Die scheinbare Überlegenheit des modernen Menschen

Die Physikerin und Philosophin Sibylle Anderl nimmt die Leser der ZEIT mit hinein in ihre Suche nach dem richtigen Glauben. Ihre Fragen sind klug und hilfreich. Leider setzt sie aber wie Rudolf Bultmann selbstverständlich voraus, dass wir heute klüger sind als die Menschen in der Antike und unser Wissensstand und „Weltbild“ darüber entscheidet, was wir uns aus der Bibel herauspicken. Ich wäre ja zurückhaltender: In mancherlei Hinsicht sind wir heute reicher und klüger, und in mancherlei Hinsicht ärmer und dümmer. Vielleicht ist ja das Weltbild, das Wunder oder ein Letztes Gericht kategorisch ausschließt, das eigentlich mythologische. Spätestens am Tag des Herrn wird das offenbar werden: „Vor Jesus müssen einmal alle auf die Knie fallen: alle im Himmel, auf der Erde und im Totenreich“ (Phil 2,10).

Hier das Zitat (DIE ZEIT, 05.06.2025, Nr. 24, S. 30):

Unser menschliches Wissen verändert sich mit der Zeit. Einst Rätselhaftes wird verstanden. Manches Verstandene wird wieder vergessen. Fest steht, dass sich unser heutiges Wissen grundlegend von dem der Menschen unterscheidet, die zur Entstehungszeit der Bibel lebten.

Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann sah darin vor achtzig Jahren den Grund, warum sogar viele Christen sich damit schwertun, das Neue Testament wörtlich zu nehmen: Die objektive Welt, wie wir sie erleben, existierte für die Menschen damals nicht. Sie besaßen keinen wissenschaftlichen Zugang zur Realität, es gab für sie keine Atome, keine chemischen Reaktionen und keine fernen Galaxien. Sie lebten in einer mythischen Wirklichkeit, in der ganz selbstverständlich übernatürliche Mächte wirkten, Gott, die Engel, Satan und dessen Dämonen. Tote konnten auferstehen, und das Jüngste Gericht wurde jederzeit erwartet. Dieses Weltbild sei das einer vergangenen Zeit, schreibt Bultmann, zu unserem wissenschaftlichen Denken passe es nicht mehr.

Laut Bultmann ist es eine Zumutung, als Christ das vergangene mythische Weltbild als wahr anerkennen zu müssen, obwohl es im krassen Widerspruch zu unserem modernen Wissen steht.

Ich stimme Bultmann zu: Es ist eine Zumutung. Und ich finde die Lösung sinnvoll, die er vorschlägt. Die biblischen Texte so zu interpretieren, dass sie auch in unserer Zeit funktionieren. Sich zu fragen, welche Inhalte wir wörtlich nehmen müssen und was auf die mythische Denkweise von damals zurückzuführen sein mag. Wahrscheinlich bin ich dabei teils sogar toleranter als Bultmann, weil ich weiß, dass die Grenzen unseres naturwissenschaftlichen Wissens weniger starr sind, als wir gemeinhin glauben.

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Jan Malcolm
23 Tage zuvor

Das zugrundeliegende Weltbild der ZEIT-Autorenschaft ist der dialektische Materialismus – die philosophische Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Diese Weltanschauung stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist inzwischen überholt – speziell durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die die Existenz genau dieser angeblich so objektiven Welt so ziemlich in Frage stellen.

Diese neuerliche Erkenntnisse sind allerdings derart schwer zu verstehen, dass sie die intellektuellen Kapazitäten der typischen Zeit-Redakteur*innen übersteigen. Schon wegen des Brain Drains schreibt deshalb ein Legacy-Medium aus dem 20. Jahrhundert auf dem naturwissenschaftlichen Stand des 19. Jahrhunderts, dem Jahrhundert in dem solche Periodika erfunden wurden.

Man braucht kein Theologiestudium oder überhaupt eine transzendente Gesinnung, um den völlig verblödeten Unsinn auf Volksschulniveau zu erkennen, eine aktuelle naturwissenschaftliche Hochschulausbildung genügt völlig, um den abgedruckten geistigen Durchfall als solchen zu identifizieren und das Abo kündigen.

Matze
23 Tage zuvor

Die Menschen sind nicht intelligenter. Man bekommt nur für die gleiche Leistung einen besseren Abischnitt wie früher. Aber don’t worry, deshalb kann man da schon mal durcheinander kommen 😀

22 Tage zuvor

Die Menge an Wissen hat exorbitant zugenommen, aber sind wir deshalb klüger?
Was wir emotionale Intelligenz nennen, könnte die biblische Weisheit sein und da meine ich eine stetige Abwärtsentwicklung zu erkennen.
Wenn nicht sogar eine Art Degeneration, den gesunden Menschenverstand betreffend, aber auch der gesunden Emotionalität. Die Entfremdung gegenüber Natur und Mitmenschen ist erschreckend, wie auch das negieren geistlicher Realitäten. Die Hybris des modernen Menschen ist ein Kartenhaus, nämlich ein Gedankengebäude ohne Fundament!

Udo
22 Tage zuvor

Interessant ist, dass Rudolf Bultmann sich von seiner Theologie noch kurz vor seinem Tod distanziert hat, so weiß seine frühere Schülerin Eta Linnemann glaubhaft zu berichten.
Bei aller exponentiellen Entwicklung von technischen Fähigkeiten und menschlichem Wissen wird oft vergessen, dass wir eben nach wie vor vieles nicht wissen. Wissenschaft bewegt sich nicht selten im Bereich von Hypothesen, Annahmen und Zirkelschlüssen. Ob ein Weltbild, bei dem Übernatürliches kategorisch ausgeschlossen wird, wirklich so realitätsnah ist? Ist das intelligent, wenn man natürlicherweise nicht leugnet, dass z. B. eine Klobrille mit Absenkautomatik sowohl einen Techniker als auch einen Designer benötigt, aber gleichzeitig auch behauptet, dass die Feinabstimmung unseres Sonnensystems und die Komplexität der Lebewesen auf unserer Erde ohne einen Techniker und Designer auskommen? Mehr Demut hätte schon damals Bultmann gut getan und würde erst recht unserer heutigen wissenschaftsgläubigen Gesellschaft gut zu Gesicht stehen, denn absolutes menschliches Wissen gibt es eben nicht. Das wusste schon Sokrates.

Jan Malcolm
21 Tage zuvor

wissenschaftsgläubigen Gesellschaft Das Problem ist doch nicht die Wissenschaft, sondern die grassierende Verblödung im (Wissenschafts-)Journalismus. Und die Dummheit ist nicht darauf beschränkt. Selbst in der kleinen christlichen Bubble ist es kein Stück besser. Dort meldet die Christliche Medieninitiative pro e. V.: „Erstmals wurde damit eine Frau zur Präsidentin der Freikirche gewählt“ idea e. V. meldet: Größte Freikirche: Erstmals eine Frau an der Spitze Eine Freikirche hat durchschnittlich so um die 90 Mitglieder und die erste weibliche Kirchenälteste wurde bei den Baptisten schon vor 30 Jahren gewählt. Dass ausgerechnet bei „evangelikal orientierten Journalisten“ offenbar niemand mehr weiß, was die Ekklesiologie einer Täufer-Freikirche ist und dass ein Gemeindebund gerade keine episkopale „Kirche“ ist, ist für Medien, die der DEA nahestehen, schlichtweg maximal peinlich. Beim DOM-Radio kann es nicht besser erwarten, da wählt die Journalist*in als Symbolbild einen evangelischen Pastoren-Talar, der die Abgrenzung zwischen Klerus und Laien symbolisiert, welche es bei Baptisten offiziell nicht gibt, weshalb kein ernsthafter Baptistenpastor so etwas anzieht. Aber… Weiterlesen »

Matze
21 Tage zuvor

Mir ist dazu der Begriff Herzensbildung eingefallen. Nur Wissen alleine hilft nicht, wenn nicht logisches Denken und Empathie dazukommt sowie das Reflektieren des Wissens in das jeweilige Umfeld. Wir sehen es doch gerade genug wie es zugeht, wenn Menschen über den Tellerrand ihrer Blase nicht hinzuschauen. Dass dies geschieht ubd es damit Fehlentwicklungen gibt hat mit der Grösse des Wissens herzlich wenig zu tun

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