Andreas Mühling beschreibt in Caspar Olevian die Unterschiede in der Kirchenpolitik zwischen Zürich und Genf. Während Zürich eng mit der weltichen Obrigkeit kooperierte, suchte Genf unter der Leitung von Calvin die möglichst große Unabhängigkeit von weltlichen Einflüssen.
Mühling schreibt (Caspar Olevian, 2008, S. 67-70):
Durch die Ereignisse des Reichstages von 1566 – auf diesem Reichstag wurde nach heftigem politischen Ringen der Kurpfalz der Status eines Augsburger Konfessionsverwandten zugesprochen und damit der Makel des Ketzertums von ihr genommen – war die Kurpfalz tatsächlich politisch so weit stabilisiert, dass nun die Probleme im Inneren angegangen werden konnten. Es stand die kirchenpolitische Verhältnisbestimmung zwischen Zürich und Genf bevor. In der Zeit ihrer ersten Hinwendung zur reformierten Lehre hatten Anhänger Zwinglis wie Calvins in der Kurpfalz gleichermaßen Gehör gefunden. Nicht zuletzt auch durch die politische Orientierung der Kurpfalz nach Westeuropa, die Übernahme politischer Mitverantwortung für die Reformierten in Frankreich und den Niederlanden sowie durch die Aufnahme einiger um ihres Glaubens willen verfolgter Reformierter gelangte die Genfer Richtung dort nun zu immer stärkerem Einfluss. Die kirchenpolitische Verbindung der Kurpfalz mit Zürich drohte schwächer zu werden. Die Position der Zürcher schien gefährdet zu sein. Der Punkt, an dem der Streit zum Ausbruch kam, war die Frage nach der Einführung einer Kirchenzucht nach Genfer Vorbild. An diesem Problem wurden die bislang nur unterschwellig vorhandenen Konflikte offenbar. An der Beantwortung dieser Frage entschied sich die zukünftige Gestaltung der Pfälzer Kirche.
Worum ging es bei dieser Frage? In Zürich und Genf existierten unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie das Verhältnis von Kirche und Staat auf theologischer und politischer Ebene konkret ausgestaltet werden sollte. So existierten auch über die Einflussmöglichkeiten der Obrigkeit verschiedene Ansichten.
Die Zürcher Reformation zeichnete sich seit 1523 durch die enge Verbindung kirchlicher und obrigkeitlicher Ziele aus. Die Reformation der Kirche gestaltete sich hier von Anfang an als ein städtisches Ereignis. Zwinglis reformatorische Impulse wurden vom Zürcher Rat aufgenommen, geprüft, modifiziert und schließlich in konkrete Politik umgesetzt. Ehemals kirchliche Aufgabenfelder wie Diakonie und Bildung, aber auch die Verwaltung kirchlicher Liegenschaften wurden ebenso in die Verantwortung des Rates übernommen wie die der Liturgie und der Ausstattung der Kirchenräume. Die Kirchenzucht, meist vollzogen als zeitweiliger Ausschluss der Gläubigen vom Gottesdienst oder Abendmahl, wurde in gemeinsamer Verantwortung von Kirche und Obrigkeit umgesetzt. Seit 1527 legten die Zürcher Prediger zudem einen Eid auf ihre Obrigkeit ab und versprachen, ihr die Treue zu halten. Doch wenn die Zürcher Obrigkeit insbesondere nach der Katastrophe von Kappel 1531 glaubte, die Prediger zugunsten obrigkeitlicher Ziele willfährig machen zu können, so hatte sie sich in ihnen getäuscht. In der Zürcher Kirchenordnung von 1532 wurde zwar von Seiten der Kirche ausdrücklich auf politische Voten verzichtet, doch zugleich ein „Wächteramt“ der Kirche eingefordert. Die Kirche, so betonten die Zürcher Prediger unter der Führung des jungen Bullingers ausdrücklich, werde immer dann Missstände offen benennen, wenn die Obrigkeit in ihrem Handeln gegen die biblischen Schriften verstoße.
Freiheit bei gleichzeitiger enger Bindung – dies kennzeichnete das Verhältnis von Kirche und Obrigkeit in Zürich. Möglich wurde diese Konstruktion, da die konkrete Gestalt der Kirche Jesu Christi in Zürich mit der „Res Publica“ von Zürich weitgehend deckungsgleich war. Kommunale Republik und kommunale Kirche stellten zwei unabhängige Größen dar, die dennoch eng aufeinander bezogen waren. Auf diese Weise wurde die Zürcher Kirche zu einem konstitutiven Element des städtischen Gemeinwesens.
Ein gänzlich anderes Modell als das Zürcher Staatskirchenwesen entwickelten hingegen die Genfer Theologen um Johannes Calvin. Von ihnen wurde eine Gemeindekonzeption entworfen, die auf die belastenden Anforderungen von Flüchtlings- und Minderheitengemeinden abgestimmt wurde. Nach dieser Konzeption sollte die Gemeinde unabhängig von obrigkeitlichen Einflüssen sein, sich eigenverantwortlich die notwendigen Regeln gemeindlichen Zusammenlebens geben und, legitimiert durch Gemeindewahlen, selbst leiten. Vier Ämter – Presbyter, Diakone, Pastoren und Doktoren – sollte es in der Gemeinde geben, die also die wichtigen kirchlichen Handlungsbereiche der Gemeindeleitung, Fürsorge, Gottesdienst sowie Bildungsarbeit abzudecken hatten. Absprache und gedanklicher Austausch der Gemeinden untereinander sollten auf übergemeindlichen Synoden erfolgen. Die Geister in Genf und Zürich hingegen schieden sich insbesondere bei der Frage der Kirchenzucht. Ein obrigkeitlicher Einfluss wurde von Genf strikt abgelehnt, die Anwendung der Kirchenzucht ausschließlich durch das von der Gemeinde gewählte Leitungsgremium, das Presbyterium, verantwortet.
Calvin forcierte diese Gemeindekonzeption, weil sie die Unabhängigkeit der Gemeinden, und damit auch ihre Überlebensfähigkeit in politischen Krisenzeiten, sicherstellte. Hier zeigt sich das Bemühen des französischen Flüchtlings, der Calvin ja gewesen war, seinen reformierten Landsleuten jene kirchlichen Strukturen an die Hand zu geben, die ihnen das Überleben in Aussicht stellten. Für verfolgte reformierte Gemeinden in den von Bürgerkrieg und politischer Bedrängung geprägten Krisen war die Genfer Gemeindekonzeption gegenüber dem Zürcher Staatskirchenwesen tatsächlich weitaus attraktiver.