Das mysteriöse Schweigen von Papst Pius XII.

Tausende von Menschen baten den Papst im Zweiten Weltkrieg, gegen das Unrecht der Nazis Stellung zu nehmen. Alle wurden mit der gleichen Antwort abgefertigt. Hubert Wolf fasst für die NZZ die neuesten Erkenntnise zum Schweigen des Vaticans in der Judenfrage zusammen. In dem Artikel „Papst Pius XII. wusste Bescheid über die Shoah – und schwieg: Jetzt zeigen die vatikanischen Archive, weshalb“ heißt es: 

Alle Versuche, das Schweigen Pius’ XII. mit seinem mangelnden Wissen über den Holocaust zu entschuldigen, werden durch die vatikanischen Akten eindeutig widerlegt. Der Papst war auf dreifache Weise über die Entwicklung der Judenverfolgung in Europa genau informiert.

Erstens durch Hunderte von Berichten seiner diplomatischen Vertreter aus den einzelnen Ländern, den Nuntien und Delegaten. Zweitens durch rund 10 000 bisher unbekannte Bittschreiben jüdischer Menschen aus ganz Europa von 1939 bis 1945, die Pius XII. um Hilfe baten und ihre Not und Verfolgung minuziös schilderten – und denen Papst und Kirche tatsächlich nicht selten zu helfen versuchten. Und schliesslich durch ein geheimes jesuitisches Informationsnetzwerk, dessen Fäden beim Geheimsekretär des Papstes, dem Jesuiten Pater Robert Leiber, zusammenliefen. Er legte die entsprechenden Schriftstücke im Privatarchiv von Pius XII. ab.

Hier findet sich auch ein Brief von Leibers Ordensbruder Lothar König vom 14. Dezember 1942, in dem es heisst: «Die letzten Angaben über ‹Rawa Ruska› mit seinem SS-Hochofen, wo täglich bis zu 6000 Menschen, vor allem Polen und Juden, umgelegt werden, habe ich über andere Quellen bestätigt gefunden. Auch der Bericht über Oschwitz (Auschwitz) bei Kattowitz stimmt.»

Ende 1942 wusste der Papst also Bescheid über die Existenz der Massenvernichtungslager Belzec und Auschwitz. König konnte Angaben, die er in einem früheren, leider nicht erhaltenen Brief an Leiber gemacht hatte, bestätigen. Im Winter 1942/43 wurde die «Endlösung» der Judenfrage im Vatikan schreckliche Gewissheit. In einer internen Notiz des Staatssekretariats vom 5. Mai 1943 kann man lesen: «Juden. Schreckliche Situation.» Von den ehemals 4,5 Millionen Juden in Polen seien nur noch 100 000 am Leben. Und es wird klar festgehalten: «Spezielle Todeslager in der Nähe von Lublin (Treblinka) und bei Brest-Litowsk.»

Warum also schwieg Papst Pius XII.?

Das Schweigen zum Genozid an katholischen Polen lässt sich dezidiert nicht mit einem «Antisemitismus» von Pius XII. erklären. Es muss andere Gründe haben. Diese erhellen aus innervatikanischen Diskussionen, die sich in internen Aktennotizen niedergeschlagen haben: Der Papst wollte über den Parteien stehen und strikte Neutralität wahren, zumal er nach seinem Selbstverständnis als «Padre comune» für Katholiken auf allen Seiten der Fronten da sein musste.

Er fürchtete, seine Äusserungen könnten von einer Kriegspartei instrumentalisiert werden. … Ein weiterer Grund, der in den Quellen zumindest immer wieder angedeutet wird, lautet: Öffentliche Proteste des Papstes machten die Lage der Juden, die sich in der Hand der Nationalsozialisten befanden, nur noch schlimmer und päpstliche Hilfe im Verborgenen auch im Einzelfall noch viel schwieriger.

Mehr: www.nzz.ch.

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