ob Homosexuelle ihre Präferenz mit Gottes Segen ausleben können. Nur der Neo-Marxismus unserer Zeit wirft alle drei Gruppen in einen Topf: alle drei werden der grossen Kategorie von unterdrückten Minderheiten zugeordnet. Sie unterscheiden sich lediglich im Mass an sogenannter Intersektionalität. Aber der Neo-Marxismus hat wenig Unterscheidungsvermögen und den einzelnen Menschen sieht er schon gar nicht!

Mehr: danieloption.ch.

Calvins Einfluss auf die „Reformierten“

Christoph Strom über den Einfluss Calvins auf die „Reformierten“ (Johannes Calvin, 2009, S. 6):

Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sprachen die Gegner des reformierten Protestantismus von „Calvinismus“ und nannten dessen Vertreter „Calvinistae“ bzw. „Calvinisten“. Insbesondere durch Max Webers und Ernst Troeltschs Forschungen zu Beginn des 2.0. Jahrhunderts ist der Begriff „Calvinismus“ auch in der wissenschaftlichen Darstellung etabliert worden. Man kann diesen Sprachgebrauch als Indiz für die zentrale Rolle, die Calvin für die Entwicklung des Reformiertentums gespielt hat, bewerten. Dabei erscheint es durchaus fraglich, ob die Rede vom „Calvinismus“ der Pluralität der Theologen und Theologien im reformierten Protestantismus gerecht wird. Der Genfer Reformator ist nur einer unter mehreren Theologen, die durch das gemeinsame Engagement für eine konsequente Durchführung der Reformation geeint waren. Alle leisteten ihren spezifischen Beitrag zur Ausbreitung der Reformation in der Schweiz, in Westeuropa, Teilen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Südosteuropa und schließlich auch in der Neuen Welt. Calvin aber wurde bald von den römischen Gegnern als der gefährlichste unter den Ketzern identifiziert und erlangte durch sein Wirken und sein Schrifttum in den eigenen Reihen höchstes Ansehen.

David Wells: Von der Faszination weltlicher Weisheit

David F. Wells schreibt über die Faszination der weltlichen Weisheit (God in the Wasteland: The Reality of Truth in a World of Fading Dreams, 1994, S. 54–55):

An dieser Stelle sollte klar sein, dass Weltlichkeit nicht einfach eine unschuldige kulturelle Eskapade ist, und schon gar nicht eine Angelegenheit, bei der es sich nur um unbedeutende Verhaltensverstöße oder das Übertreten trivialer Regeln der Kirche oder der erwarteten Frömmigkeit handelt. Weltlichkeit ist eine religiöse Angelegenheit. Die Welt, wie die Autoren des Neuen Testaments sie beschreiben, ist eine Alternative zu Gott. Sie bietet sich selbst als ein alternatives Zentrum der Treue an. Sie bietet einen gefälschten Sinn. Sie ist das Mittel, das Satan in seinem Kampf gegen Gott einsetzt. Teil dieser „Welt“ zu sein, bedeutet, Teil der satanischen Feindschaft gegen Gott zu sein. Deshalb ist die Weltlichkeit so oft götzendienerisch, und deshalb sind die biblischen Sanktionen gegen sie so streng. „Wisst ihr nicht“, fragt Jakobus, „dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, macht sich zum Feind Gottes“ (Jakobus 4,4).

In der heutigen evangelikalen Bewegung ist die Weltlichkeit zu spüren. Auf den ersten Blick erscheint diese Weltlichkeit keineswegs hässlich. Ganz im Gegenteil. Sie hat eine warme und freundliche Ausstrahlung und präsentiert sich als erfolgreiches Unternehmertum, als organisatorische Meisterleistung und als ein Paket ausgeklügelter PR-Kenntnisse, die für die Förderung evangelikaler Angelegenheiten unerlässlich sind.

Nun ist an sich nichts falsch an Unternehmertum oder organisatorischer Meisterleistung oder Öffentlichkeitsarbeit oder Fernsehbildern und Hochglanzmagazinen. Das Problem liegt in der gegenwärtigen Unfähigkeit der Evangelikalen zu erkennen, dass diese Dinge Werte in sich tragen, die dem christlichen Glauben feindlich gegenüberstehen. Das Problem liegt außerdem in der mangelnden Bereitschaft der Evangelikalen, auf die unmittelbaren und überwältigenden Vorteile der Moderne zu verzichten, selbst wenn korrumpierte Werte ein wesentlicher Bestandteil dieser Nutzeffekte sind. Was also ganz offensichtlich fehlt, ist Unterscheidungsvermögen, und das hat viel mit der Verdrängung der biblischen Wahrheit aus dem Leben der Kirche heute und viel mit dem Sterben ihrer theologischen Seele zu tun.

Unterscheidungsvermögen ist eine geistliche Fähigkeit. Es ist die Einsicht, die mit christlicher Weisheit einhergeht. Es ist die Fähigkeit, das Leben zu „durchschauen“, es so zu sehen, wie es wirklich ist. Manche Menschen sind von Natur aus klüger als andere, manche kritischer als andere, und Gott mag diese Art von Gabe durch seine Gnade verstärken, aber es ist nicht diese natürliche Fähigkeit, auf die ich mich hier beziehe. Der Kern der Fähigkeit, in den konkreten Lebensumständen zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist die reiche Entfaltung, die Gott aus dem Zusammenspiel der Wahrheit seines Wortes, dem Nachdenken darüber und dem daraus erwachsenden moralischen Charakter beabsichtigt. Es ist diese Kultur der Weisheit, mit der sich die Bibel in beiden Testamenten intensiv beschäftigt und für die die evangelikale Welt das Interesse verloren zu haben scheint.

Die alternative Weisheit, die die Moderne heute vorschlägt, hat eindeutig ihre Faszination, um nicht zu sagen ihre Vorteile. Die westliche Gesellschaft akzeptiert sie als normal und besteht in ihren frechen Momenten lautstark darauf, dass sie normativ ist. Sie ist populär, weil sie funktioniert. Aber in vielerlei Hinsicht bietet sie der Kirche eine gefälschte Realität, die die Macht hat, das zu zerstören, was die Kirche ist. Sie beraubt die Kirche gewiss ihrer Einsicht in den wahren Sinn des Lebens, einer grundlegenden moralischen Einsicht, weil sie die Kirche ihrer Fähigkeit beraubt, sich an Gott zu orientieren, der im Zentrum der Heiligkeit steht.

Mehr mehr über David Wells wissen möchte, kann den Artikel von Sarah Eekhoff Zylstra lesen.

Melanchthon über die Zwickauer Propheten

Wittenberg ist der Ausgangspunkt der Reformation. Martin Luther lebte mehr als die Hälfte seines Lebens in dieser Stadt. Dort, wo der Heilige Geist durch das Wort Menschen zu geistlichem Leben erweckt, schießen manchmal einige über das Ziel hinaus. Im Umfeld der Wittenberger Reformation tauchten Leute auf, die vorgaben, laufend besondere Botschaften von Gott zu empfangen. Im Dezember 1521 hatte sich die Lage in Wittenberg krisenhaft zugespitzt. Karlstad feierte am ersten Weihnachtstag trotz Verbots das Abendmahl in deutscher Sprache mit beiden Elementen Brot und Wein. Am 27. Dezember tauchten die sogenannten Zwickauer Propheten Nikolaus Storch, Thomas Drechsel sowie der ehemalige Wittenberger Student Markus Thomae (genannt Stübner) bei Melanchthon auf und erzählten von persönlichen Gesprächen, die sie mit Gott führten. Melanchthon war beeindruckt und besorgt zugleich. Einerseits wollte er den Geist nicht dämpfen, andererseits erahnte er, dass hier etwas nicht stimmt und Verwirrung folgen wird. Melanchthon sah sich genötigt, dem Kurfürsten von Sachsen eine Warnung zukommen zu lassen. 

Ich zitiere aus dem Schreiben (Heiko A. Oberman (Hg.), Die Kirche im Zeitalter der Reformation: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, 2004, S. 82):

Eurer durchlauchtigsten Hoheit wünsche ich die Gnade und den Frieden Christi!

Eure Hoheit halte es mir zugute, daß ich wage, an Euch zu schreiben; mich zwingen wichtige und gefährliche Vorgänge, die jetzt alle Aufmerksamkeit und Fürsorge Eurer Hoheit erfordern. Es handelt sich um folgendes, was ich Euch unbedingt vortragen muß: Eurer Hoheit ist nicht unbekannt, wie viele gefährliche Meinungsverschiedenheiten [dissensiones] aller Art im Hinlick auf das Wort Gottes in Eurer Hoheit Stadt Zwickau entstanden sind. Man hat dort ja auch Leute in Gewahrsam genommen, die alle möglichen Veränderungen angestrebt haben. Von den Urhebern dieser Unruhen sind nun drei Männer hier [in Wittenberg] aufgetaucht, zwei ungebildete Tuchknappen und ein Gelehrter [literatus]. Ich habe sie angehört; was sie von sich sagen, klingt recht wunderlich [mira]: Sie seien durch einen eindeutigen Auftrag [clara voce] Gottes zum Lehren ausgesandt worden; zwischen ihnen und Gott gebe es traute [familiaria] Gespräche; sie könnten die Zukunft vorhersehen; kurz: sie seien Propheten und Apostel. Ich kann kaum sagen, wie stark mich das beeindruckt. Jedenfalls hindern mich gewichtige Gründe daran, sie unbeachtet zu lassen [contemni nolim]. Denn es gibt zahlreiche Hinweise dafür, daß sie von irgendwelchen Geistern ergriffen sind; aber diese kann nur Martinus sicher beurteilen. Da deshalb jetzt das Evangelium und zugleich Ehre und Friede der Kirche auf dem Spiel stehen, muß man sich mit allen Mitteln bemühen, daß die Leute mit Martinus zusammenkommen; denn auf ihn berufen sie sich.

Ich würde Eure Hoheit nicht mit diesem Brief belästigen, wenn die Sache nicht so wichtig wäre, daß sie eine rasche Entscheidung erforderte. Auf der einen Seite müssen wir uns hüten, den Geist Gottes zu dämpfen [1 Thess 5,19], auf der anderen dürfen wir uns aber auch nicht vom Satan gefangennehmen lassen. Der Herr bewahre Eure Hoheit zum Wohl seiner Kirche bis ins hohe Alter.

Am Tage Johannes des Evangelisten 1522 [= 27. Dezember 1521].

Eurer Hoheit ergebener

Philipp Melanchthon

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