Friedrich Schleiermacher

Schleiermachers Theologie ohne persönlichen Gott

Ernst Ludwig von Gerlach, der in einer persönlichen Verbindung zu Schleiermacher stand, bemerkte rückblickend über dessen Einfluss (zitiert aus: Hans Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach, Bd. 53, Teilbd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, S. 80):

Sein [Schleiermachers, d. Vf.] Pantheismus, dem ,Universum‘ und ,Gott‘ identisch ist, und seine Theologie ohne persönlichen Gott, ohne den Begriff der Sünde und der Buße, ohne Engel und Teufel, ohne Dogmen und Wunder, aber durchdrungen vom unmittelbaren, lebendigen, anregenden Universums-(Gottes-)Bewußtsein und -Gefühl, von lebendiger Liebe zu Christo, als der Blüte der Menschheit, beherrschen noch weit und breit Deutschland und üben mächtigen Einfluß aus auf viele Gläubige. Ich stehe in stetem Kampfe wider seinen Einfluß auf mich.

Vom Reiz des Götzendienstes

Bei der Debatte über die „Gott ist queer“-Predigt (vgl. hier und hier) musste ich mehrfach an Ludwig Feuerbachs Kritik der christlichen Religion denken. Feuerbach war davon überzeugt, dass der Mensch ganz auf den Menschen geworfen ist und deshalb Gott nur eine Projektion sein kann. In seinen eigenen Worten heißt das (Vorlesungen über das Wesen der Religion, 3. Aufl., Bd. 6, Gesammelte Werke, Berlin: Akademie Verlag, 1984, S. 212):

Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf, wie ich im „Wesen des Christentums“ zeigte, Gott nach seinem Bilde. Und auch der Rationalist, der sogenannte Denk- oder Vemunftgläubige, schafft den Gott, den er verehrt, nach seinem Bilde; das lebendige Urbild, das Original des rationalistischen Gottes ist der rationalistische Mensch. Jeder Gott ist ein Wesen der Einbildung, ein Bild, und zwar ein Bild des Menschen, aber ein Bild, das der Mensch außer sich setzt und als ein selbständiges Wesen vorstellt.

Wenn – im Gefolge der Schleichermachschen Theologie – das biblische Gottesbild nur Ausdruck dessen ist, was Menschen über Gott empfinden, hat Feuerbach recht und dann darf der Schriftbefund gern mit weiteren Projektionen bereichert werden. Dann darf man auch sagen: Gott ist queer. Das ist einfach ein weiteres Gefühl, das dem „Gefühlsspeicher“ der Bibel hinzugefügt wird. Der Mensch schafft sich eben einen Gott – so würde Feuerbach sagen – nach seinem eigenen Begehren.

Angesichts von 2Mose 20,3–4 ist das ein gefährliches Manöver, denn dort lesen wir: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“

Warum sind die Produkte unserer menschlichen Götzenfabriken so attraktiv? David Wells hat diese Frage so beantwortet (God in the Wasteland, 1994, S. 53–54):

Warum sind den Menschen die Ersatzgötter lieber als Gott? Der wohl wichtigste Grund ist, dass man sich so der Rechenschaftspflicht gegenüber Gott entzieht. Wir können den Götzen zu unseren eigenen Bedingungen begegnen, weil sie unsere eigenen Schöpfungen sind. Sie sind sicher, vorhersehbar und kontrollierbar; sie sind, in Jeremias farbenfroher Sprache, die „Vogelscheuchen im Gurkenfeld“ (10,5). Sie sind tragbar und vollständig unter der Kontrolle des Benutzers. Sie haben nichts von der Bedrohung durch einen Gott, der vom Sinai herab donnert und dessen Vorsehung in dieser Welt uns so oft unverständlich und gefährlich erscheint. Menschen, die „im Zentrum ihres Lebens und ihrer Loyalität bleiben, autonome Architekten ihrer eigenen Zukunft“, … vermeiden dadurch die Konfrontation mit Gott und seiner Wahrheit. Sie müssen nur sich selbst gegenübertreten. Das ist der Reiz des Götzendienstes.

Aber die Früchte des Ersatzes von Gott durch das eigene Ich – in welcher Form auch immer – und der damit verbundene Verlust der Rechenschaftspflicht gegenüber Gott, können sehr bitter werden. G.K. Beale hat argumentiert, dass die Anklage des Propheten Jesaja gegen Israel wegen seines Götzendienstes beispielhaft für die gesamte alttestamentliche Anklage gegen das Volk Gottes wegen seiner Treulosigkeit ist. Die Ironie besteht darin, dass diejenigen, die Götzen anbeten, so leblos werden wie die Götzen, die sie anbeten, und dass diejenigen, die sich in der Anbetung dieser Götzen entflammen, von den Feuern des göttlichen Gerichts verzehrt werden. Sie bilden sich ein, die große geistige Wirklichkeit zu erkennen, sind aber in Wirklichkeit unheilbar blind. Und so ist es in jedem Zeitalter. Nachdem sie Gott verdrängt haben, können die Sünder die Tiefe ihrer Sünde nicht mehr ermessen, auch wenn sie ein gequältes Gewissen haben. In der Folge des geistigen Zerfalls wird typischerweise „das Schuldbewusstsein verdrängt und ins Unterbewusstsein getrieben“, sagt Emil Brunner, und „dort nimmt es die seltsamsten Formen an“. Der Zorn Gottes beispielsweise „drückt sich in den Gestalten der Furien und der rächenden Gottheiten aus“. Diese Furien tauchen in Obsessionen auf, die zutiefst böse sein können und die immer zerstörerisch sind.

An diesem Punkt sollte klar sein, dass Weltlichkeit nicht einfach eine unschuldige kulturelle Eskapade ist, und noch weniger eine Angelegenheit, bei der es sich lediglich um unbedeutende Verhaltensverstöße oder die Übertretung trivialer Regeln der Kirche oder der erwarteten Praktiken der Frömmigkeit handelt. Weltlichkeit ist eine religiöse Angelegenheit. Die Welt, wie die Autoren des Neuen Testaments sie beschreiben, ist eine Alternative zu Gott. Sie bietet sich selbst als ein alternatives Zentrum der Treue an. Sie liefert einen gefälschten Sinn. Sie ist das Mittel, das Satan in seinem Kampf gegen Gott einsetzt. Teil dieser „Welt“ zu sein, bedeutet, Teil der satanischen Feindschaft gegen Gott zu sein. Deshalb ist die Weltlichkeit so oft götzendienerisch, und deshalb sind die biblischen Sanktionen gegen sie so streng. „Wisst ihr nicht“, fragt Jakobus, „dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, macht sich zum Feind Gottes“ (Jak 4,4).

Zwei Arten des „Theologischen Liberalismus“

Dan Doriani (Covenant Theological Seminary, Missouri, USA) unterscheidet in seinem Beitrag über den Theologischen Liberalismus zwischen einem feindlichen und einem freundlichen Liberalismus. Der freundliche möchte den Glauben an Gott „retten“, zahlt dafür aber einen hohen Preis.

Jahrhundertelang sind liberale Theologen davon ausgegangen, es sei ihre Aufgabe, das Christentum dem „modernen Menschen“ schmackhaft zu machen. In den meisten Fällen teilt dieser moderne Mensch mit dem Theologen einen sehr ähnlichen Hintergrund und sozialen Status. Das Ziel des liberalen Theologen ist die Rettung des Christentums, die durch das Entfernen der jeweils anstößigsten Lehrsätze bewerkstelligt wird. 

Einmal ist es die Lehre der Sünde, die unakzeptabel ist; ein anderes Mal sind es Wunder; und noch ein anderes Mal ist es die Jungfrauengeburt, die stellvertretende Sühne oder die biblische Sexualmoral. Der Tenor allerdings ist immer derselbe: Um das Christentum glaubwürdig zu machen, müssen gewisse Lehrsätze weichen. 

Die erste Variante, der feindliche Liberalismus, hasst das Christentum und möchte es durch eine bessere Religion ersetzen. Die zweite – um die es in diesem Artikel geht – ist freundlicher. Sie möchte den Glauben retten und seine „kulturellen Verächter“ zurückgewinnen. Leider wird das Christentum in dem Rettungsversuch des freundlichen Liberalen zerstört, da seine Loyalität nicht der Schrift, sondern der Kultur gilt. 

Mehr bei Evangelium21: www.evangelium21.net.

Religion als Sache des Gefühls

Klaus Bockmühl über den Einfluss von Schleiermachers Liberalismus (Verantwortung des Glaubens im Wandel der Zeit, 2001, S. 7):

„Liberalismus“ bedeutet die Befreiung von der Einengung des Verstandes durch die Dogmatik. Schleiermacher war der Pionier der Haltung, in der man gleichzeitig ein moderner Mensch und doch auch ein überzeugter

Christ sein kann. Deshalb ist er vielen zum Modell geworden.
Auch die Art, in der Schleiermachers Theologie aufgenommen wurde, läßt ihn zum Eingangstor in die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts werden. Nach seinem Tode breitete sich sein Einfluß auf alle folgenden theologischen Entwicklungen aus. Er war einflußreich durch die Erweckungsbewegung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Diese Bewegung war gewissermaßen eine Fortsetzung von Schleiermachers philosophischem Lehrsatz, daß das Gefühl der Sitz der Religion ist. Das Bindeglied zwischen Schleiermacher und der Erweckung war die Schule der Romantik. Wir wollen darauf später im Detail eingehen. Im Moment wollen wir nur die verschiedenen Züge des Einflusses Schleiermachers aufweisen.

Dabei muß vor allem auf eine Ironie hingewiesen werden: Daß die heutigen Evangelikalen in ihrer leidenschaftlich festgehaltenen Orthodoxie mit Schleiermacher, dem Großvater des Liberalismus, doch die tiefe Überzeugung teilen, daß Religion wesentlich eine Sache des Gefühls sei. Bis zum heutigen Tag ist diese Überzeugung die Türe, durch die Schleiermachers Theologie in evangelikale Kreise eindringt.

Schleiermacher oder Barth? Entspannte Pluralität!

Schleiermacher oder Barth? Seit 100 Jahren spaltet dieser theologische Streit den deutschen Protestantismus. Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen hat sich in einem DLF-Gespräch auf die Seite Schleiermachers gestellt. Der DLF schreibt:

An Schleiermacher fasziniere ihn der Versuch, so Claussen, sich den Glauben über das individuelle religiöse Leben zu erschließen. Was ihm an Schleiermacher missfalle? „Gar nichts. Reine Liebe und Bewunderung.“

Zugleich sagte Claussen, er sei froh darüber, dass es in der evangelischen Kirche heute kein so starkes Lager- und Frontendenken mehr gebe wie früher, sondern eine „entspannte Pluralität.“ Dennoch betonte er mit Blick auf die evangelische Theologie: „Streiten ist unser Kerngeschäft.“

Weder Schleiermacher, noch Barth, hätten sich, da bin ich mir sicher, über eine „entspannte Pluralität“ gefreut. Aber so ist das eben noch: „Alles ist möglich!“

Hier das Gespräch:

 

Ist das Christentum die wahre Religion?

Wenn ich im Unterricht versuche, den Neuansatz Friedrich Schleiermachers zu erklären, provoziert das hin und wieder verwundertes Fragen. „Wie ist das genau gemeint?“ „Muss ich das verstehen?“

Kurz: Für den Theologen Schleiermacher steht das fromme Selbstbewusstsein des Menschen, jenes „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), Bd. 1, 1984, S. 3–6) im Zentrum der Theologie. Die Glaubenslehre beruht für ihn auf zweierlei, „einmal auf dem Bestreben die Erregung des christlich frommen Gemüthes in Lehre darzustellen, und dann auf dem Bestreben, was als Lehre ausgedrückt ist, in genauen Zusammenhang zu bringen“ (Der christliche Glaube (1821/22), Bd. 1, 1984, S. 16). An die Stelle der Heiligen Schrift tritt das Erleben des Gläubigen. „Der Mensch war das Subjekt seiner Theologie, Gott das Prädikat“ (H. Zahrnt, Die Sache mit Gott, 1996, S. 39). Jan Rohls schreibt dazu (J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, 1997, S. 396):

Gott ist uns also im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise gegeben, so daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl nicht erst sekundär aus einem Wissen von Gott entsteht. Das Bewußtsein unserer selbst als in Beziehung zu Gott stehend ist daher ein unmittelbares Selbstbewußtsein, nämlich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ausmacht. Und Gott bedeutet zunächst nur dasjenige, was in diesem Gefühl als das mitbestimmende Woher unseres Soseins mitgesetzt ist.

Während also zuvor Frömmigkeit verstanden wurde als eine subjektive Reaktion auf objektive Lehrinhalte, dreht Schleiermacher die Ordnung um und setzt beim Gemüt an. Die Glaubensdogmen sind nicht Ursprung, sondern Frucht der Glaubenserfahrung. Sätze des Glaubens sind Ausdruck des frommen Gefühls. Schleiermachers Glaubenslehre möchte deshalb nicht mehr objektive Glaubensinhalte beschreiben, sondern den Glauben der Menschen begrifflich ordnen und darstellen.

Da sich das religiöse Bewusstsein in jedem Menschen findet, also auch bei Gläubigen anderer Religionen, kennt Schleiermacher den qualitativen Unterschied zwischen dem christlichen Glauben und anderen „Glaubensformen“ nicht mehr. Religionen werden von ihm auf ihr Entwicklungsstadium befragt, da sie die Entfaltung des religiösen Bewusstseins auf verschieden fortschrittliche Weise spiegeln. Weil alle drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) derselben höchsten Entwicklungsstufe der Frömmigkeit angehören, können sie sich nur durch ihre Art der Frömmigkeit quantitativ unterscheiden. Im Christentum kommt nach Schleiermacher freilich die Frömmigkeit zu ihrer „reifsten Erfüllung“.

Der Religionskritiker Ludwig Feuerbach hatte bei seiner Kritik des Christentums damit ein leichtes Spiel. Er drehte den Spieß einfach um und sagte: „Ist z.B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts Anderes aus, als das Wesen des Gefühls … Das göttliche Wesen, welches das Gefühl vernimmt, ist in der Tat nichts anderes als das von sich selbst entzückte und bezauberte Wesen des Gefühls – das wonnetrunkene, in sich selige Gefühl“ (L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, 1883, S. 8). Das Selbstbewusstsein projiziert die eigenen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte auf den Himmel. Der Mensch ist nicht das Geschöpf Gottes, sondern Gott ist das Geschöpf des Menschen. So dürfen wir Feuerbachs Projektionsthese zusammenfassen.

Schleiermacher wollte eigentlich den Glauben vor der Kritik der reinen Vernunft (Kant) schützen, als er ihn in den Raum der Gemütserfahrung verlagerte. Gelungen ist ihm das nicht.

Nun ist das wirklich nicht so einfach zu verstehen. Vielleicht hilft ja das nachfolgende Video eines Pastors, den Ansatz nachzuvollziehen. Er erörtert in wenigen Minuten das Verhältnis von Glauben und Wahrheit  und bewegt sich dabei im Fahrwasser Schleiermachers. Feuerbach hätte mit großer Freude und geschliffenen Klingen auf die Projektionen der beiden von ihm angeführten Personen, ein Christ und eine Muslimin, reagiert.

VD: JS

Schleiermachers Entfremdung vom AT

Klaus Beckmanns Studie Die fremde Wurzel (Göttingen, 2002) ermöglicht tiefe Einblicke in bedeutsame Fehlentwicklungen der neuzeitlichen Theologie. Besonders erhellend finde ich, wie Beckmann Schleiermachers Entfremdung vom Alten Testament nachzeichnet.

Über das Jesusbild Schleiermachers schreibt er (S. 39):

Der „Stifter“ des Christentums steht für Schleiermacher von Anfang an nicht in Beziehung zu der jüdisch-religiösen Gedankenwelt, aus der seine Bezeichnung entnommen ist. Die die Christologie der „Reden“ prägende Mittlervorstellung wird nicht biblisch, sondern aus der vorausgesetzten religiösen Konzeption hergeleitet. „Christus“ ist darum der polemische Überwinder des Judentums und ihm nur äußerlich verbunden.

So konnte Schleichermacher an der Christusfrömmigkeit der Herrenhuter Anleihen machen, zugleich aber ihrer vom AT geprägten Sünden- und Erlösungslehre den Rücken kehren (S. 40–41):

Indem Schleiermacher seinen Ansatzpunkt in die religiöse Anschauung des Menschen legte, schob er die in der Theologie der Brüdergemeine im Gottesbegriff festgehaltene Verbindung von Judentum und Christentum zur Seite. In seinem Ringen mit den eigenen religiösen Empfindungen, die ihm mit der überkommenen protestantisch-theologischen Lehre nicht vereinbar schienen, findet sich eine Spitze gegen die dogmatische Wertschätzung des AT, durch die das Christentum an die engen Grenzen des Judentums gebunden werde. Erst der Einfluß der klassischen Philosophie habe die universale Geltung der christlichen Religion begründet. Für den jungen Theologen Schleiermacher setzte Christi Erlöserfunktion seine absolute Neuheit gegenüber der religiösen Umwelt voraus. Christi Auftreten konnte daher nicht in einer solchen offenbarungsgeschichtlichen Kontinuität wurzeln, wie sie der innere Zusammenhang des kirchlichen Kanons beider Testamente dokumentiert. Die Christologie als Rede vom „Mittler“ wurde vom religiösen Erleben und dessen subjektiver Gewißheit her reformuliert, wobei der Gottesbegriff für Schleiermacher zunächst zum Adiaphoron wurde. Die herrnhutische Christusfrömmigkeit Schleiermachers schied sich von der ihr ursprünglich zugrundeliegenden Theologie. Schleiermacher war es möglich, sich in der Absage an die überkommene Satis-faktions- und Versöhnungslehre und den hier involvierten biblisch-reformato-rischen Konnex von Gotteslehre und Christologie die enthusiastische Beziehung zu Christus zu bewahren. Die herrnhutische Prägung mit ihrer charakteristischen Verbindung orthodoxer Sünden- und Gnadenlehre mit einer psychologisierenden Frömmigkeitspraxis zeigte sich „anschlußfähig“ für religiöse Momente des romantischen Denkens, die Schleiermacher in seine Christologie hineintrug. Hinsichtlich der Sünden- und Erlösungslehre und im Schriftverständnis kehrte Schleiermacher Zinzendorf radikal den Rücken. Gegenüber der theologischen Praxis der Brüdergemeine muß dennoch kritisch bedacht werden, inwiefern hier – gegen den nominellen Bekenntnisstand – ein „Christus“-Erlebnis offeriert wurde, das das Gotteshandeln auf das Individuum und seinen „Heiligungskampf“ engführte und überindividuelle theologische Aussagen zurückstellte.

Schleiermacher und der Beginn der liberalen Theologie

Friedrich Schleiermacher (1768–1834) gilt als Vater des theologischen Liberalismus. Nach seinem Verständnis von Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ ist Religion weder ein Wissen noch ein Tun. Er setzt an die Stelle der objektiven kirchlichen Lehrsätze eine moderne Erfahrungstheologie.

Rüdiger Achenbach hat mit dem emeritierten Theologieprofessor Matthias Kroeger über Schleiermacher gesprochen. Eine informatives Gespräch, dem freilich abzuspüren ist, dass Matthias Kroeger Schleiermacher zuneigt. Kroeger steht für eine non-theistische Theologie, in der nicht mehr an einen personalen Gott geglaubt wird. Dass er dabei gut an Schleiermacher anknüpfen kann, wird im Interview deutlich.

Hier das Gespräch:

Die evangelische Kirche in der offenen Gesellschaft

Rüdiger Achenbach hat für den DLF mit dem Philosophen Alexander Grau und dem kirchlichen Kommunikationsexperten Günter Menne über die Evangelische Kirche und die Herausforderungen der offenen Gesellschaft gesprochen. Schleiermacher kommt – nicht überraschend – etwas besser weg als Barth. Der Christ ist ein Mensch, der die Welt anders fühlt, als der Nichtchrist.

Insgesamt ein interessantes Gespräch, welches (ernüchternde) Einblicke in religionssoziologische und theologische Überlegungen im Raum der EKD vermittelt. Also: Besser nicht mehr von Sünde, Erlösung und Reich Gottes reden, denn mit diesen Begriffen und Konzepten können Menschen von heute nicht mehr viel anfangen. Ob die Kirche als Dienstleistungsunternehmen mit einer liberalen Theologie wirklich eine Zukunft hat? Ich zweifle.

Teil 1:

[podcast]http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2011/05/30/dlf_20110530_0946_87c895f0.mp3[/podcast]

Teil 2:

[podcast]http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2011/05/31/dlf_20110531_0943_c8112c2f.mp3[/podcast]

Nachtrag vom 01.06.2011, Teil 3:

[podcast]http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2011/06/01/dlf_20110601_0945_b8755055.mp3[/podcast]

Theozentrische Theologie

Gemeinhin gilt Karl Barth als der Theologe, der dem Spuk der Schleiermachschen Vermittlungstheologie eine Ende setzen wollte. In gewisser Weise steht Barth allerdings in der Schuld eines anderen Theologen. Erich Schaeder, ab 1918 Professor für Theologie in Breslau, hatte bereits 1909 durchschaut, dass seit Schleimacher der Mensch in den Mittelpunkt der deutschsprachigen Theologie geraten ist und keine nachhaltige geistliche Neubelebung der Kirche zu erwarten ist, solange die Theologie nicht Gott ins Zentrum rückt und ehrt. »Der Theologe«, so schreibt Schaeder, »steht vor Gott und letztlich vor niemand sonst« (S. 214). Barth steht in mancher Hinsicht Schaeder so nah, dass Pannenberg in seiner Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie verwundert bemerkt: »Angesichts der sachlichen Nähe zu Schaeder ist es eigenartig, daß Barth ihn in seinen Publikationen selten und dann nur kritisch erwähnt, ihn dagegen nie unter seinen geistigen Ahnen nannte« (1997, S. 167).

Erich Schaeder setzte gegen die Erfahrungstheologie Schleiermachers und letztlich auch gegen die dialektische Theologie Barths eine Theologie des Heiligen Geistes.

Nein, der Tatbestand, der letzte, tiefste, um den es sich hier handelt — man glaubt alle seine Schwierigkeiten zu sehen und doch muß man ihn aussprechen — ist der: was wir, was unsere Glaubensgenossen, was die Kirche von Gott haben, was wir von Gott in und durch Jesus Christus haben, das haben wir, wiewohl es in Jesus Lebensinhalt und Lebensertrag einer geschichtlichen Persönlichkeit ist, durch Gottes souverän wirkenden Geist, durch eine schlechthin freie Macht- und Gnadentat des lebendigen Gottes. »Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen usw.«

Über den Einfluss Schleiermachers schrieb Schaeder in seiner Theozentrischen Theologie (Bd. 1, hier 3. Aufl. von 1925, S. 3):

Man kann der durch Schleiermacher hervorgerufenen und beeinflußten Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts die Kritik nicht ersparen, daß sie in verkehrter Weise anthropozentrisch ist. Sie neigt in verschiedenen Formen und Graden dahin, die offenbare Herrlichkeit Gottes durch die Rücksicht auf den Menschen und auf das Menschliche zu verkürzen oder zu lädieren. In das Zentrum ihrer Betrachtung, in das Gott gehört, schiebt sich ihr mit größerer oder geringerer Energie der Mensch, oder er droht es zu tun. Sie treibt, beeinflußt vom innersten Lebenszuge der Aufklärung, der aber in einer Vereinseitigung der Gesichtspunkte der Lutherschen Reformation eine seiner Wurzeln hat, eine verkehrte Humanität, und die richtige, notwendige Divinität kommt dabei zu kurz. Wenn es eine Weiterbildung der dogmatischen Theologie gibt, dann muß sie darin bestehen, daß ihr der theozentrische Charakter, welcher ihr zukommt, klar und entschieden aufgeprägt wird.

Zu den bekannteren Schülern von Schaeder gehört – und man merkt es, wenn man ihn liest –, Hans Joachim Iwand (vgl. hier). Die Erneuerung der Theologie bleibt jedoch weiterhin Aufgabe. Möge der Heilige Geist die jetzt noch jungen Studenten und Theologen »packen«, damit sie die Wirklichkeit und Herrlichkeit Gottes wieder in die Mitte ihres Dienstes stellen.

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