Friedrich Nietzsche

Kultur des Todes (10): Stirb zur rechten Zeit, lehrte es Zarathustra

Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Wucht der Geist des Zarathustra letzte Rückbindungen an das christliche Erbe in Europa durchschneidet. Das Bundesverfassungsgericht erlaubt nun in einem Grundsatzurteil die geschäftsmäßige Sterbehilfe. Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, und dieses Recht schließe „die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen – in jeder Phase menschlicher Existenz“ (siehe hier).

Nietzsche würde jubeln. Er schrieb in seinem Zarathustra: „Noch klingt fremd die Lehre: ‚stirb zur rechten Zeit!‘“. Jetzt ist diese Lehre auch in Deutschland Gesetz. Nietzsche machte das Christentum für die Verneinung des Lebens verantwortlich. Unsere Kultur bejaht im Namen des Lebens den Tod.

Hier Nietzsche im Kontext ( Also sprach Zarathustra, KSA, Bd. 4, 1999, S. 93–94):

Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: „stirb zur rechten Zeit!“
Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra.
Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rate ich den Überflüssigen.
Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein.
Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht.
Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird.
Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden.
Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte!
Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden.
Aber dem Kämpfenden gleich verhaßt wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt.
Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.

Noch 1975 hießt es im Katechismus der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands:

Nach christlicher Auffassung hat der Mensch kein Recht zu einem solchen zerstörerischen Eingriff (dem Selbstmord), da er sich das Leben auch nicht selbst gab, sondern mit seinem Lebensauftrag von Gott geschenkt bekam.

Ich bin ja fast schon überrascht (und erfreut), dass die beiden großen Kirchen das heutige Urteil kritisch sehen und erklären:

„Mit großer Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht am heutigen Tag (26. Februar 2020) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) aufgehoben hat. Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen. Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.

Bonhoeffer hatte das gut durchschaut. Durch das „Ja“ zum Selbstmord wird verleugnet, dass Gott lebt (Ethik, Werke, Bd. 6, S. 194):

Gott hat sich das Recht über das Ende des Lebens selbst Vorbehalten, weil nur er weiß, zu welchem Ziel er das Leben führen will. Er allein will es sein, der ein Leben rechtfertigt oder verwirft. Vor ihm wird Selbstrechtfertigung zur Sünde schlechthin und darum auch der Selbstmord. Es gibt keinen anderen zwingenden Grund, der den Selbstmord verwerflich macht als die Tatsache, daß es über dem Menschen einen Gott gibt. Diese Tatsache wird durch den Selbstmord geleugnet.

Nietzsche und Overbeck: Gegenseitige Radikalisierungsgehilfen

Zehn Jahre lehrte Friedrich Nietzsche als Professor an der Basler Universität. In dieser Zeit lernte er den evangelischen Theologen Franz Overbeck kennen. Aus der innigen Freundschaft der beiden Denker entwickelte sich eine antichristliche „Waffengenossenschaft“. Sie wurden „gegenseitige Radikalisierungsgehilfen“ (Andreas Urs Sommer).

Das DLF berichtet über die Ausstellung „Übermensch – Friedrich Nietzsche und die Folgen“ in Basel. Hörenswert:

 

Moral als beliebige Setzung

Bei dem katholischen Apologeten Norbert Clasen habe ich ein sehr schönes Zitat gefunden (Im Garten des Unmenschlichen, 2018, S. 16–17):

In der Tat kann es, wie Nietzsche scharfsichtig sah, eine wirkliche, d.h. von den Dingen selbst ausgehende sittliche Verpflichtung in einer Welt ohne Gott nicht geben, die von der Option des wissenschaftlichen Positivismus bzw. Evolutionismus ausgeht und auf »Zufall und Notwendigkeit« beruht. Wenn es für die Natur selber gleichgültig ist, ob z.B. Walfische und Delphine existieren, Bach-Partituren unverfälscht überliefert werden, Unschuldige leben bleiben und Kinder geliebt werden, dann achten wir in der Sittlichkeit bloß unseren eigenen Entschluss, so zu tun, als ob der »Aggregatzustand« »Walfisch«, »Kind« oder »Bach-Partitur« Dauer haben sollte. Wenn aber alles Sollen nur menschliche Illusion oder Setzung ist, dann ist es aufhebbar.

Wer dies durchschaut, ist mit Nietzsche aller sittlichen Verpflichtung ledig, für ihn herrscht die »Unschuld des Werdens«, und er steht »jenseits von Gut und Böse«. Auch die Menschenwürde ist dann bloß ein Selbstmissverständnis. Die Natur hat uns als blindes, gleichgültiges Zufallsprodukt erzeugt. Uns entsteht nur die Illusion, dass es auf uns ankäme. Wenn wir den illusionären Schein, den unsere Gehirnphysiologie erzeugt, durchschauen und uns folglich nicht mehr als »Zwecke an sich« achten, setzen wir lediglich das evolutionistische Grundprinzip wieder in Kraft, demzufolge es völlig gleichgültig ist, was geschieht und folglich auch, wie man sich verhält.

Einen Menschen zu töten, ist, so gesehen, im Prinzip nur ein »Umarrangement« von Materie, eine Atomverbindung löst sich auf und neue bilden sich, so wie wenn ein Kind am Strand seine Sandburg zerstört.

»Dem Evolutionismus widerspricht allerdings die konkrete sittliche Erfahrung, die wir machen: Wenn ich sehe, dass mein Kind krank ist, dann ist das die Aufforderung, mit ihm zum Arzt zu gehen. Dass es nicht die Eltern sind, die in das kranke Kind ihren Wunsch auf dessen Gesundheit projizieren, zeigt sich daran, dass wir Eltern, die an Fahrlässigkeit oder Herzlosigkeit ihr krankes Kind vernachlässigen, sittlich verurteilen. Wir muten ihnen zu, jenen Imperativ zu hören, weil er nicht von ihrem Belieben abhängt, sondern aus der Natur der Sache erwächst.«

Kultur des Todes (7): Der „vernünftige Tod“

Das Thema Sterbehilfe erfährt in unseren westlichen Gesellschaften zunehmende Aufmerksamkeit. Immer mehr Menschen sehen es als ihr natürliches Recht an, selbstbestimmt zu sterben. 63 Prozent der 16 bis 29-jährigen in Deutschland bejahen gemäß aktueller Umfragen die aktive Sterbehilfe.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Friedrich Nietzsche 1878 den Selbstmord als vernünftigen Tod bezeichnete und ihm „höchste Anerkennung in der Moral der Zukunft zugesichert“ hat (Franz Oberbeck, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, 2011, S. 66). Grund für die kommende Wertschätzung des Selbstmordes und der Sterbehilfe ist für Nietzsche der Verlust des Gottesbezugs.

Er schreibt (KSA, Bd. 2, S. 632):

Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, — oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heisst bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thäte? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? — Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnisswärter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist.

Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Ausserhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. — Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muss.

Die Eitlen

Friedrich Nietzsche (Morgenröte, 385):

Wir sind wie Schauläden, in denen wir selber unsere angeblichen Eigenschaften, welche andere uns zusprechen, fortwährend anordnen, verdecken oder in’s Licht stellen, – um uns zu betrügen.

Welchen Gott haben wir getötet?

Ich habe eine Frage an die Nietzsche-Experten. Nietzsche beeindruckt mich immer wieder neu durch seine rigorose Aufrichtigkeit. In seiner Darstellung des Gottesmordes fasst er sprachmächtig das Verschwinden Gottes am Ende der Neuzeit zusammen (Die fröhliche Wissenschaft, KSA, Bd. 3, 1999, S. 480–482). Der Abschnitt geht unter die Haut, lässt doch erst die „Größe“ des Gottesmordes den Menschen groß werden. Hier:

„Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet erch vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘– Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh‘, sagte er dann, ‚ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!‘ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘“

Ernst Benz ist nun der Auffassung, dass dieser Gedanke nur im Zusammenhang mit Feuerbachs „Projektionshypothese“ zu verstehen sei. Nietzsches Satz vom Tode Gottes „setzt voraus, daß Gott selbst nur als eine mythische Setzung des menschlichen Bewusstseins verstanden wird, deren irrealen Charakter der Mensch inzwischen selbst erkannt hat“ (Nietzsches Idee zu Geschichte des Christentums und der Kirche, 1956, S. 168). Kurz: Der Gott, den wir ermordet haben, ist der Gott, den wir zuvor nach unserem eigenen Bilde geschaffen haben.

Ich habe diese These von Benz bei Wolfhart Pannenberg gefunden (Grundfragen systematischer Theologie, 1967, S. 353f). Pannenberg selbst schließt sich ihr an. Ich halte sie auch für plausibel. Meine Frage lautet: Ist diese Interpretationen heute geläufig (also com­mu­nis opi­nio)?

Nietzsche: Mir fehlte der Vater

Als Zeugen für die Auffassung: es ist gut für ein Kind, einen Vater zu haben, zitiere ich zustimmend Friedrich Nietzsche. Der junge Philologe schrieb:

Meine Erziehung ist in ihren Haupttheilen mir selbst überlassen worden. Mein Vater, ein protestantischer Landgeistlicher in Thüringen, starb allzu früh: mir fehlte die strenge und überlegne Leitung eines männlichen Intellekts. Als ich im Knabenalter nach Schulpforta kam, lernte ich nur ein Surrogat der väterlichen Erziehung kennen, die uniformirende Disciplin einer geordneten Schule. Gerade aber dieser fast militärische Zwang, der, weil er auf die Masse wirken soll, das Individuelle kühl und oberflächlich behandelt, führte mich wieder auf mich selbst zurück.

Der Kirchenhistoriker Franz Overbeck

Overbeck.jpgFranz Camille Overbeck (1837–1905), Professor für evangelische Theologie an der Universität Basel und für einige Jahre enger Freund von Friedrich Nietzsche, veröffentlichte 1873 sein Werk Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, in dem er die These vertritt, dass das Christentum, das die Kirchen vertreten, nichts mehr mit dem ursprünglichen Christentum zu tun habe. Overbeck suchte einen rein historischen Zugang zum Christentum. Das Buch erschien zur gleichen Zeit wie Nietzsches erste Unzeitgemäße Betrachtung und enthält ähnlich kritische Thesen. Rüdiger Achenbach hat für den DLF mit dem evangelischen Theologen Hermann Peter Eberlein über Overbeck, seine Entehrung und seine Wirkungsgeschichte gesprochen:

Teil 1:

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Teil 2:

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Die Herrschaft der Zeit

Hubert Windisch schreibt in seiner Minima Pastoralia (Würzburg: 2001, S. 23):

Eines der markantesten Zeitzeichen der Gegenwart ist das ausgeprägte Interesse an der Zeit als solcher. Es ist bemerkenswert, dass gegenwärtig über nichts so viel nachgedacht und gerätselt, publiziert und gestritten wird wie über die Zeit selbst. Es fällt dabei die Selbstbezüglichkeit des Phänomens der Zeit auf. In gewisser Weise kann man von einer herkunfts- und zukunftslosen Zeit-Selbst-Befassung sprechen, von einem tempus incurvatum in se ipsum, worin sich letztlich Nietzsches Botschaft vom Tode Gottes geltend macht. Denn diese Botschaft ist – genau besehen – eine Botschaft von der Göttlichkeit der Zeit. Die Aufkündigung der Herrschaft Gottes ist die Ankündigung der Herrschaft der Zeit. Der Tod Gottes erhebt die Zeit zum Gott. Da Gott aber tot ist, ist die Herrschaft der Zeit, und das, was die Zeit ausmacht, unerbittlich.

„Wir können Gott nicht einfach abschreiben“

Martin Walser hat Alexander Görlach ein Interview gegeben und geht mit dem Atheismus hart ins Gericht. Gleichzeitig wendet er sich gegen die beruhigende Religion der Kirche und benennt Nietzsche, Kafka und Barth als seine Kronzeugen. Walser spricht nicht als Glaubender, sondern als Zweifler, der Gott nicht einfach abschreiben kann.

Wenn man Karl Barth liest, dann fällt sicherlich nicht nur mir auf, dass wir eingeschlafen sind und die Rechtfertigung aus allen möglichen Ersatzbefriedigungen produziert haben. Natürlich kann einem die Barth-Lektüre den Anstoß dazu geben, dass man sich verbietet, einzuschlafen und sich mit Pseudo-Rechtfertigungen durch soziale, politische und sonstige biografische Erfolge zufriedengibt. Aber das allein reicht noch nicht. Deswegen ist für mich „Der Prozess“ von Kafka so wichtig. Josef K. soll an seinem dreißigsten Geburtstag im Gericht schriftlich über sein Leben Rechenschaft ablegen. Als er merkt, dass er sein Dasein mit dem, was er vorzubringen hat, nicht rechtfertigen kann, beginnen seine vergeblichen Bemühungen. Er geht zu Anwälten, zu Künstlern und schließlich in die Kirche zum Priester. Je mehr er sich um die eigene Rechtfertigung bemüht, desto klarer wird ihm, dass er nicht gerechtfertigt ist. Ihm fehlt da etwas. Wer diesen Roman von Kafka liest und sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzt, kann ihn eigentlich überhaupt nicht fertig lesen. Es ist ein so radikales Buch. Der Schluss ist ein inszenierter Selbstmord von diesem K. Man kann das nicht bloß als Belletristik lesen.

Mehr: theeuropean.de.

VD: TB

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