Für den von mir bereits schon einmal zitierten Rainer Funk ist die Ich-Orientierung das herausragende Kennzeichen des postmodernen Menschen. Funk schreibt (Ich und Wir, S. 55):
Der postmoderne Ich-Orientierte strebt leidenschaftlich danach, frei, spontan, unabhängig und ohne Begrenzungen durch Vor- und Maßgaben selbst bestimmen zu können. Das entscheidende Movens ist die postmoderne Lust an der selbstbestimmten, ich-orientierten Erzeugung von Wirklichkeit, und zwar der den Menschen umgebenden Wirklichkeit, die er sich selbst schafft, ebenso wie der Wirklichkeit, die er selbst ist, indem er sich selbst erschafft – nach dem Motto: »Nur wenn du etwas aus dir machst, bist du was!« Diese Lust an einer ich-orientierten Wirklichkeitserzeugung ist der Grund, warum diese Gesellschafts-Charakterorientierung postmoderne Ich-Orientierung genannt wird.
Die Grundüberzeugung postmoderner Ich-Orientierung lautet: »Lass dir von niemandem sagen, wer du bist. Du bist der, der du bist.« (»Bleib du du!« war schon vor Jahren der Slogan der Zitronenlimonade »Sprite«.) Nur in der radikalen Ich-Orientierung einer spontanen und freien Selbstsetzung und Selbstinszenierung lässt sich das Authentische und Eigene postmodern in Erfahrung bringen. Alles ist beliebig. Mit jedem und allem kann und soll spielerisch umgegangen werden. Es gibt nichts, was es nicht gibt, und deshalb geht alles. Und alles, was geht, ist o.k. Es gibt nichts, was nicht im Fluss wäre. Alles ist fließend. Keiner hat das Recht zu sagen, was gut oder böse, richtig oder falsch, gesund oder krank, echt oder unecht, realitätsgerecht oder illusionär ist. Was zählt, ist allein die ich-orientierte Erzeugung von Wirklichkeit: »dass ich ich selbst bin«.
Auch wenn es hierzu sehr viel zu sagen gäbe, möchte ich kurz anregen, diese Ich-Orientierung mal aus der Perspektive der Logotherapie wahrzunehmen. Die Logotheraphie geht ursprünglich auf Viktor E. Frankl zurück (1905–1997), der davon überzeugt war, dass wir Menschen existentiell auf Sinn ausgerichtet sind und ein nicht erfülltes Sinnerleben zu seelischen Erkrankungen führt (hier gibt es übrigens eine gut lesbare Einführung zu Frankl von Hanniel).
Frankl behauptet, dass Sinn gefunden werden muss. Dieser Sinn hat einen objektiven Charakter. Wir können ihn entdecken, aber er steckt nicht in uns (Konzept der Selbstverwirklichung) und kann auch nicht von uns erzeugt werden (Konzept des Existentialismus). Er beschreibt die Transzendenz des Menschen so (zitiert bei Hanniel, S. 12):
Der Mensch ist im Grunde ein Wesen, das nach Sinn strebt – einen Sinn zu finden und zu erfüllen. Er will nicht nur sich Triebe und Bedürfnisse erfüllen. Der Mensch weist über sich selbst hinaus. Er ist ausgerichtet auf die Welt, in der es gilt, einen Sinn zu erfüllen oder anderen liebend zu begegnen.
Wenn der Mensch seinen Platz und damit die Möglichkeit, sich verantwortungsvoll in diese Welt einzufügen, findet, dann lebt er ein erfülltes Leben, sogar dann, wenn es, wie bei Frankl, schweres Leid mit einschließt (Frankl war Jude und wurde deportiert. Während seine Familie die Konzentrationslager nicht überlebte, wurde er selbst von den Amerikanern 1945 aus einem Außenlager des KZ Dachau befreit).
In einem kurzen Interview, dass ich hier wiedergebe, erläutert Frankl das transzendente Wesen des Menschen anhand eines Bildes. Das gesunde Auge, so meint er, nimmt die Welt, andere Menschen etc. wahr, nicht sich selbst. Wenn das Auge sich selbst wahrnimmt, dann »stimmt etwas nicht«.
Wie würde er wohl einen Ich-orientierten Lebensentwurf einordnen, bei dem das Auge nicht einmal mehr sich selbst, sondern nur noch eine Projektion des Selbst wahrnimmt? Ist das nicht geradezu das Gegenteil von dem, was er als »Selbstvergessenheit« oder das »sich selbst hinter sich lassen« bezeichnet?
Hier das kurze Gespräch:
Ich kann mir nicht helfen: da klingelt bei mir ganz laut Aleister Crowley: „Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz“.
@Ralf: Wo Du es schreibst? ;-o Ich glaube, dass auf diesem Gebiet, besonders von christlicher Seite, noch zu wenig geforscht wurde. Das wäre ein spannendes und wohl sehr erhellendes Thema. Hätte ich dafür Zeit und Geld (die wichtigen Quellenwerke sind ziemlich teuer), würde ich mich reinarbeiten. Nur eine (!) kurze Skizze: Ein wirklich maßgebender Denker der französischen Postmoderne und damit des Postmodernismus überhaupt ist Georges Bataille. Michael Foucault ist voll des Lobes, was Bataille anbetrifft. Bataille habe den Tod Gottes mit der Sexualität verbunden. Gott hat für diese Leute selbstverständlich nicht existiert. Aber es bestand die Aufgabe, Gott im „Bewusstsein“ der Menschen und der Kultur zu töten. Bataille thematisiere nun, so Foucault, eine „Erfahrung der Sexualität, die die Überwindung der Grenze mit dem Tod Gottes in sich verbindet“. Es gehe um Grenzüberschreitung, die es uns ermögliche, über den Tod Gottes zu lachen. Was die Mystik nicht vermochte, schafft die Erotik. Bataille: „Gott ist nichts, wenn er nicht die Überschreitung [o.… Weiterlesen »
Ich habe Frankls Bücher (nicht alle, aber wichtige) vor einiger Zeit mit großem Interesse gelesen. Was Frankl allerdings hier mit Selbsttranszendenz meint, verstehe ich nicht: Ein Mensch, der den Blick auf sich selbst verliert (es gibt ja Menschen ohne Selbstwahrnehmung, und da meine ich nicht die klinische Propriozeption, sondern so etwas wie „Das Bewusstsein meiner selbst, meiner Wirkung auf andere, muss meine Handlungen ständig begleiten können“), wird anderen Menschen doch oft gerade unerträglich!?
Es kann sich doch auch nicht um Selbst-Losigkeit handeln, was Frankl da so lobt. Selbstlosigkeit ja, aber doch nicht Selbst-Losigkeit im Sinne eines Identitätsverlusts, wie sie manche pseudochristlichen Psychokulte propagieren?
@Schandor: Eher Selbstfindung durch Dienst am Nächsten. Frankl betont, dass wir reifen, wenn wir unsere Aufgabe in der Welt wahrnehmen. Selbsttranszendenz also im Sinne von „von mir wegschauen“. Sicher will er keinen Abbruch der Selbstwahrnehmung. Die Selbstwahrnehmung reift dort, wo ich den anderen wahrnehme.
Liebe Grüße, Ron
[…] Nun weiß ich, dass einige Christen wirklich schmerzhafte Gemeindeerfahrungen gemacht haben und es nicht immer einfach ist, eine »gesunde Gemeinde« zu finden. Aber ist es wirklich eine Lösung, ohne Gemeinde zu leben? Ist es nicht eher Flucht oder Ausdruck einer postmodernen Ich-Orientierung? […]
[…] den von mir schon mehrmals zitierten Psychoanalytiker Rainer Funk ist die Ich-Orientierung das herausragende Kennzeichen des […]
@Ron
Ihre Klarstellung entspricht, soweit ich das beurteilen kann, genau der Intention v. Viktor Frankl. Frankl ist übrigens auch der Erfinder der „paradoxen Intention“.
Er hat Auschwitz überlebt, aber das Besondere an seinem „Aufenthalt“ in Auschwitz ist, dass er von allen Baracken, die es in Auschwitz gab, die meisten Überlebenden in „seiner“ Baracke hatte. Und wie: Er gab den Insassen seiner Baracke, trotz der aussichtslosen Lage, das Gefühl, dass ihr Leben dennoch einen Sinn hat und hat die Einzelnen wohl auch therapiert. Ob er religiös war, kann ich nicht sagen.
MfG
Rolf
@Rolf,
Im Nachlass von Viktor Frankl gab es u.a. ein sehr zerlesenes Altes Testament, und an den Anmerkungen von Frankl an der Seite konnte man sehen, dass das Wort Gottes ihm sehr viel bedeutete. Er war also ein „ziemlich“ religiöser Jude.