Wenn ich im Unterricht versuche, den Neuansatz Friedrich Schleiermachers zu erklären, provoziert das hin und wieder verwundertes Fragen. „Wie ist das genau gemeint?“ „Muss ich das verstehen?“
Kurz: Für den Theologen Schleiermacher steht das fromme Selbstbewusstsein des Menschen, jenes „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), Bd. 1, 1984, S. 3–6) im Zentrum der Theologie. Die Glaubenslehre beruht für ihn auf zweierlei, „einmal auf dem Bestreben die Erregung des christlich frommen Gemüthes in Lehre darzustellen, und dann auf dem Bestreben, was als Lehre ausgedrückt ist, in genauen Zusammenhang zu bringen“ (Der christliche Glaube (1821/22), Bd. 1, 1984, S. 16). An die Stelle der Heiligen Schrift tritt das Erleben des Gläubigen. „Der Mensch war das Subjekt seiner Theologie, Gott das Prädikat“ (H. Zahrnt, Die Sache mit Gott, 1996, S. 39). Jan Rohls schreibt dazu (J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, 1997, S. 396):
Gott ist uns also im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise gegeben, so daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl nicht erst sekundär aus einem Wissen von Gott entsteht. Das Bewußtsein unserer selbst als in Beziehung zu Gott stehend ist daher ein unmittelbares Selbstbewußtsein, nämlich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ausmacht. Und Gott bedeutet zunächst nur dasjenige, was in diesem Gefühl als das mitbestimmende Woher unseres Soseins mitgesetzt ist.
Während also zuvor Frömmigkeit verstanden wurde als eine subjektive Reaktion auf objektive Lehrinhalte, dreht Schleiermacher die Ordnung um und setzt beim Gemüt an. Die Glaubensdogmen sind nicht Ursprung, sondern Frucht der Glaubenserfahrung. Sätze des Glaubens sind Ausdruck des frommen Gefühls. Schleiermachers Glaubenslehre möchte deshalb nicht mehr objektive Glaubensinhalte beschreiben, sondern den Glauben der Menschen begrifflich ordnen und darstellen.
Da sich das religiöse Bewusstsein in jedem Menschen findet, also auch bei Gläubigen anderer Religionen, kennt Schleiermacher den qualitativen Unterschied zwischen dem christlichen Glauben und anderen „Glaubensformen“ nicht mehr. Religionen werden von ihm auf ihr Entwicklungsstadium befragt, da sie die Entfaltung des religiösen Bewusstseins auf verschieden fortschrittliche Weise spiegeln. Weil alle drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) derselben höchsten Entwicklungsstufe der Frömmigkeit angehören, können sie sich nur durch ihre Art der Frömmigkeit quantitativ unterscheiden. Im Christentum kommt nach Schleiermacher freilich die Frömmigkeit zu ihrer „reifsten Erfüllung“.
Der Religionskritiker Ludwig Feuerbach hatte bei seiner Kritik des Christentums damit ein leichtes Spiel. Er drehte den Spieß einfach um und sagte: „Ist z.B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts Anderes aus, als das Wesen des Gefühls … Das göttliche Wesen, welches das Gefühl vernimmt, ist in der Tat nichts anderes als das von sich selbst entzückte und bezauberte Wesen des Gefühls – das wonnetrunkene, in sich selige Gefühl“ (L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, 1883, S. 8). Das Selbstbewusstsein projiziert die eigenen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte auf den Himmel. Der Mensch ist nicht das Geschöpf Gottes, sondern Gott ist das Geschöpf des Menschen. So dürfen wir Feuerbachs Projektionsthese zusammenfassen.
Schleiermacher wollte eigentlich den Glauben vor der Kritik der reinen Vernunft (Kant) schützen, als er ihn in den Raum der Gemütserfahrung verlagerte. Gelungen ist ihm das nicht.
Nun ist das wirklich nicht so einfach zu verstehen. Vielleicht hilft ja das nachfolgende Video eines Pastors, den Ansatz nachzuvollziehen. Er erörtert in wenigen Minuten das Verhältnis von Glauben und Wahrheit und bewegt sich dabei im Fahrwasser Schleiermachers. Feuerbach hätte mit großer Freude und geschliffenen Klingen auf die Projektionen der beiden von ihm angeführten Personen, ein Christ und eine Muslimin, reagiert.
VD: JS
Wie kann ich das Kreuz subjektivieren ?
Wie kann jemand behaupten, dass es nur um Erfahrung geht und das Kreuz, als historisch objektive Tatsache ausser Acht lassen, was ja unseren Glauben ausmacht ?
Es muss alles lieb süß und nett sein .. das Kreuz ist aber nicht süß liebund nett.
Es ist war / blutig, dreckig, stinkt.. es muss dort gestunken haben vor Angst am Kreuz und Schmerz .. verfolgte Christen könnten uns viel Auskunft darüber geben, was es heisst: zu fühlen, zu erleben, eine Beziehung zu Gott zu haben.
Das ist esoterisches Gedankengut.
..also was der Pastor äußert .. nicht die verfolgten Christen.
Meint der das wirklich ernst? Oder war das nur Satire? Wie kann man nur so viel Unsinn reden? Ich verstehe das nicht. Das ist ja völlig absurd, was der Pastor da von sich gibt!
Ich weiß nicht, ob man Schleiermacher – und gerade – Kant gerecht wird, wenn man sie gegenüber stellt mit den Töpfen Gefühl-Vernunft. Da hat sich in der Bewertung durch Theologen und Philosophen einiges eingeschlichen. Kant war ein tiefgläubiger Mensch und hatte alles andere im Sinn als durch die Vernunft den Glauben anzugreifen. Schleiermacher war nicht nur ein gefühlsduseliger Mann, sonst hätte er nicht versucht, kraft seiner Vernunft eine Systematik zu schreiben. Die ganzen Schleichermacher-AnhängerInnen* – und davon gibt es heute sehr viele – machen aber – und das ist meine Anfrage an jene – auf eigenartige Weise den Schleier über Ansichten Schleiermachers, die nicht so recht in ihre Vielfalts- und Liebesphilosophie passen. Denn dass Schleiermacher ziemlich unbestimmt, gar widersprüchlich bei der Verhältnisbestimmung der Religionen operiert, das AT gar aus dem biblischen Kanon heraushaben will, das Christentum über Judentum und Islam stellt, das kann seinen AnhängerInnen* nicht passen. Der Begriff „Gefühl“ hat es nicht leicht. Nicht erst seit Loriots „Vielleicht stimmt… Weiterlesen »
@Gast2: „Kant war ein tiefgläubiger Mensch.“ Eine Aussage, die die volle Zustimmung Schleiermachers gefunden hätte.
Kant gab der Theologie von der Unwirklichkeit Gottes den entscheidenden Anstoß. Wir arbeiten uns heute noch daran ab. Aber „Gott sei Dank“ deutet sich eine Wende an. Immer mehr Philosophen und Theologen erkennen, dass wir hinter Kant zurückgehen müssen. Es ist an der Zeit, diese Genealogie radikal aufzuarbeiten.
Liebe Grüße, Ron
@Gast2
„Kant war ein tiefgläubiger Mensch“
Wo hast Du das denn her? Was verstehst Du unter „tiefgläubig“? Auf was bezogen? Kant war auf jeden Fall kein Christ – vorausgesetzt, er hat das selbst geglaubt, was er gesagt hat.
@Ron Zu Kant: „Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir Psalm 23 gab: ‚Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich keine Unglück!'“ „Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass so wenig ich Gefahr laufe, die Letztere einzubüßen, ebenso wenig besorge ich, dass mir die Erstere jemals entrissen werden könne.“ „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Da bekommt auf einer Metaebene die „Kritik der reinen Vernunft“ einen ganz anderen Geschmack, nämlich die einer dekonstruktiven Methode. Bei Hamann hat das z.B. funktioniert. Dass die Maxime des sittlichen Gesetzes nicht nur weltliche Moral ist, sondern mit dem korrespondiert, was Gott in seiner Schöpfung und durch Christus in uns antreibt, das gilt es wieder zu entdecken. Deshalb: Nicht hinter Kant zurück, sondern ihn erst einmal richtig verstehen. Wenn wir heute mit Derrida dekonstruieren, so geht es eben nicht mehr… Weiterlesen »
@Gast2: Das bringt jetzt wirklich nichts. Bei Kant finden wir viele fromme Sätze. Er brauchte ja die regulaitve Idee Gottes, weil er sonst die Moral verschwinden sah. Ich könnte gern ein paar andere Zitate herauspicken, z.B. die rigorose Kritik an der christliche Sühnetheologie. So, wie durch die Erkenntnistheorie Kants, die Welt, in der wir leben, unwirklich geworden ist, wird in seiner Religionsphilosophie Gott unwirklich. Wie sollen wir ihn auch erreichen, wenn unsere Erkenntnisfähigkeit maximal die phänomenale Welt erreicht? Aber wie gesagt, die Zeiten des vorauseilenden Gehorsams sind vorbei!
Liebe Grüße, Ron
@Ron Vielen Dank für den Post. aus Interesse: Hast du schon mal das „Kompendium der Dogmatik“ Luthards in der Hand gehabt (ausgehendes 19. Jahrhundert)? Ich kann es wärmstens empfehlen. Eine allgemeine Dogmengeschichte ist auch dabei.
http://www.zvab.com/servlet/SearchResults?kn=Kompendium+der+Dogmatik&sts=t
@Alexander: Aber klar doch. Da ist es:
http://theoblog.de/wp-content/uploads/2016/06/IMG_0319.jpg
Liebe Grüße, Ron
@Ron Ok, wenn das jetzt nichts bringt. Ja, die Zeiten des vorauseilenden Gehorsams sind vorbei. Aber gehorsam – nur eben nicht vorauseilend – bin ich dann doch, frage nicht weiter und beschränke mich auf den Hinweis, dass das sich Einlassen auf Diskussionen und die Suche nach dem Verbindendem, wo früher sich die Grabenkämpfe bis aufs Messer abspielten, ein neuer Weg sein kann. Und wenn Du fragst „Wie sollen wir ihn auch erreichen, wenn unsere Erkenntnisfähigkeit maximal die phänomenale Welt erreicht?“ so fällt mir wieder der Jesuiten-Witz von Tim-Christian ein. Ich finde den Witz nicht wegen eines vermeintlichen Angriffs auf den Unglauben des Jesuiten-General gut, sondern weil der General mit seiner Rückmeldung den Erkenntnis-Hunger und damit den Zweifel hinterfragt. Was müssen wir denn mehr erkennen als die phänomenale Welt? Jeder, der da ein wenig tiefer einsteigt, läuft doch schon Gefahr in der Klapse zu landen und kann nur noch hoffen, dass der Heilige Geist ihn sicher führt. Aber gut, lassen wir… Weiterlesen »
@Gast2, in einem Brief hat Kant ja mal gesagt, er habe viele Lehrsätze seines früheren Glaubens aufgegeben. (Zitat kann ich gerne heraussuchen). Es mag sein, dass Kant – immerhin von einer pietistischen Mutter und in einer christlichen Schule erzogen – noch hin und wieder manche Frömmigkeitsanwandlungen hatte. Aber in der Substanz seiner Philosohie hat er sich sehr weit vom Christentum wegentfernt; und seine Wirkungen waren noch fataler. Kant sagte, man kann Gott nicht erfahren. (Ist auch nicht verwunderlich, wenn der Mensch Urheber aller Erscheinungen ist – da ist ja kein Platz mehr für Wunder). Kant sagte, wir sollen nicht in den Gottesdienst gehen und nicht beten, sondern das moralische Gesetz halten. Die historische Erscheinung von Christus war zwar die „höchste Religion“, aber nur insofern er das Moralgesetz (kategorischen Imperativ) so gut ausgelebt hat. Mit unserer Vernunft wären wir „auch so“ auf alles gekommen, was uns die Bibel sagt. Offenbarung kann es ja ohnehin nicht geben. (Zumindest keine, die kausal von… Weiterlesen »
Was mich bei solchen Verächtern der objektiven Wahrheit wie dem guten Sören aus meinem heimatlichen Kr. Celle immer am allermeisten nervt: Wenn‘s um den Quasi-Beamtenstatus der landeskirchlichen Pfarrer, ihre Gehaltsstufen und Versorgungsansprüche etc. etc. geht, dann ist die auch so üble Objektivität wieder König.