Lesen

Neue Ökonomie des Wortes

KI-Tools zerlegen Texte in Häppchen, Videoclips und Podcasts dominieren das Internet: Der Medienwissenschaftler Christoph Engemann befürchtet, dass in Zukunft nur noch eine kleine Elite in der Lage sein wird, Bücher ohne digitale Hilfsmittel zu lesen. Das mündliche Wort wird wichtiger, das Lesen von Bücher gehört für viele junge Leute zur alten Welt.

Die FAZ stellt sein Buch vor und schreibt: 

Auch wenn es viele noch nicht wahrhaben wollen: Bildung und Wissen, einschließlich der Verfahren ihrer Überprüfung, sind infolgedessen völlig neu zu verhandeln.

Auf diese Weise verändert sich auch das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit grundlegend: „Die Ökonomie des Internets ist eine Ökonomie des Wortes“, so Engemann. Längst haben sich soziale Medien, Videoclips und Podcasts als legitime Formate der Wissensvermittlung jenseits des klassischen Lesetextes etabliert. Mit der maschinellen Sprachverarbeitung verschwimmen die Grenzen zwischen Schrift und Rede; auch Gesprochenes wird jetzt adressierbar, verlinkbar, durchsuchbar.

Ob sich das Delegieren des Lesens langfristig als eine lohnende Abkürzung zur Texterschließung erweisen wird, mag man bezweifeln. Engemann befürchtet, dass es zwangsläufig zu einem Machtgefälle zwischen den Selbstlesern und den nur noch aus zweiter Hand Lesenden kommen wird. So gerate die Fähigkeit zum Selbstlesen früher oder später zum neuen Latein der wenigen, während die breite Masse häppchenweise und gefiltert ihre Kenntnisse von Chatbots und aus Podcasts bekäme.

Zerhächseltes Lesen

Maryanne Wolf beschreibt in ihrem Buch Schnelles Lesen, langsames Lesen unter anderem die Transformation unserer Lesegewohnheiten. Da wir immer mehr Informationen verarbeiten müssen, fällt es uns immer schwerer, Texte ohne Unterbrechungen zu lesen und die Inhalte in einen Zusammenhang zu bringen. Sie spricht davon, dass wir die Informationen „zerhächselt“ aufnehmen (2019, S. 97–98):

Wie viel wir lesen ist eine Geschichte mit offenem Ende. Vor nicht allzu langer Zeit wurde am Global Information Industry Center der University of California in San Diego eine großangelegte Studie durchgeführt, mit der die Menge an Information erfasst werden sollte, die wir tagtäglich aufnehmen, und man kam zu dem Schluss, dass der Durchschnittsbürger sich täglich mit 34 Gigabyte, verteilt auf verschiedene Geräte, konfrontiert sieht. Das entspricht im Prinzip ungefähr 100 000 Wörtern pro Tag. Als man einen der Mitautoren der Studie, Roger Bohn, in einem Interview bat, etwas dazu zu sagen, gab er zur Antwort: „Ich glaube, eines ist klar: Unsere Aufmerksamkeit wird in immer kürzere Intervalle zerhäckselt, und das ist vermutlich nicht gut für das Entwickeln tiefschürfender Gedanken.“

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