Postmoderne

»Ich esse gerade ein Eis«

Soziale Netzwerke liefern uns die Welt frei Haus. Aber die Nähe ist trügerisch. Von der wirklichen Welt sind nur noch Tweeds wie »Ich esse gerade ein Eis« übrig geblieben. Uns droht die Verbitterung.

Hier ein Artikel von Jörg Wittkewitz über die postmoderne Völkerwanderung in einer Kultur des wahren Mülls:

Dank Googles Algorithmen bestimmen wir den Preis der Anzeigen für Online-Magazine und Suchoberflächen durch unser eigenes Verhalten im Netz. Gleichzeitig zementieren wir damit auch unsere eigene Sicht auf die dort vermittelte Sicht auf die Welt. Denn seit Günther Anders und Jean Baudrillard ist es offensichtlich, dass wir nur noch einen medial aufbereiteten Blick auf die Welt haben. Und der direkte Kontakt ist nicht erst durch die digitalen Codes verstellt worden. Anders hatte in seinem Buch »Die Antiquiertheit des Menschen« Mitte der fünfziger Jahre am Beispiel des Fernsehens erkannt, dass uns die Welt nunmehr als Ware mit ästhetisch geformten Stilmitteln präsentiert wird. Der Warencharakter der künstlichen Welt drückt sich aber besonders darin aus, dass man per Knopfdruck darüber entscheiden kann, ob und wann man die Welt nun sehen will oder eben nicht.

Was damals die Kanalwählschalter der ersten Fernseher waren, ist heute unsere Computer-Maus. Sie wählt den Kanal aus, der ein harmonisches Übereinstimmen mit unseren Wünschen liefern kann. So lesen konservativ eingestellte Leser Zeitungen, Bücher und Websites, die diesen Lebensstil begründen können. Progressive Menschen bevorzugen die Herausforderungen mit dem ständigen Blick auf die drohende Zukunft. Dazwischen befindet sich eine große Menge von Menschen, die durch den modernen Hochleistungs-Lebensstil so erschöpft sind, dass sie den Zeitpunkt des Tiefschlafs nur noch mit künstlicher Berieselung herauszögen können. In diesem, dem Wachkoma ähnlichen Zustand sind sie höchstens noch in der Lage, kohlenhydratreiche Kost und Unterhaltung zu konsumieren.

Mehr: www.faz.net.

Der Medienversteher: Marshall McLuhan

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Marshall McLuhan

»Das Medium ist die Botschaft« – mit diesem Satz wurde der Medientheoretiker Marshall McLuhan in den sechziger Jahren weltberühmt. Am heutigen Donnerstag wäre er hundert Jahre alt geworden. Seine Thesen polarisieren noch immer.

Ohnehin war McLuhan schon zu seiner Zeit als akademischer Lehrer untragbar, und er wäre es unter heutigen Modulverantwortlichen und Doktoratsprogramm-Strukturierern umso mehr. Niemals deckte er in Vorlesungen »ein Thema« ab, niemals gab es Zusammenfassungen zum Mitschreiben; für sorgfältig recherchierte und genau belegte Hausarbeiten gab er schon aus Prinzip null Punkte, und statt Klausuren kündigte er am liebsten »ein lockeres Gespräch« an, »in dem Sie mich mit Ihrer Textkenntnis überwältigen werden«. Ganze sieben Doktorarbeiten hat er in dreißig Dienstjahren betreut. Umso mehr gilt vielleicht sein Ausspruch: »Wir wissen nicht, wer das Wasser entdeckt hat, aber mit Sicherheit war es kein Fisch.«

Gerade deshalb war McLuhan ein kurzes Jahrzehnt lang eine Kultfigur. Als Produkt wurde er, der Werbung einmal als die einzig lohnende Quelle zum Verständnis der Gegenwart bezeichnet hatte, selbst von einem Werbefachmann vermarktet: in Form des »Distant Early Warning Line Newsletters«, den eine »Human Development Corporation« nahe den Werbern an der Madison Avenue vertrieb. Dort sollte man erfahren, warum der Computer das Ende der Geschichte bedeute und warum das Nasa-Programm bereits obsolet sei, und man konnte Spielkarten mit McLuhan-Zitaten zur Lösung eigener Probleme bestellen. »Read them yourself – at our risk!« Und sie wurden gelesen: 346 Formulierungen sind in den Sprachschatz des »Oxford English Dictionary« eingegangen.

Hier der Artikel von Claus Pias: www.faz.net. Siehe auch hier.

Krumme Wege der Vernunft

Fynn Ole Engler und Jürgen Renn stellen für die FAZ den Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck (1896 bis 1961) vor. Sein Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) enthält etliche Thesen über die soziologischen Dimensionen von Wissenschaft, die den Logischen Empirismus des Wiener Kreises infrage stellten. Thomas Kuhn sollte später mit ähnlichen Behauptungen Ruhm erlangen.

Doch wie verhält sich eigentlich Schlicks Versuch, den Anspruch der Wissenschaft auf Wahrheit zu rechtfertigen, zu den historischen und sozialen Prozessen der Entwicklung der Wissenschaft, die für Fleck im Vordergrund standen? Lässt sich überhaupt beides zusammendenken: der Anspruch auf Rationalität und die Tatsache, dass Wissenschaft durch und durch ein Teil unserer unvollkommenen, stets im Wandel begriffenen Menschenwelt ist? Diese Fragen sind nicht nur für eine und dazu noch kontrafaktische Geschichtsschreibung relevant, sondern gewinnen gerade mit Blick auf die immer noch zunehmend wichtige Rolle der Wissenschaft für die Zukunft der Menschheit an Brisanz.

Für einen die beiden Perspektiven vereinigenden Ansatz spricht immerhin, dass einige der Fragen Flecks auch in der Nachfolgetradition des »Wiener Kreises« eine Rolle gespielt haben, bis hin zu Thomas Kuhn, der selbst direkt auf Fleck zurückgegriffen hat und ihm wohl vor allem auch seine Sicht auf die soziologische Dimension der Wissenschaft verdankt. Indes vermochten weder Fleck noch Kuhn, das Verhältnis zwischen dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft und der historischen Veränderlichkeit selbst wissenschaftlicher Grundbegriffe wie Raum oder Zeit durch wissenschaftliche Revolutionen zu klären. Allerdings, nach Kuhn vollziehen sich diese Umbrüche, jedenfalls in ihrer entscheidenden Phase, geradezu wie religiöse Bekehrungserlebnisse, durch das ein neues, mit dem alten nicht mehr zu vereinbarendes Paradigma den Platz des alten einnimmt. Fleck hingegen sah hier langfristige komplexe Prozesse am Werk, die er nicht nur mit Hilfe soziologischer Kategorien zu klären versuchte, sondern auch mit Rückgriffen auf Einsichten der Psychologie.

Hier treffen sich die Ansätze von Schlick und Fleck auf eine überraschende Weise, die jedoch in den nachfolgenden Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie keine so zentrale Rolle mehr gespielt hat, obgleich Kuhn ihre Bedeutung noch sah. Beide orientierten sich nicht nur an der Naturwissenschaft ihrer Zeit, sondern auch an der zeitgenössischen Denkpsychologie, etwa der Gestaltpsychologie, über die Einstein 1922 an Schlick schrieb: »Ich habe ein wenig den Eindruck, dass in Deutschland gegenwärtig die Psychologie gegenüber der Erkenntnistheorie etwas vernachlässigt wird.«

Hier: www.faz.net.

»Als Christ brauche ich keine Gemeinde«

In den letzten Jahren haben etliche Publikationen die Bedeutung einer Gemeindeanbindung relativiert (vgl. z.B. Wayne Jacobsen o. Dave Coleman). Die Botschaft lautet ungefähr so: Auf authentische Beziehungen kommt es an, die Gemeinde als Körperschaft spielt letztlich nur eine sehr untergeordnete Rolle. Manchmal steht die Gemeinde einem erfüllten Christenleben sogar im Weg.

Nun weiß ich, dass einige Christen wirklich schmerzhafte Gemeindeerfahrungen gemacht haben und es nicht immer einfach ist, eine »gesunde Gemeinde« zu finden. Aber ist es wirklich eine Lösung, ohne Gemeinde zu leben? Ist es nicht eher Flucht oder Ausdruck einer postmodernen Ich-Orientierung?

Hanniel hat einige Gedanken zum Thema zusammengestellt: www.hanniel.ch.

Völlig Gaga

Lady Gaga ist in den Feuilletons der Hochkultur angekommen. Sie tritt auf als Fleisch-Klops, tanzende Zahnbürste, als Porno-Rotkäppchen und jetzt erscheint ihr neues Album »Born this Way«.
Nicht jeder wird sich – das kann ich gut verstehen – für die illustre Dame interessieren. Aber Gaga verstehen heißt, Pop (ein wenig) zu verstehen. SWR2 Kontext hat am 16. Mai 2011 eine informative Sendung über Lady Gaga als Gesamtkunstwerk des Internetzeitalters ausgestrahlt. Elisabeth Brückner spricht dort mit Udo Dahmen, dem Leiter der Popakademie Mannheim.

Hier ein Mitschnitt der Sendung, die zum besseren Verständnis der Crossover-Kultur beiträgt:

[podcast]http://mp3-download.swr.de/swr2/kontext/2011/05/16/swr2-kontext-20110516-1905-voellig-gaga.6444m.mp3[/podcast]

Die postmoderne Ich-Orientierung als Krisis

Für den von mir bereits schon einmal zitierten Rainer Funk ist die Ich-Orientierung das herausragende Kennzeichen des postmodernen Menschen. Funk schreibt (Ich und Wir, S. 55):

Der postmoderne Ich-Orientierte strebt leidenschaftlich danach, frei, spontan, unabhängig und ohne Begrenzungen durch Vor- und Maßgaben selbst bestimmen zu können. Das entscheidende Movens ist die postmoderne Lust an der selbstbestimmten, ich-orientierten Erzeugung von Wirklichkeit, und zwar der den Menschen umgebenden Wirklichkeit, die er sich selbst schafft, ebenso wie der Wirklichkeit, die er selbst ist, indem er sich selbst erschafft – nach dem Motto: »Nur wenn du etwas aus dir machst, bist du was!« Diese Lust an einer ich-orientierten Wirklichkeitserzeugung ist der Grund, warum diese Gesellschafts-Charakterorientierung postmoderne Ich-Orientierung genannt wird.

Die Grundüberzeugung postmoderner Ich-Orientierung lautet: »Lass dir von niemandem sagen, wer du bist. Du bist der, der du bist.« (»Bleib du du!« war schon vor Jahren der Slogan der Zitronenlimonade »Sprite«.) Nur in der radikalen Ich-Orientierung einer spontanen und freien Selbstsetzung und Selbstinszenierung lässt sich das Authentische und Eigene postmodern in Erfahrung bringen. Alles ist beliebig. Mit jedem und allem kann und soll spielerisch umgegangen werden. Es gibt nichts, was es nicht gibt, und deshalb geht alles. Und alles, was geht, ist o.k. Es gibt nichts, was nicht im Fluss wäre. Alles ist fließend. Keiner hat das Recht zu sagen, was gut oder böse, richtig oder falsch, gesund oder krank, echt oder unecht, realitätsgerecht oder illusionär ist. Was zählt, ist allein die ich-orientierte Erzeugung von Wirklichkeit: »dass ich ich selbst bin«.

Auch wenn es hierzu sehr viel zu sagen gäbe, möchte ich kurz anregen, diese Ich-Orientierung mal aus der Perspektive der Logotherapie wahrzunehmen. Die Logotheraphie geht ursprünglich auf Viktor E. Frankl zurück (1905–1997), der davon überzeugt war, dass wir Menschen existentiell auf Sinn ausgerichtet sind und ein nicht erfülltes Sinnerleben zu seelischen Erkrankungen führt (hier gibt es übrigens eine gut lesbare Einführung zu Frankl von Hanniel).

Frankl behauptet, dass Sinn gefunden werden muss. Dieser Sinn hat einen objektiven Charakter. Wir können ihn entdecken, aber er steckt nicht in uns (Konzept der Selbstverwirklichung) und kann auch nicht von uns erzeugt werden (Konzept des Existentialismus). Er beschreibt die Transzendenz des Menschen so (zitiert bei Hanniel, S. 12):

Der Mensch ist im Grunde ein Wesen, das nach Sinn strebt – einen Sinn zu finden und zu erfüllen. Er will nicht nur sich Triebe und Bedürfnisse erfüllen. Der Mensch weist über sich selbst hinaus. Er ist ausgerichtet auf die Welt, in der es gilt, einen Sinn zu erfüllen oder anderen liebend zu begegnen.

Wenn der Mensch seinen Platz und damit die Möglichkeit, sich verantwortungsvoll in diese Welt einzufügen, findet, dann lebt er ein erfülltes Leben, sogar dann, wenn es, wie bei Frankl, schweres Leid mit einschließt (Frankl war Jude und wurde deportiert. Während seine Familie die Konzentrationslager nicht überlebte, wurde er selbst von den Amerikanern 1945 aus einem Außenlager des KZ Dachau befreit).

In einem kurzen Interview, dass ich hier wiedergebe, erläutert Frankl das transzendente Wesen des Menschen anhand eines Bildes. Das gesunde Auge, so meint er, nimmt die Welt, andere Menschen etc. wahr, nicht sich selbst. Wenn das Auge sich selbst wahrnimmt, dann »stimmt etwas nicht«.

Wie würde er wohl einen Ich-orientierten Lebensentwurf einordnen, bei dem das Auge nicht einmal mehr sich selbst, sondern nur noch eine Projektion des Selbst wahrnimmt? Ist das nicht geradezu das Gegenteil von dem, was er als »Selbstvergessenheit« oder das »sich selbst hinter sich lassen« bezeichnet?

Hier das kurze Gespräch:

Zeit für Gottes Gegenwart

Kürzlich habe ich mal wieder ein älteres Buch aus dem Regal genommen, um ein wenig darin zu stöbern. Die Festschrift zum 70. Geburtstag von Jürgen Moltmann erschien 1996 unter dem Titel Die Theologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend (Gütersloh: Chr. Kaiser).

Das Buch enthält Aufsätze renommierter Theologen, darunter Christian Link, Wolfhard Pannenberg, Nicholas Woltersdorff oder Hans Küng. Die Qualität der Beiträge ist schwankend. Der gelehrte Beitrag von Miroslav Volf spiegelt den Einfluss von George Lindbeck, Michael Foucault und Nancey Murphey auf seine Theologie. Im Zeichen der Heiligen Geistin steht der Aufsatz von Elisabeth Moltmann-Wendel, der Ehefrau von Jürgen Moltmann (die übrigens über den Theologiebegriff von Hermann Friedrich Kohlbrügge promovierte). Der Titel »Wohnt in meinem Fleisch nichts Gutes?« verrät viel. Die Zeit sei gekommen, dass der feministische Spiritualismus die frauen- und körperfeindlichen Bahnen der paulinischen Theologie aufbreche und an der anfänglichen Jesusbewegung anknüpfe. »Wir brauchen eine Frauenkirche« (S. 323).

Bemerkenswert finde ich den Aufsatz »Zeit für Gottes Gegenwart« von Ingolf U. Dalferth (Universität Zürich). Sein Text enthält so viele gute Anstöße, dass ich einige längere Zitate wiedergebe:

Wir leben in einer schnellebigen Zeit. Keine andere Generation hat so viele Aufbrüche in die Zukunft erlebt wie wir, und keine hat ihre Aufbrüche in so schneller Folge wieder korrigieren und revidieren müssen. Trägt morgen noch, was heute gilt, wenn doch schon heute kaum mehr hilft, was gestern galt? Immer schneller entschwindet die Vergangenheit, und unsere Schwierigkeiten wachsen, aus ihr für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Wir sind skeptisch geworden und trauen unseren Traditionen nicht mehr. Erweisen sie sich doch zunehmend als untauglich, die Probleme unserer Gegenwart zu begreifen oder gar zu lösen, weil sie in Lebenserfahrungen gründen, die nicht die unserer Zeit und Epoche sind. Uns haben sie daher immer weniger zu sagen. Sie werden uns täglich fremder. (S. 146)

Gott ist gegenwärig und in seiner Liebe hier und jetzt wirksam – aus dieser Einsicht lebt der Glaube, und das und nichts anderes ist das wirklich Wesentliche, das die Kirchen auch heute den Menschen in aller Deutlichkeit zu sagen schuldig sind. Das ist keine harmlose Botschaft, denn diesen Glauben gibt es nicht ohne die permanente Anfechtung, die der oft unerträgliche Widerspruch unserer faktischen Wirklichkeitserfahrung zu diesem Glauben darstellt: Wenn Gott als Liebe gegenwärtig wirksam ist, wie kann unsere Welt und unser Leben dann so sein, wie sie sind? Ohne von Sünde und von einer Schöpfung zu reden, die noch nicht ist, was sie sein soll und sein wird, läßt sich die Glaubenswahrnehmung der gegenwärtigen Wirksamkeit von Gottes Liebe nicht öffentlich verantworten. Wer auf die Rede von Sünde, Schuld und Verhängnis verzichten will, verharmlost den Glauben und spricht ihm gerade das ab, was ihn auszeichnet: daß er aufgrund seiner Wahrnehmung der Gegenwart von Gottes Liebe höchst sensibel macht (oder doch machen sollte) für die vielfältigen offenen und verdeckten Widersprüche gegen Gottes Liebe in unserer Erfahrungswelt. Glaubende leiden an diesen Widersprüchen, suchen sie zu beseitigen und wissen doch, daß sie diese Widersprüche durch ihr eigenes Tun nicht aus der Welt schaffen können, weil sie weder die Folgen ihres Handelns zureichend kontrollieren noch die Voraussetzungen ihres Lebens umfassend in den Griff bekommen können. Glauben gibt es deshalb auch nicht ohne die Hoffnung auf Gottes eigene Vollendung dessen, was als Gegenwart seiner Liebe wahrgenommen wird und doch oft nur kontrafaktisch bekannt werden kann. (S. 151)

Die Bedeutung des Glaubens ist seine Wahrheit, und diese Wahrheit gilt für alle oder für niemand. Wenn Gott so gegenwärtig ist, wie die Christen glauben, dann haben es alle mit Gott zu tun, ob das von allen wahrgenommen wird oder nicht.

Einwände, die auf die Kontextualität des christlichen Glaubens, die angebliche Relativität seiner Wahrheit oder den autoritären Charakter seines Absolutheitsanspruchs verweisen, verwirren wohl zu unterscheidende Sachverhalte. Daß christlicher Glaube nur konkret und damit in kontextueller Bestimmtheit gelebt werden kann, macht seine Gültigkeit nicht abhängig von bestimmten Kontexten: Die Wahrheit christlichen Glaubenslebens hängt an der Wahrheit des Evangeliums, dem sich der Glaube verdankt, nicht umgekehrt. Es macht auch keinen Sinn zu sagen, dieser Glaube sei ›für mich wahr‹, aber nicht notwendig auch für andere. Was immer unter ›Wahrhei‹ verstanden wird: Wer sagt ›Das ist für mich wahr‹, sagt damit ›Ich glaube, daß es wahr ist‹, und beansprucht eben damit, daß es nicht nur für ihn, sondern auch für andere gilt. Die Wahrheit des Glaubens hängt nicht daran, daß sie geglaubt wird, sondern daß die Wirklichkeit so ist, wie geglaubt wird. Wenn aber wahr ist, daß Gott so gegenwärtig ist, wie der Glaube bekennt (nämlich als erbarmende und alles neu machende Liebe), dann gilt das universal, überall und immer und unbeschadet dessen, was wir davon halten oder wie wir uns dazu verhalten.

In diesem Sinn impliziert der Glaube an Gott eine realistische Einstellung zur Wirklichkeit. Damit ist er von grundlegend anderer Art als die postmoderne Attitüde, die vorgibt, zwischen Konstruktion und Wirklichkeit, Gott und unseren imaginativen Gottesbildern und Gottesvorstellungen nicht sinnvoll unterscheiden zu können. Wie immer, wenn eine halbe Wahrheit zur ganzen erklärt wird, wird damit alles falsch. Die richtige Einsicht in das unbegrenzte Diskurspotential der Sprache verführt dazu, sich von einer realistischen Einstellung zu den Wirklichkeiten, in denen wir leben, zu verabschieden. Daß damit eine der zentralen Errungenschaften aufgeklärten Denkens, die kritische Unterscheidung von Wahrheit und Macht, zunehmend unterminiert wird, wird meist nicht gesehen. Doch seit Sokrates gegenüber den Sophisten deutlich machte, daß die Wahrheit zu wissen etwas anderes sei als sich eine Meinung einreden zu lassen, war die Unterscheidung von Wahrheit und Macht für das europäische Denken grundlegend. An ihr hängen nicht nur Wissenschaft, Philosophie und Theologie im uns bekannten Sinn, sondern auch Moral, Politik und das Funktionieren demokratischer Gesellschaften. Auch wenn es in kaum einem Bereich völlig verläßliche Methoden zur Gewinnung von Wahrheitsgewißheit gibt, bedeutet das keineswegs, daß auf die kritische Frage nach der Wahrheit, nach dem, was unter allem Möglichen wirklich ist und in der Vielfalt des Gemeinten mit Recht Geltung beanspruchen kann, verzichtet werden könnte. Wo die damit anvisierten Unterscheidungen nicht mehr gemacht werden, wird verantwortliches Handeln und damit menschliches Leben unmöglich. Wo gehandelt wird, werden solche Unterscheidungen in Anspruch genommen, und in allen lebensrelevanten Bereichen wissen wir sie auch mehr oder weniger gut zu gebrauchen, was immer uns konstruktivistische Theoretiker einreden möchten. Versuchen wir aber nicht selbst nach bewährten Kriterien zwischen wahr und falsch, gültig und ungültig, möglich und wirklich zu unterscheiden, sondern überlassen das andern, wird Wahrheit mit der Meinung derer gleichgesetzt, die die Macht besitzen, oder – wie in unseren Gesellschaften – mit dem, was Mehrheiten glauben oder Medien glauben machen. Und wir sollten uns dann nicht wundern, daß in unseren Gesellschaften nicht mehr die Bemühung um Wahrheit und Wissen, sondern vor allem die Fähigkeit zählt, Sprache und Medien so zu benützen, daß Mehrheiten für die eigene Meinung oder die eigenen Interessen gewonnen werden. Wo die wirklichkeitserschließende Kraft der Sprache bestritten und ihr die Fähigkeit zur Referenz auf sprachunabhängige Wirklichkeit abgesprochen wird, steht zu befürchten, daß Wahrheit von Mehrheiten und Marktgesetzen abhängig gemacht wird. Selbst Religionen werden zunehmend nach diesem Muster betrachtet: als ein Markt der Möglichkeiten für Sinnangebote, aus denen wir nach unseren individuellen Wünschen und Bedürfnissen, aber nicht unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit und Unwahrheit auswählen. (S. 154–156)

Die Theologie der vergangenen Jahrzehnte hat nicht unwesentlich zu diesen Entwicklungen beigetragen. Sie hat weithin das methodologische Dogma übernommen, daß nicht Gottes Wirklichkeit und wirksame Gegenwart, sondern allein die religiösen Phänomene menschlicher Existenz und Geschichte auf rational vertretbare und akademisch respektable Weise erforscht werden können, und sie hat – oft ohne dies zu merken – mit den Methoden der entsprechenden Wissenschaften auch deren Vorurteile übernommen. Was sich nicht auf empirischem und historischem Weg thematisieren lasse, sei Sache privater Überzeugungen, individueller Wünsche und Vorstellungen oder vielleicht noch sozialer Bedürfnisse, auf jeden Fall etwas, das allenfalls Gegenstand sozialwissenschaftlicher, nicht aber theologischer Untersuchungen sein könne. Es ist höchste Zeit, daß sich die Theologie von diesem irreführenden methodologischen Dogma verabschiedet. Es gibt nichts, wovon sie reden oder was sie erforschen könnte, wenn es Gott nicht gibt. (S. 156)

Parzany: Tendenzen zur Beliebigkeit

Wie kann Mission in der Volkskirche praktiziert werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern auf ihrer Tagung vom 3. bis 8. April in München. Vor den 108 Synodalen sprach am 6. April unter anderem Pfarrer Ulrich Parzany  aus Kassel. Er kritisierte zunehmende »Tendenzen zur Beliebigkeit« in der gottesdienstlichen Verkündigung.

Wieder einmal trifft Ulrich Parzany den Nagel auf den Kopf:

Als Beispiele nannte er Themen wie die Jungfrauengeburt, das leere Grab nach der Auferstehung Jesu oder das Verständnis der Bibel als Wort Gottes. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer versuchten, die Menschen mit niedrigschwelligen Angeboten für die christliche Botschaft zu gewinnen. Doch verschwiegen sie dafür oft vermeintlich unbequeme biblische Inhalte und versuchten, zu vermeiden, dass sie damit Anstoß erregen. Zwar sei in der Konsumgesellschaft der Kunde König, und das gelte auch für den religiösen Supermarkt. »Aber Gott ist keine Ware«, so Parzany. In Fragen der gottesdienstlichen Liturgie oder des Amtsverständnisses seien Pastoren und Gemeinden hingegen relativ starr. »Umgekehrt sollte es sein: treu im Inhalt und flexibel in den Formen«, betonte Parzany und verwies auf den Apostel Paulus, der sagte: »Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.«

Hier mehr: www.idea.de.

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