Nietzsche und die Bibel

Bild: Friedrich Nietzsche gemalt von Edvard Munch, Public Domain

Friedrich Nietzsche starb vor 125 Jahren in Weimar. Eine Gelegenheit, auf den Aufsatz „Nietzsche und die Bibel“ von Andreas Urs Sommer hinzuweisen (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Nr. 1, 2008, S. 49–63). Wer wissen möchte, wie Nietzsche mit biblischen Begriffen und Aussagen umgegangen ist, kommt an diesem Überblick nicht vorbei. Nietzsche hat nicht auf die Bibel gehört, sondern sie für eigene Absichten verzweckt.

Ein Auszug:

Wer Auskunft über Nietzsches Verwendung einzelner, (auch) in der Bibel belegter Wörter benötigt, ist mit dem neuen, von der Nietzsche Research Group in Nijmegen herausgegebenen Nietzsche-Wörterbuch sehr gut versorgt. Hingegen fehlt bislang eine befriedigende Monographie, die Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament in allen Facetten und ohne Voreingenommenheiten thematisiert. Nietzsches frühe Begegnung mit dem Neuen Testament dokumentiert Martin Pernets Berner Dissertation „Das Christentum im Leben des jungen Nietzsche“ (vgl. oben Anm. 5) eingehend. Manche Einzelaspekte von Nietzsches Bezugnahmen auf das neue Testament sind in der Forschung sehr ausführlich zur Sprache gekommen. Theologisch interessierte Autoren haben sich insbesondere an Nietzsches Rekonstruktion Jesu, namentlich an seiner „Psychologie des Erlösers“ im Antichrist abgearbeitet. Sehr richtig hat freilich Ulrich Willers in seiner magistralen Studie „Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie“ zu den grassierenden Inanspruchnahmen des antichristlichen Nietzsche für einen neuen christlichen Jesuanismus bemerkt: „Isoliert erwecken diese Texte [im „Antichrist“] möglicherweise den Eindruck, Nietzsche wolle das wahre Evangelium Jesu gegen das ‚Dysangelium‘ des Paulus, der Kirche, des Christentums stark machen. Wahr daran ist nur, dass Nietzsche im Kampf gegen das Christentum auch Jesus selbst als Schlag-Waffe gebrauchen kann und daher einsetzt. Falsch daran ist jedoch die mitgeführte Vorstellung, Nietzsche sei so etwas wie der Lehrer einer imitatio Christi.“  Willers leistet eine Differenzierungsarbeit, die von vielen danach mit dem Thema beschäftigten Beiträgen nicht erreicht wird. Die vornehmlich argumentationsstrategische Bedeutung des scheinbar positiven Jesus-Rekurses im „Antichrist“ hatte bereits Ernst Benz in seinem Buch „Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche“ herausgestellt, während der katholische Religionsphilosoph Eugen Biser in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema nicht müde wird, Nietzsches „nie ganz aufgegebene Verbundenheit“ zu Jesus zu betonen. Wie stark theologische Autoren gerade im Hinblick auf Nietzsches Behandlung Jesu auf eine christliche Repatriierung Nietzsches hoffen, zeigen in aller Drastik die scharfsinnigen Analysen des theologischen Nietzsche-Diskurses bei Peter Köster und bei Dieter Schellong. Die gebotene Zurückhaltung im Hinblick auf eine vorgeblich von Nietzsche erneuerte Jesus-Frömmigkeit muss freilich keineswegs ambitionierte philosophische Deutungen der Jesus-Figur im „Antichrist“ ausschliessen, wie sie etwa Werner Stegmaier vorgelegt hat.

Ebenfalls im Brennpunkt der Forschung steht Nietzsches Paulus-Bild. Pionierarbeit hat dabei Jörg Salaquarda in seinem Aufsatz „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ geleistet (vgl. oben Anm. 34), während eine umfassende Darstellung erst mit der Greifswalder Dissertation „Der Apostel der Rache“ von Daniel Havemann vorgelegt worden ist. 45 Dabei ist bei Havemann ein theologisch-systematisches Interesse leitend, wogegen ich selbst im Kommentar zum „Antichrist“ stärker die philosophisch-historischen Perspektiven herauszuarbeiten versucht habe (vgl. oben Anm. 19).

Abgesehen von Jesus und Paulus haben andere neutestamentliche Figuren und Themen in Nietzsches Werk nur sporadisch Aufmerksamkeit gefunden. So wäre – um nur ein Beispiel herauszugreifen – Nietzsches Deutung des johanneischen Schrifttums einer näheren Betrachtung bedürftig. Auch sein Verhältnis zu bestimmten Auslegungstraditionen müsste noch genauer untersucht werden. Resümierend ist festzuhalten, dass Nietzsche biblische Texte, Figuren, Motive und Redeformen schon früh für eigene Zwecke, für seine eigene philosophische Verkündigung instrumentalisiert hat. Dabei ist es ihm – trotz des stellenweise hohen Bibeltons – aber meist auch gelungen, diese eigene Verkündigung skeptisch zu relativieren.

Mehr: www.ingentaconnect.com.

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