Stephan Holthaus klagte kürzlich über die Streitvermeidungsstrategien unter den Christen: „Die Streitvermeidung hat auch unsere Kirchen erreicht. In Wirklichkeit auch die Evangelikalen. Bei ihnen wird viel weniger gestritten als früher. Problemen geht man gerne aus dem Weg. Die alles nivellierende Gleichgültigkeit der Moderne führt zur Streitphobie. Kämpfen für die Wahrheit: Wer macht das noch?“
Ein passendes Zitat dazu von Ernst Käsemann:
Paulus blieb Juden und Griechen ein Einzelgänger und Fremdling und wird im heutigen Protestantismus zunehmend vom Schatten des Petrus verdeckt, weil man seine Polemik bestenfalls noch historisch begreift. Dazu trägt bei, daß Toleranz und Neopositivismus gegenwärtig Polemik als Äußerung subjektiver Gefühle werten und ihr die Pflicht zur Objektivität entgegenhalten.
Ins Theologische übertragen, besagt das freilich, daß das Bild des gütigen Gottes mehr oder minder das des Richters verdrängt hat und die Funktion des heiligen Geistes nur noch in der Erbauung gesehen wird, obgleich das Neue Testament ihn unaufhörlich als Polemiker schildert.
Was soll man aber machen, wenn (gesunde) Kritik und (gesunde und lebendige) Streikultur sofort gnadenlos dazu führen, daß man als Unruhestifter und als „böse“ gesehen wird?
Aus den Brüdergemeinden der „geschlossenen Brüder“ habe ich es so erlebt. Je mehr ich, als ich damals in diesen Gemeinden unterwegs war, über die Lebensweise und die Lehrmeinung der Brüder erfahren habe, um so mehr Unmut wurde in mir geweckt. Ich stieß aber bei den meisten Gesprächen auf völliges Unverständnis und mußte erleben, wie man fast sektenartig jede (gesunde) Kritik und jeden anderen (berechtigten) Blickwinkel verworfen hat, weil man meinte, man sei erhaben über allen anderen und über allem anderen.
Kritik und interessierte Diskussionskultur sowie die Haltung, sich auch mal selbst kritisch zu hinterfragen, sind dort gleichgestzt mit Unruhe, Unordnung, Gefahr, „Welt“ und Satan.
Ich habe keinen Einblick bei den „geschlossenen Brüdern“. Aber ich habe mal gelesen, die haben sich über gewisse Lehrfragen so zerstritten, daß sie sich getrennt haben. Dann gab es mehrere „geschlossene Brüder“. Ok, vorher schon haben sie sich von den „offenen Brüdern“ getrennt. Sonst gäbe es ja diesen Unterschied nicht. Ja, vielleicht sind sie zum Schluß gekommen, daß diese Art von Streit nur zu Spaltungen führt. Daher dann diese Streitunlust.
@MNIU: Streitkultur ist immer auch ein kulturelles Phänomen. Die geschilderten Indizien deuten allerdings darauf hin, dass die Gemeinde Probleme hat. Die Ursachen können sehr vielfältig sein. Nicht immer haben diejenigen Probleme, die Probleme ansprechen. 😉
Liebe Grüße, Ron
Holthaus schrieb auch: „Dabei kommt es darauf an, wofür man streitet.“
Hat mir gefallen sein Kommentar. Der war überhaupt sehr ausgewogen. Man sollte sich nur über die wichtigen Dinge streiten. Für mich sind das überwiegend die eindeutigen Dinge in der Bibel, die praktische Auswirkungen haben.
Wann hat Käsemann das geschrieben?
Vielleicht sollte man begrifflich zwischen „Streit“ und „Auseinandersetzung“ differenzieren. Ersteres ist für viele auch biographisch (z. B. streitende Eltern, Streit unter Geschwistern) zu Recht eindeutig negativ besetzt, da in der Regel mit Aggression und (seelischer) Verletzung bzw. (verbalem) Angriff und Machtausübung verbunden. Und das ist, insbesondere im geistlichen Kontext, alles andere als geistlich oder Geist-gewirkt, leider aber unter uns Christen genau so zu finden wie in der ungeheiligten Welt. Ich selbst nehme aus o. g. Gründen das Wort „Streit“ nicht gerne in den Mund. „Auseinandersetzung“ hingegen ist auch mit 1Kor 13 kompatibel.
Ich meine, wir sollten die Gleichsetzung
von „Streit“ und „persönlichem Streit“ nicht akzeptieren,
sondern stattdessen die Unterscheidung
zwischen Streit in der Sache und persönlichem Streit betonen.
Streitkultur meint Streit in der Sache, ist ein positiver Begriff und
bedarf einer Renaissance.
In der Sache streiten wir mit dem anderen, nicht gegen den anderen.
Zur Streitkultur gehören auch Leidenschaft und Offensive.
Natürlich. Die Bibel warnt ja auch vor Streit und Streitsüchtigkeit (vgl. z.B. 2Tim 2,24ff) und fordert Respekt gegenüber Andersdenkenden (vgl. z.B. 1Petr 3,15f). Dass weder Käsemann noch Holthaus den Streit um des Streits willen fordern, ist offensichtlich. Sie fordern Streit um der Wahrheit willen, den es geben muss, wenn wir die Wahrheit lieben, der aber nur stört, wenn die Wahrheit in den Raum des persönlichen Geschmacks verwiesen wird.
Liebe Grüße, Ron
@Johannes S.: Das Zitat stammt aus den 60-er Jahren.
Liebe Grüße, Ron
Wie bei vielen anderen Dingen kann man auch bei diesem Thema auf zwei Seiten vom Pferd fallen – Streit ist manchmal (wenn es ums „Eingemachte“ geht) sehr nötig – andererseits kann die vermeintliche Wichtigkeit der Streitthemen Anlass zu Unversöhnlichkeit und Trennungen sein.
Wünschen würde ich mir (wenn es NICHT um wirkliche Irrlehren geht) ein Forschen in der Schrift, das mit einem ergebnisoffenen Diskurs einhergeht, in dem Christen sich nicht sofort pauschal die Rechtgläubigkeit absprechen. Dabei scheint mir die Ergebnisoffenheit, die den Anderen mit einer divergierenden Überzeugung trotzdem annimmt und als Bruder stehen lässt, eine große Herausforderung zu sein. Anderenfalls hauen wir uns nur unsere individuellen Wahrheiten um die Ohren.
Wie schrieb Paulus im Römerbrief: „Den Schwachen im Glauben aber nehmt auf, doch nicht zum Streit über Gedanken. … Jeder aber sei in seinem eigenen Sinn (seiner Meinung) völlig überzeugt! … so wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“
Es ist schon vieles Gute dazu in den Kommentaren gesagt worden.
Aus meiner Sicht scheint eine wesentliche Ursache dafür mangelhafte Lehre und Schriftkenntnis in den Gemeinden Ursache zu sein:
z.B. wenn ich in Gemeinden Gemeindezucht, Heiligkeit Gottes, Prüfen anhand der Schrift u.ä. ausklammere und nur die Liebe betone sowie die Unterordnung unter das, was die Leiter sagen werden wir als Resultat den Konsens über alles hinweg als Resultat haben. Es steht dann über allem nur eine falsch verstandene Liebesbotschaft. Die andere Seite, wie man vom Pferd fallen kann ergibt sich von selbst.
Wenn wir aber eine ausgewogene Lehre haben werden wird eine große Liebesfähigkeit zu Gott und zum anderen entstehen, wir werden aber andererseits zu den geistlichen Grundfragen einen klaren Standpunkt haben und diese auch mit Nachdruck vertreten.
Um es etwas ironisch zu sagen: Wir streiten in Gemeinden eher um die Farbe der Stühle im Gemeindezentrum wie über die Frage was die Kriterien sind, um einen gnädigen Gott zu bekommen.
Ich denke, es geht um unsere Konfliktfähigkeit;
und um die große Chance und Aufgabe der Christen,
wahre Liebe vorbildlich zu leben und damit zu demonstrieren.
Ich stimme der Aussage Käsemanns voll zu. Was würde er heute erst sagen?
Wir sollten aber nicht vergessen, dass Käsemann
zu den großen, weil einflussreichen Zerstörern des christlichen Glaubens gehört,
die also die Voraussetzungen dafür zerstört haben,
dass Theologie und Kirchen die Christen befähigen,
wahre Liebe vorbildlich zu leben und damit zu demonstrieren.
Wahre Liebe produziert keine Konflikte,
aber sie verschleiert auch keine Konflikte, sondern trägt sie angemessen aus.
Käsemann gehört zu denen, die zur Entstehung
eines verkehrten Liebesverständnisses beigetragen haben,
dass Liebe nämlich als unbedingte Konfliktvermeidung verstanden wird.
Es ist richtig, daß es innerhalb der Brüdergemeinden zu vielen Spaltungen gekommen ist und es sie auch wohl in Zukunft geben wird. Freunde von mir besuchen die „offenen Brüder“, waren aber früher bei den „geschlossenen Brüdern“, während andere Freunde, die noch mit mir befreundet sind, weiterhin die „geschlossenen Brüder“ besuchen, aber in vielen Fragen genauso wie ich denken oder zumindest eine ähnliche Haltung haben. Für sie ist es aber auch eine soziale Frage, ob man die „geschlossenen Brüder“ verläßt oder nicht, denn sie sind familiär dort aufgewachsen und haben ihren Familien-, Bekannten- und ihren Freundeskreis dort. Ich komme aus keinem gläubigen Elternhaus und war deshalb in meiner Entscheidung ungebunden und frei. Übrigens bin ich privat nicht so ein Motzkopf, wie man es vermuten könnte. Ich habe immer versucht, bemüht, liebend und verständnisvoll in Respekt und Anteilnahme über viele Themen, die mir schwer auf den Schultern lagen, zu reden, auch wenn ich nur ein Mensch bin und mich einiges von Zeit… Weiterlesen »
Das hört sich alles nicht so gesund an.
Ich habe ein paar Mal die Brüdergemeinde vor Ort besucht. Die sind da ganz anders. Viel offener. Einige Frauen bedeckten ihr Haupt beim Gebet mit einem Kopftuch, andere machten das nicht. Konnte jeder so machen, wie er es für richtig hielt. Ich fand es da sehr gut. Ich sollte demnächst mal wieder da hin gehen.
@Theophil Isegrim: Das stimmt natürlich. Auch bei den Gemeinden der „geschlossenen Brüder“ gibt es solche und solche, nicht jede Gemeinde ist gleich. In den Grundfragen stimmen sie aber zu 100% miteinander überein, und genau diese Grundfragen konnte ich zu einem gewissen Teil nicht mehr bejahen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß man sich (an anderen aufrichtigen Christen) versündigt und teilweise sektenhaft ist oder wird.
(Übrigens liebe ich die Geschwister in meiner alten Gemeinde noch immer. Hätte ich sie nicht geliebt, hätte ich mir den Weggang auch nicht so schwer gemacht. Das war ja eine Entwicklung von ungefähr zwei Jahren.)