Friedrich Nietzsche

Nietzsche und die Bibel

Bild: Friedrich Nietzsche gemalt von Edvard Munch, Public Domain

Friedrich Nietzsche starb vor 125 Jahren in Weimar. Eine Gelegenheit, auf den Aufsatz „Nietzsche und die Bibel“ von Andreas Urs Sommer hinzuweisen (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Nr. 1, 2008, S. 49–63). Wer wissen möchte, wie Nietzsche mit biblischen Begriffen und Aussagen umgegangen ist, kommt an diesem Überblick nicht vorbei. Nietzsche hat nicht auf die Bibel gehört, sondern sie für eigene Absichten verzweckt.

Ein Auszug:

Wer Auskunft über Nietzsches Verwendung einzelner, (auch) in der Bibel belegter Wörter benötigt, ist mit dem neuen, von der Nietzsche Research Group in Nijmegen herausgegebenen Nietzsche-Wörterbuch sehr gut versorgt. Hingegen fehlt bislang eine befriedigende Monographie, die Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament in allen Facetten und ohne Voreingenommenheiten thematisiert. Nietzsches frühe Begegnung mit dem Neuen Testament dokumentiert Martin Pernets Berner Dissertation „Das Christentum im Leben des jungen Nietzsche“ (vgl. oben Anm. 5) eingehend. Manche Einzelaspekte von Nietzsches Bezugnahmen auf das neue Testament sind in der Forschung sehr ausführlich zur Sprache gekommen. Theologisch interessierte Autoren haben sich insbesondere an Nietzsches Rekonstruktion Jesu, namentlich an seiner „Psychologie des Erlösers“ im Antichrist abgearbeitet. Sehr richtig hat freilich Ulrich Willers in seiner magistralen Studie „Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie“ zu den grassierenden Inanspruchnahmen des antichristlichen Nietzsche für einen neuen christlichen Jesuanismus bemerkt: „Isoliert erwecken diese Texte [im „Antichrist“] möglicherweise den Eindruck, Nietzsche wolle das wahre Evangelium Jesu gegen das ‚Dysangelium‘ des Paulus, der Kirche, des Christentums stark machen. Wahr daran ist nur, dass Nietzsche im Kampf gegen das Christentum auch Jesus selbst als Schlag-Waffe gebrauchen kann und daher einsetzt. Falsch daran ist jedoch die mitgeführte Vorstellung, Nietzsche sei so etwas wie der Lehrer einer imitatio Christi.“  Willers leistet eine Differenzierungsarbeit, die von vielen danach mit dem Thema beschäftigten Beiträgen nicht erreicht wird. Die vornehmlich argumentationsstrategische Bedeutung des scheinbar positiven Jesus-Rekurses im „Antichrist“ hatte bereits Ernst Benz in seinem Buch „Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche“ herausgestellt, während der katholische Religionsphilosoph Eugen Biser in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema nicht müde wird, Nietzsches „nie ganz aufgegebene Verbundenheit“ zu Jesus zu betonen. Wie stark theologische Autoren gerade im Hinblick auf Nietzsches Behandlung Jesu auf eine christliche Repatriierung Nietzsches hoffen, zeigen in aller Drastik die scharfsinnigen Analysen des theologischen Nietzsche-Diskurses bei Peter Köster und bei Dieter Schellong. Die gebotene Zurückhaltung im Hinblick auf eine vorgeblich von Nietzsche erneuerte Jesus-Frömmigkeit muss freilich keineswegs ambitionierte philosophische Deutungen der Jesus-Figur im „Antichrist“ ausschliessen, wie sie etwa Werner Stegmaier vorgelegt hat.

Ebenfalls im Brennpunkt der Forschung steht Nietzsches Paulus-Bild. Pionierarbeit hat dabei Jörg Salaquarda in seinem Aufsatz „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ geleistet (vgl. oben Anm. 34), während eine umfassende Darstellung erst mit der Greifswalder Dissertation „Der Apostel der Rache“ von Daniel Havemann vorgelegt worden ist. 45 Dabei ist bei Havemann ein theologisch-systematisches Interesse leitend, wogegen ich selbst im Kommentar zum „Antichrist“ stärker die philosophisch-historischen Perspektiven herauszuarbeiten versucht habe (vgl. oben Anm. 19).

Abgesehen von Jesus und Paulus haben andere neutestamentliche Figuren und Themen in Nietzsches Werk nur sporadisch Aufmerksamkeit gefunden. So wäre – um nur ein Beispiel herauszugreifen – Nietzsches Deutung des johanneischen Schrifttums einer näheren Betrachtung bedürftig. Auch sein Verhältnis zu bestimmten Auslegungstraditionen müsste noch genauer untersucht werden. Resümierend ist festzuhalten, dass Nietzsche biblische Texte, Figuren, Motive und Redeformen schon früh für eigene Zwecke, für seine eigene philosophische Verkündigung instrumentalisiert hat. Dabei ist es ihm – trotz des stellenweise hohen Bibeltons – aber meist auch gelungen, diese eigene Verkündigung skeptisch zu relativieren.

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„Feuer auf dem Dach“

Ich vermute, der Historiker Philipp Blom kommt der Wahrheit näher als er es selbst für möglich hält. Wir kämpfen im Westen mit den Folgen der Gottlosigkeit. 

Blom schreibt:

Es ist Feuer am Dach. Aber hier muss man auch unterscheiden. Die Sinnkrise hat nicht ursächlich etwas mit diesen Phänomenen zu tun, obwohl sie einander sicher verstärken. Die Sinnkrise hat damit angefangen, dass wir, wie Nietzsche gesagt hätte, Gott ermordet haben und seitdem ein Loch in unserem Weltbild und unserer Sehnsucht nach Sinn und Sicherheit haben.

Im 20. Jahrhundert gab es gigantische Massenversuche, dieses Loch mit -Ismen zu stopfen: Faschismus, Sozialismus, Bolschewismus, Kapitalismus, etc. Keiner davon hat es wirklich geschafft, dieses Loch zu füllen, aber wir scheinen ein Bedürfnis danach zu haben, an etwas glauben zu können, an eine objektive Wahrheit, eine letztgültige Ordnung, ein kosmisches Gesetz. Nur ist das in der Metaphysik eben schwerer als in der Physik.

Mehr: www.welt.de.

Nietzsche – kein guter politischer Lehrmeister

Pete Nicholas warnt vor einer Politik, die einzig auf Macht ausgerichtet ist – und stellt dieser ein augustinisches Konzept gegenüber:

Nietzsche lehrte eine Hermeneutik (Weltanschauung), die von der Macht ausgeht: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganze Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (— sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt“ (eKGWB/NF-1888,14[186] —Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888).

Die politische Linke sieht die Welt zunehmend auf diese Weise. Sie ist sehr darauf bedacht, Machtungleichgewichte auszugleichen und die Freiheit zu fördern, indem sie gesellschaftliche Gruppen, denen es an Macht mangelt, von entsprechenden Hindernissen befreit. Diese Ziele mögen bewundernswert sein, aber daneben sind Theorien entstanden, die in der Philosophie von Nietzsche und Marx verankert sind und die Menschen durch die Schnittpunkte der Macht betrachten und für eine Umkehrung der gesellschaftlichen Machtdynamik eintreten.

Die politische Rechte mag sich zwar in Opposition zu einem solchen Ansatz sehen, doch der Aufstieg des Populismus spricht dagegen. Für Nietzsche war die Verkörperung des Willens zur Macht der Übermensch, der die Ideale verkörperte, die wir heute in populistischen Führern wiederfinden.

Der Populismus stellt „das Volk“ (Populus) als geschwächt durch korrupte Mächte – „Eliten“ an der Spitze der Gesellschaft – und durch diejenigen dar, die von außen in das Volk eindringen. Komplexe gesellschaftliche Probleme werden in der Regel auf dieses Narrativ von Korruption und Schwächung reduziert, wobei der Übermensch die einzige Person ist, die „sagt, wie es ist“, und anbietet, die Dinge zu bereinigen und die Stärke des Volkes wiederherzustellen. Wenn Dir das bekannt vorkommt, dann ist das der Punkt.

Selbst wenn es einen gewissen Erklärungswert hat, kann die Betrachtung der Dinge durch die Brille der Macht keinen konstruktiven Weg nach vorne aufzeigen. Macht reduziert alles auf ein Nullsummenspiel. Wir täten gut daran, über die blutigen Regime des 20. Jahrhunderts nachzudenken, die, ob sie nun von Nietzsche oder Marx gestützt wurden, die Welt auf diese Weise sahen.

Wir täten gut daran, Augustins Warnung und Ermahnung zu beherzigen (ich zitiere ohne Auslasssungen aus De Civitate Dei, XII,1):

„Denn die einen verharren standhaft bei dem allen gemeinsamen Gut, das für sie Gott selber ist, und bei seiner Ewigkeit, Wahrheit und Liebe; die andern, von ihrer eigenen Macht berauscht, fielen, als könnten sie ihr eigenes Gut sein, von dem höheren, allen gemeinsamen, beseligenden Gute auf sich selbst zurück, tauschten dünkelhafte Selbstüberhebung ein für die hoch erhabene Ewigkeit, nichtsnutzige Schlauheit für gewisseste Wahrheit, parteiische für allgemeine Liebe und wurden hochmütig, trügerisch, neidisch. Gott anhangen, das ist für die einen Grund der Seligkeit, so ergibt sich als Grund der Unseligkeit der anderen das Gegenteil: Gott nicht anhangen.“

Mehr: www.thegospelcoalition.org.

Die Gemeinde als Gegenkultur

Die Ortsgemeinde war nie dafür gedacht, ein gemütlicher Ort zu sein.  Im Gegenteil, sie sollte Heimat einer Gegenkultur sein, die eine radikal andere Vision für das menschliche Aufblühen verkörpert als die allgemeine Gesellschaft. Brett McCracken schreibt in „Die Gemeinde als Gegenkultur“:

Hatte Nietzsche also recht, wenn er das Christentum „die Religion der Bequemlichkeit“ nannte? Traf es zu, wenn er das Christentum als ein unmutiges, bequemes System ansah, um den Schwierigkeiten des Lebens und den Grausamkeiten der Natur zu entkommen?

Sicherlich müssen wir zugeben, dass das Christentum zu vielen Zeiten und an vielen Orten in der Geschichte – wie in Nietzsches Zeit, dem Europa des 19. Jahrhunderts – eher bequem, unmutig und nicht bereit war, den kostspieligen Ruf Jesu Christi wirklich anzunehmen. Und für viele in der Kirche heute ist das Christentum tatsächlich eine Religion der Flucht und Bequemlichkeit, ein Glaube, der nicht viel verlangt und nichts kostet. Es ist eine Religion des moralistisch-therapeutischen Deismus. In diesem Sinne ist Nietzsches Kritik vielleicht richtig.

Aber Nietzsche hatte unrecht, wenn er behauptete, dass das Christentum von Natur aus etwas Bequemes habe und dass das Christentum in seinem Wesen ein komfortables, unaufrichtiges Trostsystem für die Schwachen dieser Welt sei.

Das ist offenkundig nicht wahr. In meinem kürzlich erschienenen Buch Uncomfortable: The Awkward and Essential Challenge of Christian Community (dt. „Die unbequeme und unverzichtbare Herausforderung der christlichen Gemeinschaft“) beschreibe ich detailliert die essentielle Unbequemlichkeit des Christentums, sowohl in dem, was es behauptet und wir glauben sollen, als auch (und vielleicht besonders) in der Art und Weise, wie es uns auffordert, als Ortsgemeinde zusammenzuleben und zu funktionieren.

Die Ortsgemeinde war nie als kultureller, bequemer bürgerlicher Club gedacht, der die Menschen in ihrem Götzendienst bestätigt und ihnen dazu verhilft, ihr „bestes Leben“ jetzt zu leben. Im Gegenteil, sie sollte eine Gegenkultur sein, eine abgesonderte Gemeinschaft, die eine radikal andere Vision für das menschliche Aufblühen verkörpert.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

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Nietzsche: Der Mensch als sein eigener Gesetzgeber

Nietzsche beschreibt hier – wie ich finde – den spätmodernen Menschen (also den Menschen nach dem „Tod Gottes“) ganz gut (Die fröhliche Wissenschaft, KSA, Bd. 3, 1999, § 335, S. 563):

Wir aber wollen die werden, die wir sind – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!

Nietzsche: Krieg ist unentbehrlich

Bei verschiedenen Medienformaten und in den Feuilletons wird derzeit viel darüber gerätselt, aus welchen Quellen Wladimir Putins imperialistischen Ambitionen gespeist sind. Leute wie Iwan Iljin, Lew Gumiljow oder Alexander Dugin sind im Gespräch. Man könnte allerdings auch meinen, Putin habe Friedrich Nietzsche gelesen. Der hat vor rund 145 Jahren schon von der kulturschaffenden Potenz grausamer Kriege geschwärmt. Er schrieb 1878 in Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Bd. 2, Abschnitt 477, S. 311–312):

Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht.

Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. – Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchsdiiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.

Ob Putin viel liest, weiß ich nicht. Aber ich bezweifle es. Trotzdem: Was man denkt, was man über den Menschen denkt, hat Konsequenzen.

Putin widerlegt Nietzsche

Wladimir Putin ist ein lebendiger Beweis dafür, dass Nietzsche mit seiner Philosophie des Stärkeren völlig falsch lag. Nietzsche sagte (Der Antichrist, § 17, KSA, Bd. 6, S. 183; § 7, S. 174):

Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, giebt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décandence.

Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid.

Sonst: Ich bin erschüttert über die Ereignisse in der Ukraine. Eines der größten Länder der Welt – mit einer der größten Armeen, die es gibt – zieht in einen brutalen Angriffskrieg. Meine Gedanken und Gebete sind bei den Ukrainern. Sie sind auch bei den vielen friedliebenden Russen, die sich für die Allmachtsphantasien Putins schämen und gegen seine Kriegspolitik Stellung beziehen. Und sie sind bei den Menschen in den Anliegerstaaten. Besonders sind sie bei den Bürgern und Freunden im Baltikum. Ich habe dort sechs Jahre gelebt und erinnere mich an die Tage, als sich die baltischen Länder von der russischen Besatzung befreien konnten. Was für Freudentage. Ich bin fassungslos, dass nun die alten Ängste zurückkehren. Möge Gott das Schlimmste verhindern.

Abtreibung als satanisches Ritual

Nach Friedrich Nietzsche hat das Christentum Europa verdorben. Deshalb kündigte er einen Tag von historischer Bedeutung an. Der 30. September 1888 sei der letzte Tag des Christentums und der erste Tag einer neuen Zeitrechnung. Der Tag der Umwertung aller Werte.

Belege für diese Umkehrung der christlichen Werte lassen sich heute vielerorts finden. In der Zeitschrift für Religion und Weltanschauung, die vom Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) herausgeben wird, ist gerade wieder ein Beispiel zu lesen.

Berichtet wird dort (6/2021, S. 435–437) über die in den USA als Kirche anerkannte Bewegung The Satanic Temple (TST). Die Gruppe versteht sich als atheistisch und nutzt Satan nach eigenen Aussagen nur als ein Symbol (siehe weitere Informationen hier).

The Satanic Temple setzt sich ausdrücklich für Schwangerschaftsabbrüche ein. Da die rechtlichen Reglementierungen von Abtreibungen das Recht der Frau auf Selbstbestimmung beschneiden, suchen die Akteure nach kreativen Wegen, um Abtreibungen auf legale Weise zu ermöglichen. Schwangerschaftsabbrüche, die als religiöses Ritual zelebriert werden, seien rechtlich unbedenklich, da sie unter die Religionsfreiheit fielen. Die EZW schreibt:

Zusätzlich zu der weltanschauungspolitischen Stellungnahme versucht sie, schwangeren Frauen in Texas eine legale Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch zu eröffnen. Dafür bezieht sie sich auf den „Religious Freedom Restoration Act“ (RFRA), der es in den USA erlaubt, bei bestimmten religiösen Handlungen illegale Substanzen zu konsumieren. Anlass für dessen Einführung war die Verwendung des meskalinhaltigen Peyote-Kaktus in Ritualen der indigenen Bevölkerung. In analoger Weise sollen nun trotz des texanischen Abtreibungsgesetzes Frauen die Medikamente Mifepriston und Misoprostol legal verabreicht werden dürfen, um damit einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen. Zu diesem Zweck definierte TST Abtreibung als religiöses Ritual, um Frauen die Möglichkeit zu geben, als Mitglieder der Religionsgemeinschaft einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Derzeit wird der entsprechende Antrag von TST durch die Gesundheitsbehörde „U.S. Food and Drug Administration“ juristisch geprüft.

Nun wäre von einer christlichen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu erwarten, dass sie dieses Projekt scharf verurteilt. Hier wird nicht nur die Religionsfreiheit missbraucht, sondern eben auch das Lebensrecht ungeborener Personen verwirkt. Im Namen der Selbstbestimmung von Frauen werden kleine Kinder getötet. Aber nein. Die nötige Kritik fehlt. Stattdessen wird im schließenden Absatz bedauert, dass auch in Deutschland der Schwangerschaftsabbruch noch ein heikles Thema sei. Ich zitiere weiter:

Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland sind Schwangerschaftsab-brüche nach wie vor ein heikles Thema. Erst vor kurzem wurde in Berlin wieder ein „Marsch für das Leben“ mit mehreren Tausend Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern veranstaltet – darunter eine große Zahl religiös motivierter Menschen. Auch die katholische Bischofskonferenz hatte zu einer Teilnahme an der Demonstration aufgerufen. Eine Gegendemonstration zählte ebenfalls mehrere Tausend Teilnehmende.“ In Deutschland ist der politische Einfluss der evangelikalen Bewegung wesentlich geringer als in Amerika. Das ist möglicherweise der Grund, warum TST hierzulande noch keine Gemeinschaft gründen konnte bzw. wollte.

Entsteht hier nicht der Eindruck, dass die konservativen Christen, die sich für das Lebensrecht Ungeborener einsetzen, das Problem sind? Wo ist die Verurteilung des rituellen Schwangerschaftsabbruchs? Ich jedenfalls verstehe den Text so, als wünschte man The Satanic Temple alles Gute.

Theologie als Kriterium der Unwahrheit

Heinrich Meier schreibt in seinem Buch über Ecce homo und der Antichrist (Heinrich Meier, Nietzsches Vermächtnis: Ecce homo und Der Antichrist, München: C.H. Beck, 2019, S. 189):

Es ist Teil von Nietzsches Politik der Umwertung, daß sie ein Vorurteil gegen die Theologen zu wecken und zu pflanzen sucht. Dazu zählen die polemische Faustregel, was ein Theologe als wahr empfindet, das muß falsch sein, woran man beinahe «ein Kriterium der Wahrheit» habe, oder die nicht weniger hyperbolische Behauptung, der «Selbsterhaltungs-Instinkt» des Theologen verbiete, «dass die Realität in irgend einem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme». Die Politik der Umwertung übersetzt den Streit um die Wahrheit in einen Kampf, in dem die Bejahung des Lebens auf den «Willen zum Ende» trifft, und in einen Konflikt, in dem das Wir der Philosophen sich gegen den «nihilistischen Willen» der Theologen wappnen muß, der zur Macht will.

Nietzsche verstand es gut, den Geist der Zeit zu bündeln und vorausschauend die Dinge auf den Punkt zu bringen.

Die christliche Theologie nimmt heute in den intellektuellen und ethischen Debatten kaum noch jemand ernst. Sicher ist das Ausdruck der Säkularisierung. Ich rate den Theologen freilich, sich an die eigene Nase zu fassen. Was haben denn Theologen heute noch zu sagen? Statt in die Säkularisierung einzustimmen, wäre es so wichtig, zu zeigen, dass Gott wirklich gesprochen hat. Die Heilige Schrift gibt Antworten auf die Fragen, die wirklich wichtig sind. Das aber kann heute kaum ein Theologe noch so sagen.

Im Original klingt Nietzsche übrigens so (Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Absatz 9–10):

Diesem Theologen-Instinkte mache ich den Krieg: ich fand seine Spur überall. Wer Theologen-Blut im Leibe hat, steht von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich. Das Pathos, das sich daraus entwickelt, heißt sich Glaube: das Auge ein für alle Mal vor sich schließen, um nicht am Aspekt unheilbarer Falschheit zu leiden. Man macht bei sich eine Moral, eine Tugend, eine Heiligkeit aus dieser fehlerhaften Optik zu allen Dingen, man knüpft das gute Gewissen an das Falschsehen – man fordert, daß keine andre Art Optik mehr Wert haben dürfe, nachdem man die eigne mit den Namen »Gott«, »Erlösung«, »Ewigkeit« sakrosankt gemacht hat. Ich grub den Theologen-Instinkt noch überall aus: er ist die verbreitetste, die eigentlich unterirdische Form der Falschheit, die es auf Erden gibt. Was ein Theologe als wahr empfindet, daß muß falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit. Es ist sein unterster Selbsterhaltungs-Instinkt, der verbietet, daß die Realität in irgendeinem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme. So weit der Theologen-Einfluß reicht, ist das Wert-Urteil auf den Kopf gestellt, sind die Begriffe »wahr« und »falsch« notwendig umgekehrt: was dem Leben am schädlichsten ist, das heißt hier »wahr«, was es hebt, steigert, bejaht, rechtfertigt und triumphieren macht, das heißt »falsch«… Kommt es vor, daß Theologen durch das »Gewissen« der Fürsten (oder der Völker –)hindurch nach der Macht die Hand ausstrecken, zweifeln wir nicht, was jedesmal im Grunde sich begibt: der Wille zum Ende, der nihilistische Wille will zur Macht …

Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale. Definition des Protestantismus: die halbseitige Lähmung des Christentums – und der Vernunft… Man hat nur das Wort »Tübinger Stift« auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist – eine hinterlistige Theologie… Die Schwaben sind die besten Lügner in Deutschland, sie lügen unschuldig… Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht – woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, daß mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten erriet, was nunmehr wieder möglich war… Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff »wahre Welt«, der Begriff der Moral als Essenz der Welt (– diese zwei bösartigsten Irrtümer, die es gibt!) waren jetzt wieder, dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar… Die Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit… Man hatte aus der Realität eine »Scheinbarkeit« gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht… Der Erfolg Kants ist bloß ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit – –

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