Mit dem Apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ hat Papst Franziskus die Türen für die Situationsethik recht weit geöffnet und damit eine innerkirchliche Diskussion angestoßen, die nicht zur Ruhe kommt. Kürzlich haben sich sogar vier Kardinäle dem Papst mit fünf „Dubia“ (dt. Zweifel) frontal in den Weg gestellt. Der progressive Kardinal Kasper erkennt in „Amoris laetitia“ hingegen einen willkommenen Paradigmenwechsel. Zugleich behauptet er, Franziskus könne den bewährten Lehrer der Kirche, Thomas von Aquin, für sich in Anspruch nehmen. Kapser schreibt in STIMMEN DER ZEIT:
Man wird „Amoris laetitia“ nur verstehen, wenn man den Paradigmenwechsel nachvollzieht, den dieses Schreiben unternimmt. Ein Paradigmenwechsel ändert nicht die bisherige Lehre; er rückt sie jedoch in einen größeren Zusammenhang. So ändert „Amoris laetitia“ kein Jota an der Lehre der Kirche und ändert doch alles. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass „Amoris laetitia“ den Schritt tut von einer Gesetzes- hin zur Tugendmoral des Thomas von Aquin. Damit steht das Schreiben in bester Tradition. Das Neue ist in Wirklichkeit das bewährte Alte.
Bringt also Papst Franziskus nur den großen Lehrer Thomas von Aquinas zur Geltung?
Der katholische Systematiker Helmut Hoping (Freiburg) ist da anderer Meinung und erklärt in der FAZ vom 19.11.2016 (Nr. 127, S. 15), dass die in Anschlag gebrachten Zitate von Thomas von Aquin aus dem Kontext gerissen seien. Thomas könne gar nicht für eine reine Tugendethik beansprucht werden, da er die Tugenden in eine Normenethik eingebetet habe. Er unterscheide zwischen Handlungen, die in sich böse seien und Handlungen, die zwar allgemein verboten, aber unter bestimmten Umständen erlaubt seien. Ein Beispiel für die zweite Kategorie wäre die Tötung eines Menschen zum Zwecke der Selbstverteidigung. Die aquinischen Texte, die „Amoris Laetitia“ aufrufe, entstammten der zweiten Kategorie, obwohl bei Aquin der Ehebruch als eine in sich schlechte Handlung beschrieben werde.
Helmut Hoping:
Das achte Kapitel von „Amoris laetitia“ nimmt Thomas von Aquin für einen neuen Umgang in der Pastoral für Personen, die sich in sogenannten „irregulären“ Situationen befinden, in Anspruch. Es fällt auf, dass sich kein einziges der angeführten Thomaszitate auf die Ehe oder den Empfang der Sakramente bezieht, obwohl es um diese Materie in „Amoris laetitia“ doch einschlägig geht. Beim ersten Zitat geht es um den Fall, dass jemand die höchste Tugend der Liebe besitzt und ohne schwere Sünde ist, dennoch angesichts widriger Umstände Schwierigkeiten haben kann, in Übereinstimmung mit einer einzelnen sittlichen Tugend zu handeln, da diese nicht gefestigt genug ist, was selbst bei Heiligen im Einzelfall möglich ist. Daraus leitet „Amoris laetitia“ mildernde Umstände für Personen in „irregulären“ Situationen ab, etwa für Personen, die durch ein sakramentales Eheband gebunden sind, die mit einer anderen Person aber wie Eheleute zusammenleben.
„Für liberale Bischöfe und Theologen ist die Frage der Kommunion für wiederverheiratet Geschiedene ein Türöffner zur Revision der katholischen Sexualmoral insgesamt. Denn gibt man in ihrem Bindungsanspruch erst einmal die traditionelle Lehre auf, die als Ort gelebter Sexualität ausschließlich die gültige Ehe von Mann und Frau vorsieht, könnte die katholische Kirche wie die evangelische auch eheähnlichen Verhältnissen ihren Segen geben, einschließlich gottesdienstlicher Segensfeiern. Mit der Debatte um „Amoris laetitia“ erleben wir weit mehr als einen kirchenpolitischen Parteienstreit. Dies ist der Grund, warum sie mit solcher Vehemenz geführt wird.“
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