Pelagius

Seminartage: Was vermag der Mensch?

In den letzten Jahren sind allerlei Publikationen erschienen, die das freie Vermögen des Menschen gegenüber der kirchlichen und insbesondere reformatorischen Lehre aufwerten (vgl. Ali Bonner, The Myth of Pelagianism, 2018; Kenneth M. Wilson, Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to »Non-free Free Will«, 2018; G. Goletiani, Der gnostische Einfluss in der Reformation, 2021, vgl. a. David Hunt, Eine Frage der Liebe, 2011 u. gemäßigter John Lennox, Vorherbestimmt?, 2019).

Kenneth Wilson hat sich sogar zu der Aussage hinreißen lassen, der Gott, an den Augustinus, Luther oder Calvin geglaubt haben, sei ein heidnischer Gott, der die Menschen hypnotisiere und manipuliere (siehe Kenneth M. Wilson, War Augustin der erste Calvinist?, 2020, S. 150; vgl. dazu „Hat Augustinus die abendländische ‚Ursünde‘ erfunden?“).

Der Einfluss dieser Schriften ist so groß, dass inzwischen von den Kanzeln mancher Gemeinden verkündet wird, Luther und Calvin seien durch die Lektüre von Augustinus unter den Einfluss des Manichäismus geraten und verkündeten nicht das Evangelium, welches uns in der Bibel offenbart ist, sondern den gnostischen Determinismus des Persischen Religionsgründers Mani (lat. Manes oder Manichaeus, 216–276/277 n.Chr.).

Das Institut für Reformatorische Theologie wird vom 29. Oktober bis zum 1. November 2021 im Evangelischen Allianzhaus in Bad Blankenburg Seminartage rund um dieses Thema veranstalten. Das Institut teilt mit:

Thema dieses Seminars ist die alte und stets aktuelle Frage, was der Mensch vor Gott tun kann. Daß Evangelikale und Katholiken in dieser Frage näher beieinander stehen, zeigt die neuerliche Veröffentlichung von Ken Wilson. „War Augustin der erste Calvinist?“, zu dem kein Geringerer als Dr. Roger Liebi ein lobendes Vorwort geschrieben hat.

Die Reformatoren hielten die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen für das entscheidende Thema der Reformation, wie Luther in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ (1525) gegen den Humanisten Erasmus von Rotterdam betont.

Wer immer eine Antwort haben möchte auf die Frage, was der Mensch bei Gott vermag, ist herzlich zur Teilnahme eingeladen.

Aus dem Programm:

  • Der Streit über die Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus (Bernhard Kaiser)
  • Römer 9,6–13: Gottes freie Wahl (Ron Kubsch)
  • Eine Theologie des freien Willens? oder: Was lehrte Pelagius? (Ron Kubsch)
  • Eine Theologie des durch Gnade befreiten Willens (Ron Kubsch)
  • Allgemeine Heilsverheißungen und die Erwählung (Bernhard Kaiser)
  • Der Mythos von der freien Selbstbestimmung des Menschen (Bernhard Kaiser)
  • Römer 8,35–39: Die Gewissheit der Liebe Gottes (Bernhard Kaiser)

Das vollständige Programm mit einer Möglichkeit zur Anmeldung kann hier heruntergeladen werden: FaltblattSeminarOkt21.pdf.

Pelagius, der Progressive

Charlotte Allen hat für das Journal FIRST THINGS das Interesse der Progressiven an Pelagius unter die Lupe genommen. Tatsächlich wird seit Jahrzehnten Pelagius rehabilitiert und der Eindruck erweckt, er sei das Opfer eines machtbesessenen Bischofs mit dem Namen Augustinus gewesen. Ali Bonner hat gar in ihrem Buch The Myth of Pelagianismus behauptet, so etwas wie einen Pelagianismus habe es nie gegeben. 

Allens Analyse ist sehr hilfreich, sieht sie doch die Gründe für das Interesse an Pelagius ganz woanders. Seine Sicht von Gott und dem Menschen passt viel mehr in das moderne Weltbild als das seiner Gegner.

In Bonner, we find the true reasons behind this historical revisionism. The rhetorical battle between Pelagius and Augustine boiled down to a political struggle between “ascetic Christians seeking imitation of Christ’s way of life as near perfect as they could achieve in a situation of autonomy,” versus “bishops wanting to extend their control over all Christians through control of access to salvation.” Augustine is the big, bad wolf of “authoritarianism,” while Pelagius is the great patron of authenticity, diversity, and other postmodern gods. The resurrection of Pelagius is, at bottom, a renunciation of Augustine’s vision of God and man, which is to say, the justification of our modern selves.

Hier der vollständige Artikel: www.firstthings.com.

Die anonymen Pelagianer

Martin Luther vom Feinsten, zu finden in seiner Auslegung zu Römer 14,1 (WA, Bd. 56, S. 502–504):

Im Wesentlichen aber ist der Kern dieses Irrtums die pelagianische Anschauung. Denn wenn es auch jetzt keine Leute gibt, die sich zum Pelagianismus bekennen und danach benennen, so sind doch die meisten in Wirklichkeit und ihrer Anschauung nach Pelagianer, auch ohne dass sie’s wissen, wie z.B. die, die glauben, wenn man nicht dem freien Willen das Vermögen zuerkenne, „das zu tun, was an einem ist“, schon vor der Gnade, dann würde man von Gott zur Sünde gezwungen und müsse notwendigerweise sündigen. Obwohl es der Gipfel der Gottlosigkeit ist, so zu denken, so glauben sie doch ganz sicher und dreist, sie würden, wenn sie nur eine „gute Meinung“ zustande brächten, ganz „unfehlbar“ die Gnade Gottes erlangen, die eingegossen werde. Alsdann gehen sie in größter Sicherheit ihres Weges dahin, dessen gewiss, dass die guten Werke, die sie tun, Gott wohlgefällig seien, und ohne dass sie sich fürderhin auch nur im geringsten ängstigen und darüber beunruhigen, dass man Gottes Gnade anflehen müsse. Denn sie fürchten nicht, dass sie eben damit vielleicht böse handeln könnten, sondern sind gewiss, dass sie recht handeln (Jes 44,20). Warum? Weil sie nicht begreifen, dass Gott die Gottlosen auch in ihren guten Werken sündigen lässt. Damit werden sie freilich nicht zur Sünde gezwungen, sondern sie tun nur, was sie wollen und zwar nach ihrer eigenen „guten Meinung“, wenn sie dies einsehen würden, so wandelten sie in der Furcht, in der Hiob lebte, und sprächen auch mit ihm: „Ich fürchtete alle meine Werke“ (Hiob 9,28); und abermals sagt ein anderer: „Wohl dem, der sich allewege fürchtet“ (Spr 28,14). Darum tun die, die in Wirklichkeit Gutes tun, nichts, ohne dass sie sich nicht immer dabei denken: Wer weiß, ob Gottes Gnade solches mit mir tut? Wer gibt mir die Gewissheit, dass meine „gute Meinung“ wirklich von Gott ist? Wie weiß ich, dass, wenn ich getan habe, was mein ist oder was an mir ist, es Gott wohlgefällt? Die wissen, dass der Mensch aus sich selbst heraus nichts tun kann. Ganz widersinnig und eine starke Stütze für den pelagianischen Irrtum ist daher der bekannte Satz: „Dem, der tut, was an ihm ist, dem gießt Gott unfehlbar die Gnade ein“, wobei man unter dem Ausdruck „tun, was an einem ist“ versteht: irgendetwas tun oder vermögen. Und so kommt’s, dass beinahe die ganze Kirche untergraben ist, nämlich durch das Vertrauen auf diesen Satz. Jeder sündigt mittlerweile unbekümmert darauf los, weil es ja jederzeit in seinem freien Willen steht zu tun, was an ihm ist und so auch die Gnade in seiner Hand liegt. Also gehen sie ohne Furcht ihres Weges dahin, nämlich mit dem Gedanken, sie würden schon zur rechten Zeit tun, was an ihnen ist, und also die Gnade erlangen, über sie sagt Jesaa (44,20): „Auch werden sie nicht sagen: vielleicht ist das Trügerei, was meine rechte Hand treibt“, und Sprüche 14,16: „Ein Weiser fürchtet sich und meidet das Arge. Ein Narr aber fähret hindurch trotziglich“, d. h. er fürchtet nicht, „dass es vielleicht Lüge ist, was seine rechte Hand treibt“. Er zittert nicht, dass sein Gutes vielleicht Böses sein könnte, sondern er ist voller Vertrauen und ist sicher. Warum gebietet dann auch der Apostel Petrus „Fürchtet Gott“? (1.Petr 2,17) und Paulus: „Wir reden den Menschen zu, Gott zu fürchten“ (2.Kor 5,11); und abermals: „Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12). Und im Ps 2,11 heißt es: „Dienet dem Herrn mit Furcht und freuet euch mit Zittern.“ Wie kann aber einer Gott fürchten oder die eigenen Werke, wenn er sie nicht für arg oder verdächtig hält? Furcht nämlich kommt nur vom Bösen her. Darum schauen die Heiligen in banger Sorge aus nach der Gnade Gottes, die man ohne Unterlass anrufen muss. Sie bauen nicht auf ihre „gute Meinung“ oder auf ihren Eifer insgesamt, sondern sie fürchten noch immer, dass sie Böses tun. Durch solche Furcht gedemütigt trachten sie nach der Gnade und seufzen danach; mit dieser demütigen Bitte aber gewinnen sie sich auch Gottes Huld. Die größte Pest sind heutzutage die Prediger, die von Zeichen vorhandener Gnade predigen, um die Menschen sicher zu machen. Obschon doch gerade dies das deutlichste Zeichen von Gnade ist, wenn man in Furcht und Zittern lebt, und umgekehrt dies das offenkundigste Zeichen göttlichen Zornes, wenn man sicher ist und zuversichtlich auf sich selbst vertraut. Und doch lechzen alle gerade danach mit einer seltsamen Leidenschaft. So findet man nur durch die Furcht die Gnade und nur durch die Gnade wird der Mensch willig zu guten Werken, ohne sie aber ist er unwillig dazu. Durch solche – wenn ich so sagen darf – Unlustigkeit wird er ein Mensch ohne Furcht, hart und sicher, weil er nach außen hin in seinen eigenen Augen und vor den Menschen jene guten Werke vollbringt.

Zur Gestalt des Christlichen

Ein kluger Theologe lese christliche Ratgeberliteratur der Gegenwart und messe sie an diesem Lutherzitat (geschrieben 1525 an Erasmus):

Die von dir beschriebene Gestalt des Christlichen enthält unter anderem Folgendes: Wir sollen uns mit allen Kräften anstrengen, das Heilmittel der Buße erstreben und auf jede Art und Weise das Erbarmen des Herrn anstreben, ohne das weder der menschliche Wille noch eine Bemühung wirksam sind. Ebenso soll niemand zweifeln an der Vergebung Gottes, der von Natur aus grundgütig ist. Diese deine Worte sind ohne Christus, ohne Geist, kälter als selbst das Eis; sogar deine Beredsamkeit, sonst deine Zierde, leidet Schaden – diese [Worte] hat dir Armem vielleicht gerade noch die Angst vor Bischöfen und Tyrannen ausgepresst, um nicht völlig gottlos zu erscheinen. Das aber behaupten deine Worte doch als Wahrheit: Es gebe in uns Kräfte; es gebe eine Anstrengung aus allen Kräften; es gebe ein Erbarmen Gottes; es gebe Wege, das Erbarmen anzustreben; es gebe einen Gott, der von Natur aus gerecht, von Natur aus grundgütig ist usw. Wenn also einer nicht weiß, was jene Kräfte sind, was sie vermögen, was sie erleiden, welche Anstrengung ihnen eigen ist, was ihre Wirksamkeit, was ihre Unwirksamkeit ist – was wird der tun? Was wirst du ihn zu tun lehren?

Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 7)

Augustinus behandelt weiterhin die Unentschuldbarkeit des Menschen vor Gott (S. 360–365). Er behauptet in Anlehnung an den Apostel Paulus, dass alle Menschen vor Gott schuldig sind, da Gott sein unsichtbares Wesen alle Menschen offenbart hat (vgl. Röm 1,18–20). Anschließend geht er besonders auf die Menschen ein, die den Willen Gottes kennen. Wenn schon diejenigen, die das Gesetz nicht kennen, sich eines Tages dafür verantworten müssen, dass sie Gott nicht geehrt haben, wie wird es wohl jenen Menschen ergehen, die im Gesetz unterrichtet sind aber nicht danach leben? Das Gesetz deckt unsere Sünde auf, damit wir uns an den Erlöser wenden. Er nämlich, Jesus Christus, kann uns von der Macht der Sünde befreien.



Augustinus: Die Gnade des Erlösers

Auch kann man von Erwachsenen mit Recht sagen: Sie wollten nicht Verstand annehmen, um gut zu handeln; sie haben, was ärger ist, zwar eingesehen, aber doch nicht Gehorsam geleistet, so dass an ihnen in Erfüllung geht: »Ein hartnäckiger Knecht wird durch Worte nicht gebessert; wenn er auch die Sache begreift, so wird er doch nicht gehorchen« (Spr 29.19). Warum gehorcht er nicht als aus dem Grunde, dass sein Wille sehr böse ist? Darum gebührt ihm nach göttlichem Gerichte eine schwerere Strafe; denn wem mehr gegeben ist, von dem wird auch mehr verlangt. Jene nennt die Heilige Schrift unentschuldbar, denen die Wahrheit nicht unbekannt ist und die doch in der Ungerechtigkeit verharren. »Denn es offenbart sich«, sagt der Apostel, »der Zorn Gottes vom Himmel über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit jener Menschen, die die Wahrheit Gottes in Ungerechtigkeit gefangen halten; denn was von Gott bekannt ist, ist unter ihnen kund, weil Gott es ihnen kundgetan hat. Denn von Erschaffung der Welt an ist sein unsichtbares Wesen durch die geschaffenen Werke erkennbar und sichtbar, auch seine ewige Kraft und Gottheit, so dass sie keine Entschuldigung haben« (Röm 1,21).

Wenn er also jene unentschuldbar nennt, die Gottes unsichtbares Wesen durch die geschaffenen Werke erkennen und sehen konnten, aber der Wahrheit kein Gehör schenkten, sondern ungerecht und gottlos blieben und nicht aus Unkenntnis, sondern – obwohl sie, wie es heißt, Gott erkannten – »ihn doch nicht als Gott verherrlichten oder ihm dankten« (Röm 1,18–20), wie viel unentschuldbarer sind dann diejenigen, die, in Gottes Gesetz unterrichtet, sich die Führer der Blinden zu sein getrauen und andere lehren, sich selbst aber nicht lehren, die predigen, dass man nicht stehlen dürfe, aber selbst stehlen, und was sonst der Apostel von ihnen sagt! Ihnen ruft er zu: »Deshalb bist du unentschuldbar, o Mensch, wer immer du seiest, wenn du richtest. Denn indem du einen anderen richtest, verurteilst du dich selbst. Du tust ja gerade das, worüber du richtest« (Röm 2,1).

Auch spricht der Herr selbst im Evangelium: »Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde« (Joh 15,22). Dies ist nicht so zu verstehen, als ob sie überhaupt keine Sünde hätten, da sie voll waren von anderen und großen Sünden; sondern es will sagen, dass sie ohne seine Ankunft jene Sünde, dass sie, obwohl sie ihn gehört, doch nicht an ihn glaubten, nicht gehabt hätten. Der Herr erklärt, dass sie jene Entschuldigung nicht haben, kraft welcher sie sprechen konnten. »Wir haben nicht gehört, darum haben wir nicht geglaubt«. Der menschliche Stolz hält sich ja im Vertrauen auf die Kraft des freien Willens für entschuldigt, wenn die Sünde von der Unwissenheit und nicht vom Willen herzurühren scheint.

Diese Entschuldigung meint die Heilige Schrift, wenn sie jene unentschuldbar nennt, die, wie sie nachweist, mit Wissen sündigen. Gottes gerechtes Gericht aber verschont selbst jene nicht, die nicht gehört haben. »Denn alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden ohne Gesetz zugrunde gehen« (Röm 2,12). Und obwohl sie selbst sich entschuldigen möchten, so lässt derjenige diese Entschuldigung nicht zu, der weiß, dass er den Menschen in Geradheit erschaffen und ihm das Gebot des Gehorsams gegeben hat und dass die Sünde, ebenso wie die Erbsünde, nur aus dem Missbrauche des freien Willens entstanden ist. Auch wird hierbei niemand ohne Sünde verdammt, denn es ist jene Sünde von einem auf alle übergegangen, von jenem einen, in dem alle zusammen gesündigt haben, noch ehe bei den einzelnen persönliche Sünden vorhanden waren. Und darum ist jeder Sünder unentschuldbar, entweder wegen der Erbsünde oder außerdem noch wegen persönlicher Sünden, mag er nun davon wissen oder nicht wissen, mag er urteilen oder nicht urteilen. Denn auch die Unwissenheit selbst ist bei jenen, die nicht erkennen wollten, unzweifelhaft Sünde, bei jenen aber, die nicht erkennen konnten, Strafe der Sünde. Deshalb ist in beiden Fällen keine gerechte Entschuldigung vorhanden, sondern die Verdammung ist gerecht.

Darum aber nennt die Heilige Schrift diejenigen unentschuldbar, die nicht aus Unwissenheit, sondern mit Wissen sündigen, damit sie auch nach dem Urteile ihres Stolzes, vermöge dessen sie auf die Kräfte ihres freien Willens großes Vertrauen setzen, sich als unentschuldbar erkennen. Denn in diesem Falle können sie sich nicht mit Unwissenheit entschuldigen, und doch wäre dies noch nicht die Gerechtigkeit, zu der nach ihrer Ansicht der freie Wille ausreicht. Jener aber, dem der Herr die Gnade des Wissens und des Gehorsams verliehen hat, spricht: »Durch das Gesetz erfolgt die Erkenntnis der Sünde« (Röm 3,20), und: »Die Sünde erkannte ich nicht anders als durch das Gesetz. Denn ich würde nicht von der Begierlichkeit wissen, wenn das Gesetz nicht sagte: ›Du sollst nicht begehren‹« (Röm 7,7). Auch will er den Menschen nicht als unbekannt mit dem gebietenden Gesetze, sondern als unwürdig der errettenden Gnade aufgefasst wissen, wenn er sagt: »Ich freue mich am Gesetze Gottes dem inneren Menschen nach« (Röm 7,22); aber obwohl er nicht nur das Gesetz Gottes erkannt, sondern auch an ihm sich erfreut, spricht er später: »Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich befreien von dem Leibe dieses Todes? Die Gnade Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn« (Röm 7,24–25).

Niemand also errettet von den Wunden jenes Würgers als die Gnade des Erlösers; niemand befreit die wegen der Sünde Verkauften von den Fesseln ihres Kerkermeisters als die Gnade des Erlösers.

So werden also alle, die sich wegen ihrer Sünden und Ungerechtigkeiten entschuldigen wollen, deshalb mit vollster Gerechtigkeit bestraft, weil alle, die gerettet werden, nur durch die Gnade errettet werden. Wenn aber jene Entschuldigung gerecht wäre, dann würde nicht mehr die Gnade, sondern die Gerechtigkeit befreien. Wenn aber die Gnade befreit, so findet sie in dem, den sie befreit, nichts Gerechtes, weder den Willen noch die Handlungsweise, nicht einmal die Entschuldigung. Wäre diese gerecht, so würde jeder, der sie gebraucht, nach Recht und nicht nach Gnade befreit werden. Wir wissen ja, dass durch die Gnade Christi auch einige von denen gerettet werden, die sprechen: »Warum beklagt er sich also? Denn wer widersteht seinem Willen?« (Röm 9,19). Wenn diese Entschuldigung gerecht ist, so werden sie nicht mehr durch unverdiente Gnade, sondern wegen der Gerechtigkeit dieser Entschuldigung gerettet. Wenn es aber die Gnade ist, durch die sie gerettet werden, so ist offenbar diese Entschuldigung nicht gerecht; dann ist es wahrhaft Gnade, wodurch der Mensch gerettet wird, wenn sie nicht aus Gerechtigkeitspflicht gespendet wird. An jenen also, die sprechen: »Warum klagt er noch? Wer widersteht seinem Willen?« geschieht nichts anderes, als was im Buche Salomons geschrieben steht: »Die Torheit des Mannes verdirbt ihm den Weg; gegen Gott aber murrt er in seinem Herzen« (Spr 19,3).

Obwohl also Gott die Gefäße des Zornes zum Verderben bereitet, um seinen Zorn zu offenbaren und seine Macht zu zeigen, vermöge welcher er auch die Bösen zum Guten gebraucht, und um den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit kundzutun, die er zur Ehre bildet, die aber nicht dem verdammlichen Stoffe gebührt, sondern durch die Freigebigkeit seiner Gnade verliehen wird, so wußte doch Gott an diesen Gefäßen des Zornes, die wegen der Verdammlichkeit des Stoffes zur gebührenden Schmach bereitet sind, d.h. an den Menschen, die zwar wegen der natürlichen Güter erschaffen, aber wegen der Sünde zur Strafe bestimmt sind, die von der Wahrheit mit allem Rechte verworfene Ungerechtigkeit zu verdammen, nicht aber diese selbst zu vollbringen. Denn wie die ohne Zweifel lobenswerte menschliche Natur im göttlichen Willen ihren Grund hat, so hat die unstreitig verdammenswerte Sünde im Willen des Menschen ihren Grund. Dieser Wille des Menschen hat entweder die Erbschuld auf die Nachkommen gebracht, die, als er sündigte, in ihm eingeschlossen waren, oder die übrigen Sünden sich zugezogen, da jeder für sich ein schlechtes Leben führte. Aber weder von dieser Erbschuld noch von jenen Sünden, die ein jeder in seinem eigenen Leben, ohne es zu erkennen oder ohne es erkennen zu wollen, aufhäuft oder auch trotz der Belehrung durch das Gesetz infolge fortgesetzter Übertretung zum Übermaß bringt, auch von diesen wird niemand befreit und niemand gerechtfertigt außer vermittels der Gnade Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, der uns erbarmungsvoll Liebe und Gebet und Erfolg unseres Gebetes verleiht, bis er alle unsere Schwachheiten heilt, unser Leben vom Verderben errettet und uns in Erbarmung und Gnade krönet.

Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 6)

Im folgenden Abschnitt (S. 353–360) betont Augustinus nach einmal anhand verschiedener Themen und Bibelstellen, dass uns Menschen keine Verdienste vor Gott gerecht machen können. Sogar das ewige Leben, von vielen als Lohn für ein gutes Leben verstanden, ist unverdiente Gnade.

Augustinus: Nicht Verdienst, sondern Gabe des Geistes

Niemand kann also auf die rechte Weise Weisheit und Verstand gebrauchen, niemand auf die rechte Weise durch Rat und Stärke sich auszeichnen, niemand Frömmigkeit und Wissenschaft miteinander verbinden, niemand mit keuscher Furcht Gott fürchten, wenn er nicht den Geist der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Wissenschaft und Frömmigkeit und Gottesfurcht empfangen hat. Niemand kann ferner wahre Tugend, aufrichtige Liebe, gottesfürchtige Enthaltsamkeit besitzen außer durch den Geist der Tugend, der Liebe und der Enthaltsamkeit. Ebenso wird auch niemand ohne den Geist des Glaubens in rechter Weise glauben, noch ohne den Geist des Gebetes zu seinem Heile beten. Doch ist hierbei nicht etwa eine Vielheit von Geistern anzunehmen, »sondern dies alles wirket ein und derselbe Geist, indem er jedem, wie er will. Eigentümliches mitteilt«. Denn »der Geist wirkt, wie er will« (Röm 8,27ff), aber freilich – das muss man zugestehen – in anderer Weise steht er bei, wenn er noch nicht in der Seele wohnt, in anderer, wenn er bereits darin wohnt. Denn wenn er noch nicht in der Seele wohnt, so hilft er, dass man zum Glauben gelangt; wohnt er aber bereits in der Seele, so unterstützt er solche, die bereits gläubig sind.

Wo bleibt also das Verdienst des Menschen vor der Gnade, durch das er die Gnade empfangen könnte, da jedes gute Verdienst von unserer Seite nur durch die Gnade bewirkt wird und Gott, wenn er unsere Verdienste krönt, nichts anderes krönt als seine eigenen Gaben? Denn wie wir im Anfange die Gnade des Glaubens erlangt haben, nicht weil wir gläubig waren, sondern dass wir es werden, so wird uns am Ende, wo das ewige Leben eintritt, Gott krönen, wie geschrieben steht, »in Erbarmung und Barmherzigkeit« (vgl. Jer 42,12). Nicht umsonst also wird von Gott gesungen: »Und seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen«, sowie auch: »Seine Barmherzigkeit wird mir nachfolgen«. Darum wird auch das ewige Leben selbst, das wir am Ende ohne Ende besitzen werden und das also allerdings nach vorausgegangenen Verdiensten erteilt wird, doch die Rücksicht darauf, dass diese Verdienste, für die man es erlangt, nicht von uns aus eigener Kraft erworben, sondern in uns durch die Gnade gewirkt wurden, selbst Gnade genannt; offenbar nur aus dem Grunde, weil es unverdient erteilt wird. Zwar wird es auch als Lohn für Verdienste gegeben, aber die Verdienste selbst, für die es verliehen wird, sind ein Geschenk. Für unsere Behauptung aber, dass auch das ewige Leben eine Gnade genannt wird, haben wir bei demselben erhabenen Verteidiger der Gnade, bei dem Apostel Paulus, die Stelle: »Der Sold der Sünde ist der Tod; Gnade Gottes aber ist das ewige Leben in Jesus Christus, unserem Herrn« (Röm 6,23).

Beachte, bitte, wie kurz gefasst und sorgfältig gewählt diese Worte sind; doch bei ernstlicher Erwägung wird sich das Dunkel dieser Frage einigermaßen lichten. Nachdem gesagt ist: »Der Sold der Sünde ist der Tod«, wer würde es da nicht für einen sehr passenden und folgerichtigen Nachsatz halten, wenn es weiter hieße: »Der Sold der Gerechtigkeit aber ist das ewige Leben«? Es ist ja Wahrheit, dass, wie der Sündenschuld der Tod gleichsam als Sold erteilt, so dem Verdienste der Gerechtigkeit gleichsam als Sold das ewige Leben gespendet wird. Oder wenn der Apostel von Gerechtigkeit nicht reden wollte, so hätte er das Verdienst des Glaubens erwähnen können, da »der Gerechte aus dem Glauben lebt« (Hab 2,4). Deshalb heißt auch das ewige Leben an sehr vielen Stellen der Heiligen Schrift ein Lohn; nirgends hingegen ist die Gerechtigkeit oder der Glaube als Lohn bezeichnet, weil der Gerechtigkeit oder dem Glauben der Lohn erteilt wird. Was aber für den Arbeiter der Lohn, das ist für den Soldaten der Sold.

Der heilige Apostel aber kämpft gegen den Stolz, der in einem so hohen Grade bei allem Großen sich einzuschleichen sucht, dass ihm selbst, wie er sagt, ein Satansengel gegeben wurde, der ihn mit Fäusten schlug, damit sich nicht sein Nacken stolz erhebe (2Kor 12,7). Da er also mit allem Eifer gegen diese Pest des Stolzes kämpft, sagt er: »Der Sold der Sünde ist der Tod«. Mit Recht nennt er ihn Sold, weil er verschuldet ist, weil man ihn nach Gebühr empfängt, weil er nach Verdienst gegeben wird. Damit sodann die Gerechtigkeit sich nicht wegen eines menschlichen Tugendverdienstes erhebe, so führt er, während die Sünde unzweifelhaft ein menschliches Missverdienst ist, nicht den Gegensatz durch, indem er etwa sagt: »Der Sold der Gerechtigkeit ist das ewige Leben«, sondern er sagt: »Gnade Gottes ist das ewige Leben«. Und damit man es nicht etwa auf irgendeinem anderen Wege ohne den Mittler suche, fügt er bei: »In Jesus Christus, unserem Herrn«, als wollte er sagen: »Wenn du hörst, dass der Sold der Sünde der Tod ist, was schickst du dich an, dich zu erheben, o menschliche Nichtgerechtigkeit, ja mit dem Namen der Gerechtigkeit prunkende Hoffart? Was schickst du dich an, dich zu erheben und das dem Tode entgegengesetzte ewige Leben gleichsam als schuldigen Sold einzufordern? Die wahre Gerechtigkeit ist es, der das ewige Leben gebührt. Wenn aber die Gerechtigkeit wahr ist, so kommt sie nicht von dir, sondern von oben herab, vom Vater der Lichter. Wenn du sie überhaupt hast, so hast du sie nur, weil du sie empfangen hast. Denn welche Güter hast du, die du nicht empfangen hättest? Darum, o Mensch, wenn du das ewige Leben empfangen wirst, so ist dies zwar der Sold der Gerechtigkeit, aber für dich ist es Gnade, da für dich überhaupt die Gnade die Gerechtigkeit ist. Das ewige Leben würde dir ja wie eine Schuldigkeit gegeben werden, wenn du von dir selbst jene Gerechtigkeit hättest, der es gebührt. Nun aber haben wir von seiner Fülle nicht nur jene Gnade empfangen, durch die wir jetzt in unseren Bemühungen gerecht bis ans Ende leben, sondern auch um dieser Gnade willen die Gnade, nach diesem Leben ohne Ende in Ruhe zu leben. Nichts Heilbringenderes glaubt der Glaube, weil auch der Verstand nichts Wahreres findet. Und wir müssen hören auf das Wort des Propheten, der spricht: »Wenn ihr nicht glaubet, werdet ihr nicht verstehen« (Jes 7,9 nach LXX).

»Aber«, sagt Pelagius, »die Menschen, die nicht gut und gläubig leben, werden sich entschuldigen und sprechen: Was haben wir verbrochen, wenn wir ein schlechtes Leben führen, da wir die Gnade nicht empfangen haben, mit der wir ein gutes Leben führen könnten?« Die ein schlechtes Leben führen, können nicht mit Wahrheit sagen, dass sie nichts Böses getan hätten. Denn wenn sie nichts Böses tun, so leben sie gut; wenn sie aber schlecht leben, so leben sie von sich aus schlecht, entweder wegen der ihnen anhaftenden Erbschuld oder weil sie außerdem persönliche Sünden begehen. Wenn sie aber »Gefäße des Zornes sind, die zum Verderben bereitet wurden« (Röm 9,22), so sollen sie es sich zuschreiben, was ihnen nach Gebühr zuteil wird; sind sie doch aus jenem Stoffe gemacht, den Gott wegen der Sünde des einen, in dem alle gesündigt haben, nach Recht und Gerechtigkeit verdammt hat. Wenn sie aber Gefäße der Barmherzigkeit sind, denen Gott, obwohl sie aus demselben Stoffe gemacht sind, die verdiente Strafe nachlassen wollte, so mögen sie nicht sich groß machen, sondern Gott preisen, der ihnen unverdiente Barmherzigkeit erwiesen hat; sollten sie etwa an­derer Ansicht sein, so wird ihnen Gott auch dies noch zu erkennen geben.

Endlich: Auf welche Weise werden sie sich entschuldigen? Offenbar auf jene Art, auf die der Apostel, gleichsam in ihrem Sinne sprechend, sich selbst einen Einwand macht, in­dem er sie sagen lässt: »Warum klagt er also? Denn wer widersteht seinem Willen?« (Röm 9,19). Das will also sagen: »Warum beklagt man sich über uns, dass wir Gott durch unser schlechtes Leben beleidigen, da niemand seinem Willen widerstehen kann und er uns durch Verweigerung seiner Barmherzigkeit verhärtet hat?« Wenn sie sich also nicht schämen, mit dieser Entschuldigung nicht uns, sondern dem Apostel zu widersprechen, warum sollte es uns zuviel sein, ihnen immer und immer wieder das Wort des Apostels vorzuhalten: »O Mensch, wer bist du, dass du Gott zur Rede stellen willst? Spricht etwa das Gebilde zu seinem Bildner: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht die Macht, aus demselben Stoffe – der offenbar nach Recht und Gerechtigkeit verdammt ist – das eine Gefäß aus erbarmender Gnade zu verdienter Ehre zu bilden, das andere aber aus gerechtem Zorne zur verdienten Schmach, um den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen seiner Barmherzigkeit kundzutun« (Röm 9,20–23) und zu zeigen, welche Gnade er ihnen erweist, während die Gefäße des Zornes jene Strafe empfangen, die alle in gleicher Weise verdient hatten? Es genüge unterdessen dem Christen, der noch im Glauben lebt und noch nicht die Vollendung sieht, dessen Erkennen nur Stückwerk ist, zu wissen und zu glauben, dass Gott niemanden errettet außer aus freier Barmherzigkeit durch unseren Herrn Jesus Christus und niemanden verdammt außer nach vollkommenster Gerechtigkeit und Wahrheit durch unseren Herrn Jesus Christus. Warum aber Gott den einen errettet, den anderen aber nicht, wer es vermag, der erforsche diesen tiefen Abgrund seiner Gerichte, hüte sich jedoch vor dem Sturze. »Denn ist etwa bei Gott eine Ungerechtigkeit?« (Röm 9,14). Das sei ferne! Aber »unerforschlich sind seine Gerichte und unbegreiflich seine Wege« (Röm 11,33).

Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 5)

Augustinus führt in seinem Brief 194 (S. 349–351) weiter aus, dass Gott Gebete wirklich erhört, aber auch das Gebet des Glaubens nicht etwas ist, was wir Menschen unserem eigenen Vermögen zuschreiben sollten. Der Glaube kommt aus der Predigt des Evangeliums. Obwohl viele das Wort hören, glauben nicht alle. Gottes Ratschluss und seine Gerichte sind unausforschlich, aber Gott ist deshalb nicht ungerecht.

Im nächsten Abschnitt (S. 351–353) betont Augustinus, dass alles Gute Gnadengeschenk ist.

Augustinus: Alles Gute haben wir empfangen

Der Glaube also zieht uns zu Christus. Würde er uns nicht als ein unverdientes Geschenk verliehen, so würde nicht Christus selbst sprechen: »Niemand kommt zu mir, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht« (Joh 6,44). Darum spricht er gleich darauf: »Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und Leben. Aber es sind einige unter euch, die nicht glauben« (Joh 6,64–65) Sodann fügt der Evangelist bei: »Denn Jesus wußte von Anfang an, wer die Glaubenden seien und wer ihn verraten würde«. Und damit niemand meine, die Glaubenden ständen in einer solchen Beziehung zu seinem Vorauswissen, wie die Nichtglaubenden, das heifjt, es würde ihnen der Glaube nicht von oben verliehen, sondern nur ihr Wille im voraus erkannt, fügt er zugleich bei: »Und er sprach: ›Deshalb habe ich euch gesagt, daß niemand zu mir kommt, wenn es ihm nicht von meinem Vater gegeben ist‹« (Joh 6,66). Daher kam es, daß einige von denen, die seine Rede über sein Fleisch und Blut gehört hatten, geärgert davongingen, einige aber glaubend dablieben, weil niemand zu ihm kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater und folglich auch vom Sohne und dem Heiligen Geiste gegeben ist. Denn die Gaben und Werke der unteilbaren Dreieinigkeit sind nicht getrennt. Indem aber der Sohn den Vater auf solche Weise ehrt, liefert er nicht den Beweis, daß irgendeine Verschiedenheit obwaltet, sondern gibt ein großes Beispiel der Demut.

Denn wenn wir sagen, der Glaube sei vorausgegangen und in ihm liege, was die Gnade verdient, welches Verdienst hatte dann der Mensch vor dem Glauben, wodurch empfing er ihn? Denn was hat er, das er nicht empfangen hätte? Hat er es aber empfangen, was rühmt er sich, gleich als hätte er es nicht empfangen? Denn wie er Weisheit, Verstand, Rat, Stärke, Wissenschaft, Frömmigkeit, Gottesfurcht nicht hätte, wenn er nicht nach dem Ausspruche des Propheten den Geist der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Wissenschaft, Frömmigkeit und Gottesfurcht empfangen hätte – wie er weiter Tugend, Liebe, Enthalt¬samkeit nicht hätte, wenn er nicht den Geist empfangen hätte, von dem der Apostel schreibt: »Denn ihr habt nicht empfangen den Geist der Furcht, sondern den Geist der Tugend, der Liebe und der Selbstbeherrschung» (2Tim 1,7), so hätte auch niemand den Glauben, wenn er nicht den Geist des Glaubens empfangen hätte, von dem derselbe Apostel sagt: »Da wir aber denselben Geist des Glaubens haben, wie geschrieben steht: ›Ich glaubte, darum redete ich‹, so glauben auch wir, und darum reden wir« (2Kor 4,13). Daß wir ihn aber nicht durch ein Verdienst erlangt haben, sondern durch die Barmherzigkeit dessen, der sich »erbarmt, wessen er will«, zeigt er ganz deutlich, wenn er von sich selbst sagt: »Ich habe die Gnade erlangt, treu zu sein« (1Kor 7,25).

Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 3)

Augustinus‘ Hauptaufmerksamkeit galt nicht dem Verhältnis von Glaube und Wissen, sondern der göttlichen Gnade. Einzigartig hat der Bischof das Thema »Gnade« autobiographisch in seinen Bekenntnissen erörtert. Für Augustinus ist es das Ziel des Menschen, Gott anzuhängen. Der Mensch ist allerdings unfähig, aus seinem Herzen heraus das ihm gesteckte Ziel zu erreichen. Sein durch die Sünde verdorbener Wille – »Wille« steht bei Augustinus für das Zentrum der Persönlichkeit, zieht ihn immer wieder auf sich selbst zurück. Die Eigenliebe wiegt so schwer, dass sie den Menschen wie ein Gefängnis einkerkert und knechtet. Indem Gott sich uns Menschen in Jesus Christus liebevoll zuwendet, werden diejenigen, die Christus vertrauen, mit ihrem Schöpfer versöhnt. Nach Augustinus kann allein Gott den ganz auf die Gnade angewiesenen Menschen aus der Macht der Sünde befreien.

Der Bischof hat in zahlreichen Werken sein Verständnis der Gnade Gottes begründet und erläutert. Ich möchte in den nächsten Tagen durch die auszugsweise Wiedergabe seines Briefes an Sixtus Einblicke in seine Argumentation gewähren. Zuvor aber einige Anmerkungen zur Entstehung des Briefes während der Auseinandersetzung mit dem Pelagianismus.

Der Pelagianismus geht auf den den ursprünglich aus Britannien stammende Pelagius (360–ca. 420) zurück. Er gelangte als Flüchtling nach Rom, wo er sich ab ungefähr 380 n. Chr. verschiedenen theologischen Studien widmete und ein beachtliches Ansehen erwarb. Wegen seiner strengen und enthaltsamen Lebensführung stand er bis zu seiner Verdächtigung als Irrlehrer im Ruf einer »nicht gewöhnlichen Frömmigkeit«. In einem Anhang zur Schrift De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum erwähnt Augustinus Pelagius erstmals namentlich und bezeichnet ihn noch als einen heiligen und ernsten Mann und hervorragenden Christen. Von der Askese geprägt, war er über das zügellose Leben der Menschen in Rom entsetzt und engagierte sich für eine Erneuerung des kirchlichen Lebens. Obwohl theologischer Laie, sprach Pelagius fließend Griechisch und las das Neue Testament in Koiné (Augustinus las Lateinisch). Sein auf die Bergpredigt und die christliche Vollkommenheit ausgerichteter Lebensstil traf das Bedürfnis gebildeter Christen. So konnte er sich mit der Zeit in Rom einen respektablen Freundeskreis unter den Aristokraten aufbauen.

Pelagius floh um 409 mit seinem Schützling Caelestius von Rom nach Nordafrika. Während er selbst von dort nach Palästina weiterreiste, verweilte Caelestius als Emigrant in Kathargo und löste gegen Ende des Jahres 411 den so genannten »pelagianischen Streit« aus, indem er im Rahmen einer »Taufdebatte« gegen die von Augustinus bereits entwickelte Ursündenlehre Stellung bezog.

Ohne den Pelagianismus hier näher zu erörtern, will ich kurz darstellen, was Caelestius damals vorgeworfen wurde. Die Anklageschrift gegen Caelestius gewährt uns nämlich Einblicke in die Positionen des Pelagius und die seiner Schüler, auch wenn Pelagius nicht exakt das behauptet haben mag, was dem Caelestius vorgeworfen wurde. Folgende sechs Punkte werden aufgezählt (Ich folge der Aufzählung von Bonner und Wermelinger): (1) Adam wurde von Gott sterblich erschaffen und wäre auch dann gestorben, wenn es keinen Sündenfall gegeben hätte. (2) Seine Sünde hätte nur ihm selbst geschadet, nicht aber der gesamten Menschheit. (3) Kinder hätten bei ihrer Geburt den gleichen Status wie Adam vor dem Fall und auch Ungetaufte empfingen ewiges Leben. (4) Die Menschen stürben weder durch Adams Tod oder Vergehen noch würden sie durch die Auferstehung Jesu auferstehen. (5) Dass Gesetz bringe Menschen gleichwie das Evangelium in das Himmelreich. (6) Vor dem zweiten Kommen von Jesus Christus habe es sündenfreie Menschen gegeben.

Augustinus warf Pelagius ein erheblich verkürztes Gnadenverständnis vor. In seinem Brief 188 schreibt er:

Und fürwahr ist nicht gering der Irrtum jener, die glauben, wir hätten aus uns selbst das, was an Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit, Frömmigkeit und Keuschheit in uns ist. Gott hätte uns nämlich so geschaffen, dass er uns – abgesehen von der Offenbarung rechten Wissens – darüber hinaus nicht hilft, unser Wissen über das rechte Tun auch liebend in die Tat umzusetzen. Nur in der menschlichen Natur und in der göttlichen Belehrung – behaupten sie – besteht die Gnade und Hilfe Gottes zum richtigen und gerechten Leben. Sie geben aber nicht zu, daß Gott uns hilft, den guten Willen, in dem das gerechte Leben besteht, zu besitzen und auch die Liebe selber, die unter allen Gaben Gottes so hervorragt, dass sie sogar »Gott« genannt wird (1 Joh 4,8), und ohne die in uns Gottes Gebot und Weisung überhaupt nicht erfüllt werden kann. Vielmehr behaupten diese Leute, dass wir selbst uns dafür aufgrund unserer eigenen Willensfreiheit genügen.

Papst Innozenz I. reagierte im Streit mit Pelagius zustimmend auf die Einwände von Augustinus: »Wer meint, er würde der göttlichen Gnade nicht bedürfen, erweist sich als ein Feind des katholischen Glaubens …« (Ep. 181,8). Die Stellungnahme seines Nachfolgers Zosimus fiel zunächst reservierter aus, da er von Caelestius hintergangen wurde. Ein Schreiben, das der karthagischen Synode im Mai 418 vorgelegt wurde, konnte Zosimus jedoch beruhigen und so wurde die Häresie des Pelagius erneut verurteilt.

Den Brief 194, aus dem ich in den nächsten Tagen zitieren werden, schrieb Augustinus nach diesen Vorgängen an den späteren Papst Sixtus. Was Augustinus über die Unverdientheit der Gnade, über die Ursünde und deren Schuldcharakter lehrt, wurde teilweise katholisches Glaubensgut und animierte besonders Reformatoren wie Martin Luther oder Johannes Calvin zur Wiederentdeckung der göttlichen Gnade. Viele Bibelstellenverweise und Argumente, die in dem Brief zu finden sind, wurden in der Reformationszeit wieder »ausgegraben«.

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