Seelsorge

Eduard Thurneysen: Die enge Pforte

Kürzlich habe ich hier auf eine Konferenz zu Eduard Thurneysen verwiesen. In den THEOLOGISCHEN BEITRÄGEN (Ausgabe 24/4, Jg. 55, August 2024, S. 218–226, hier S. 225) bin ich nun noch auf eine Predigt zu Lukas 15,3–7 von Thurnseysen gestoßen, die einen sehr herausfordernden Abschnitt enthält. Kurz: Das Christentum und die Kirche stecken nicht erst heute in der Krise.

Thurneysen predigte 1920: 

Wir sind schon, ob wir es wissen oder nicht, an den Rand hinausgedrängt, wo es zu Ende geht mit allem Menschenwitz. Wir sind schon tief hineingeführt in Unsicherheit und Erschütterung und Untergang. Unsere Zeit steht ja mitten drin. Was wollen wir noch lange Umschweife machen und Auswege suchen? Wir müssen hindurchgehen durch den Zusammenbruch. Wir müssen die Augen auftun und aufrichtig werden.

Wir müssen uns vor die Einsicht stellen: nur Gott kann noch helfen! Also wollen wir es tun. Also gehen wir diesen Weg, nicht dumpf und widerwillig, sondern als solche, die wissen: gerade dieser Weg, der Weg durch die Tiefe führt zum Ziel, aus dem Ende wird der neue Anfang geboren. Wo es zu dieser Aufrichtigkeit, dieser Demut, diesem Mut, dieser Buße kommt, da hilft Gott. Da ist nicht dumpfes Zugrundegehen, Modergeruch und Verwesung, sondern alsbald Morgenrot eines neuen Tages, der der Nacht ein Ende macht. Da zieht an das Verwesliche das Unverwesliche und das Sterbliche das Unsterbliche. Da sterben wir, aber siehe, wir leben! Da ist man freilich auf dem Grunde angelangt. Aber gerade wenn man auf den Grund kommt, findet man wieder festen Boden unter den Füßen. Oder gibt es einen festern Boden als die Gewißheit: nur Gott kann helfen, aber er kann helfen!? Dieses einfache Sätzlein will wieder wahr werden mitten in den Stürmen unsrer Zeit. Dazu sind sie über uns gekommen, dazu stehen wir draußen am Rande des Todes, im Untergang des Abendlandes.

Laßt uns die Zeichen der Zeit verstehen und darum ringen, daß Gottes neuer Boden uns unter die Füße komme. Laßt uns Buße tun! Wir wollen endlich, endlich zugeben, was wir schon lange wissen: es bedarf nicht eines neuen religiösen Auttriebes, nicht noch vermehrter kirchlicher Geschäftigkeit, nicht einer noch schlangenklugeren Auflage der alten Theologie, aber zu einem ganz neuen Fragen nach Gott muß es kommen. Es fehlt unserem Christentum nicht nur irgendwo am Rande, an der Außenseite, etwa an der Organisation und Technik seiner Kirchen, das Loch ist im Zentrum, es fehlt am lebendigen, kräftigen, heilenden und vergebenden, herausführenden und erlösenden Lebenswort Gottes. Darnach muß wieder gesucht werden von uns allen.

Deshalb braucht es nicht beredtere, gewandtere, gebildetere Pfarrer, aber, sagen wir kurz, demütigere Pfarrer, Theologen, denen es wirklich um Gotteserkenntnis zu tun ist, und denen es darum auch wenig ausmacht, um ihres aus dieser Erkenntnis fließenden und darin gegründeten kühnen, kindlichen, in den Himmel greifenden Glaubens willen die „Dümmlinge der menschlichen Gesellschaft“ zu heißen. Und nicht Gemeinden braucht es, die von ihren Predigern immer gesteigerte Leistungen verlangen, weil sie nie genug bekommen an Andacht, Erbauung und geistreichen Worten, aber Gemeinden, die mit eintreten in das Ringen um das lebendige Wort Gottes, die mitleiden unter der innern Not des Christentums und mithoffen auf den anbrechenden Gottestag der Hilfe. Es braucht gerade das, was wir heute so tief beklagen möchten: den Bankrott der Kirche, das an die Wandgepreßtsein des „Christentums“, den Stillstand unserer Missions-, unster Vereins- und Liebeswerke, den Zusammenbruch unsrer Lebensreformen, das Mißlingen unsrer Weltallianzen, damit endlich wir selber stillestehen vor Gott, damit es endlich in unsre Ohren kommen kann, was er geredet hat: „Ich bins, der Gerechtigkeit lehrt und ein Meister ist, zu helfen. Ich trete die Kelter allein und ist niemand unter den Völkern mit mir.“ 

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Biblische Seelsorge, allgemeine Offenbarung und die Genügsamkeit der Schrift

Mit der freundlichen Erlaubnis von John Frame gebe ich nachfolgend einen Briefwechsel zur Frage der Genügsamkeit der Heiligen Schrift in der Seelsorge wieder. Im April 2016 erreichte John Frame eine diesbezüglich Anfrage. Er hatte das Buch Theologie der biblischen Seelsorge von Heath Lambert empfohlen. Darauf meldete sich verwundert E.L. und wollte wissen, ob nicht John Frame in seiner Ethik einen anderen Ansatz vertritt als Heath Lambert in seiner Seelsorgelehre. Frame nutzte die Gelegenheit, um seine Sicht der Dinge etwas konkreter darzulegen.

Hier der Briefwechsel zwischen E.L. und John Frame:

April, 2016

Dr. Frame, ich war überrascht zu sehen, dass Sie Heath Lamberts neues Buch A Theology of Biblical Counseling befürworten, obwohl Sie Heaths Ansatz zur Beratung in Ihrem eigenen Ansatz zur Ethik ablehnen. In The Doctrine of God [#ad] sagen Sie (S. 194–197):

Eine vollständig christliche Ethik erkennt allein Gottes Wort als ultimativ an. Dieses Wort findet sich in erster Linie in der Heiligen Schrift, der Bundesverfassung des Volkes Gottes (Dtn 6,6–9; Mt 5,17–20; 2Tim 3,15–17; 2Petr 1,21), aber es offenbart sich auch in der Welt (Ps 19,1ff.; Röm 1,18ff.) und im Menschen selbst (Gen 1,27ff.; 9,6; Eph 4,24; Kol 3,10). Ein Christ wird diese drei Bereiche studieren, wobei er ihre Kohärenz voraussetzt und daher an jedem Punkt versucht, jede Erkenntnisquelle mit den beiden anderen zu integrieren …
Denn ethische Urteile beinhalten exegetisches, empirisches und psychologisches Wissen, das wiederum Logik und andere Fähigkeiten einschließt. Da verschiedene Christen unterschiedliche Gaben haben, müssen wir zusammenarbeiten … 
Ja, das Schriftwort ist als Bundesverfassung des Volkes Gottes vorrangig. Wir können die Heilige Schrift ohne die subjektive Erleuchtung durch Gottes Geist nicht richtig anwenden. Ja, die Heilige Schrift ist bedeutungslos, wenn sie nicht auf Situationen anwendbar ist, also müssen wir die Zeit, in der wir leben, wirklich verstehen. Nein, keine dieser Perspektiven hat, wenn sie richtig verstanden wird, Vorrang vor den beiden anderen, denn jede schließt die beiden anderen ein …

Sie treten also für den Vorrang der Schrift (normative Perspektive) bei ethischen Entscheidungen ein, halten aber auch das Wissen, das sich im Selbst (subjektiv) und in der Welt (situativ) offenbart, für notwendig. Aber es sind die beiden letztgenannten Wissensperspektiven, die Heaths Ansatz (und ein Großteil der traditionellen biblischen Seelsorge) für entbehrlich hält. Heath wird oft zugeben, dass situatives und subjektives Wissen wahr und vielleicht sogar hilfreich für die Beratung ist (obwohl er dem manchmal widerspricht), aber er beharrt darauf, dass situatives und subjektives Wissen für die Bewältigung von Beratungsfragen nicht notwendig ist. Heaths mangelnde Bereitschaft, situatives und subjektives Wissen zu akzeptieren, passt nicht zu Ihrer eigenen Bereitschaft, sie anzunehmen und sie als notwendig für ethische Fragen zu bezeichnen. Daher bin ich überrascht und entmutigt, dass Sie sein Buch so herzlich empfehlen. Und ich hoffe, Sie werden es sich noch einmal überlegen.

E.L.

Lieber Herr L.,

zunächst einmal sollten Sie bedenken, dass die seelsorgerliche Beratung nicht mein akademisches Fachgebiet ist. Im Laufe der Jahre hatte ich gute Beziehungen zu Seelsorgelehrern verschiedener Denkrichtungen. Jay Adams war in meiner Zeit in Philadelphia und Kalifornien ein sehr guter Freund. Heute bin ich Kollege von Professoren der Seelsorge, die eher integrativ denken. Ich habe verschiedene Aspekte beider Ansätze zu schätzen gewusst und gute und schlechte Beispiele für die Beratung unter beiden Flaggen miterlebt. Ich kann also nicht garantieren, dass ich in diesem Bereich zu 100 Prozent konsistent bin.

Dennoch muss ich auf Ihre Kritik in einigen Punkten eingehen. Wie Sie wissen, habe ich eine hohe Sicht von der Heiligen Schrift (siehe mein Buch Doctrine of the Word of God) (#ad) und vertrete eine dreiseitige Perspektive der Erkenntnistheorie. Diese beiden Auffassungen sind unterschiedlich, aber ich denke, sie sind miteinander vereinbar.

Denken Sie daran, dass die normative Perspektive nicht die Schrift ist. Die normative Perspektive umfasst die gesamte Offenbarung Gottes, und die ist natürlich universell. Theologen unterscheiden also zwischen „spezieller Offenbarung“, „allgemeiner Offenbarung“ und der Offenbarung im Menschen als Ebenbild Gottes, was ich „existentielle Offenbarung“ nenne. Im dreiperspektivischen Verständnis schließt jede dieser Perspektiven die beiden anderen ein. So schließt die normative Perspektive alles ein. Sie sieht Gott und seine gesamte Schöpfung als Normgeber für menschliche Entscheidungen.

Die Heilige Schrift ist nicht die normative Perspektive. Sie ist ein Teil der normativen Perspektive, aber auch ein Teil der situativen und existentiellen Perspektive. Sie ist ein Buch, das normativ ist, aber auch eine Tatsache der objektiven Welt (situativ) und eine Tatsache der menschlichen Erfahrung (existenziell).

Das Besondere an der Heiligen Schrift ist, dass sie das Dokument des Bundes ist, das Gott inspiriert hat, um sein Volk und letztlich die Menschheit zu leiten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Heilige Schrift von anderen „Normen“. Wir bezeichnen sie als notwendig, verbindlich, klar und ausreichend. Winnie the Pooh ist auch Teil der normativen Perspektive (da alles Teil der normativen Perspektive ist), aber er hat eine ganz andere Funktion als die Schrift innerhalb der normativen Perspektive. Die Heilige Schrift ist irrtumslos, Winnie ist es nicht.

Nochmals: Ich glaube nicht, dass es einen Widerspruch zwischen meiner Lehre von der Schrift und meiner dreiperspektivischen Erkenntnistheorie gibt. Die Schrift ist eine ganz besondere Art von Norm, die innerhalb der normativen Betrachtungsweise über allen anderen Normen steht. Sie ist freilich auch Teil der situativen Perspektive, also der Tatsache, die alle anderen Fakten erhellt. Und sie ist Teil meiner subjektiven Erfahrung, der Erfahrung, die all meine anderen Erfahrungen bestimmt.

Wie gesagt, das passt alles gut zusammen. Aber natürlich ist es möglich, dass Christen dies missverstehen und eine unzulässige Dichotomie zwischen der Schrift und den drei Perspektiven aufstellen, wenn jemand sagt: „Die Schrift ist unsere Regel, nicht die normative Perspektive“. Natürlich ist die Heilige Schrift unser Maßstab, unsere letzte Autorität. Aber jeder versteht, dass wir die Schrift BENUTZEN, indem wir sie auf Situationen außerhalb der Schrift ANWENDEN. Um die Heilige Schrift zu nutzen, müssen wir also Dinge verstehen, die über die Heilige Schrift hinausgehen. Das heißt, um diese Norm anwenden zu können, müssen wir Situationen und Personen verstehen. Um unsere maßgebliche Schrift zu nutzen, müssen wir also ihre Beziehung (als ultimative Norm) zu den situativen und existentiellen Perspektiven verstehen.

In der Theorie der seelsorgerischen Beratung konzentriert sich die nouthetische bzw. „biblische“ Schule auf die Autorität, insbesondere die Suffizienz, der Schrift. Die „Integrationisten“ konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, die Heilige Schrift mit außerbiblischen Daten in Beziehung zu setzen. In meinen Worten: Sie konzentrieren sich auf die Ausgewogenheit der drei Perspektiven.

In einem wichtigen Punkt haben beide recht. Christliche Seelsorger müssen fest an der Genügsamkeit der Schrift festhalten. Aber wenn sie natürlich nur die Schrift haben und sich weigern, die Schrift auf Situationen und Menschen anzuwenden, dann kann ihre Beratung nicht gelingen. Die Integrationisten haben demnach auch Recht; aber sie müssen daran erinnert werden, dass die Schrift das Buch des Bundes ist: Wenn außerbiblische Daten in eine andere Richtung zu weisen scheinen, müssen wir uns an die Schrift halten, sogar an Scriptura SOLA.

Im Großen und Ganzen würde ich mir eine weniger polemische Beziehung zwischen diesen beiden Schulen wünschen. Konzeptionell besteht dafür keine Notwendigkeit. Die Genügsamkeit der Schrift ist mit der Notwendigkeit vereinbar, die Schrift mit außerbiblischen Daten zu integrieren. Und die außerbiblischen Daten müssen im Licht der Heiligen Schrift verstanden werden. Keines von beiden kann ohne das andere funktionieren.

Die nouthetische bzw. biblische Fraktion hat den Wert der dreiperspektivischen Erkenntnistheorie anerkannt. Dave Powlison hat mir dazu in sehr ermutigender Weise geschrieben. Andererseits haben meine [integrativ arbeitenden] Kollegen hier meine Lehre von sola Scriptura nicht in Frage gestellt. Mein alter Freund Jim Hurley sagte vor einiger Zeit zu mir, dass „Jay Adams uns die Bibel zurückgegeben hat“. Worüber kann man also noch streiten? Vielleicht ist ein Teil des Problems Parteilichkeit oder Team-Rivalität.

Wenn ich ein Buch wie das von Lambert lese, sehe ich, dass er sich auf das Prinzip sola Scriptura konzentriert. Meiner Meinung nach lehnt er unsere Verantwortung, die Schrift mit außerbiblischen Daten in Beziehung zu setzen, nicht ab. Das Buch nimmt diese Verantwortung an, aber es argumentiert für die Notwendigkeit, außerschriftliche Daten gemäß dem Sola-Scriptura-Prinzip zu lesen. Als solches halte ich es für ein gutes Buch.

Wenn Hurley oder Coffield argumentieren würden, dass wir die Lehre von sola Scriptura fallen lassen können, würde ich ihnen widersprechen. Aber ich sehe nicht, dass sie so argumentieren.

Der Streit dreht sich vielleicht um die relative Betonung auf beiden Seiten. Und zur relativen Betonung habe ich keine starke Meinung. Sollen die beiden Schulen doch miteinander darüber streiten. Mir ist das ziemlich egal. Wir sollten denjenigen Grundsatz betonen, der gerade in Frage gestellt wird. Manchmal sollten wir das eine betonen, manchmal das andere. Manchmal bin ich der Meinung, dass ein Buch auf der einen Seite zu ausgewogen ist, oder dass ein anderes Buch auf der anderen Seite unausgewogen ist. Ich habe keine Kritik an Lamberts Ausgewogenheit, aber ich könnte einem Buch mit dem entgegengesetzten Schwerpunkt ebenso wohlwollend gegenüberstehen, solange es die Genügsamkeit der Schrift anerkennt. Ich stimme nicht mit Ihrer Aussage überein, dass Lambert „die [situativen und existentiellen] Perspektiven für unnötig hält“. Ich stimme auch nicht mit Ihnen darin überein, dass „Heath darauf beharrt, dass situatives und subjektives Wissen für die Behandlung von Beratungsfragen nicht notwendig ist“. Er würde, denke ich, sagen, dass diese nicht „notwendig“ sind, da die Schrift notwendig ist („Notwendigkeit“ ist eine der reformatorischen Attribute der Schrift), aber ich glaube nicht, dass er die Absurdität lehrt, dass es in der Beratung mit jemandem ausreicht, die Bibel zu kennen, und dass man gar nichts über den Klienten wissen muss.

Zu all dem könnte man noch mehr sagen, aber ich würde es vorziehen, wenn die Seelsorger diese Fragen unter sich besprechen würden.

Ich hoffe, dass das eine oder andere für Sie hilfreich ist.

Seien Sie gesegnet im Herrn,

Dr. John Frame

Depression oder Faulheit?

Jay Adams (vgl. hier) gehörte zu den Pionieren der sogenannten „Biblischen Seelsorge“. Wir haben ihm viele hilfreiche Anregungen zu verdanken und können verzeihen, wenn er als Missionar der „nouthetischen Seelsorge“ manchmal provoziert hat oder über das Ziel hinausgeschossen ist. Gelegentlich fällt mir das freilich schwer. Gestern las ich in einer relativ frischen Publikation folgenden Absatz (Jay E. Adams, Critical Stages of Biblical Counseling, 2020, Kindle Version, Pos. 772–773, meine Übers.):

Ein ähnlicher Weg aus einer Depression (die schnell und nachhaltig sein kann) besteht darin, sich einzubringen und die aufgegebenen Aufgaben wieder zu übernehmen. Das wird den gewünschten Stimmungsumschwung herbeiführen. Aber der Ratsuchende sollte nicht nur versuchen, sich besser zu fühlen. Vielmehr sollte er in erster Linie den Wunsch haben, seine Verantwortung zur Ehre Gottes wahrzunehmen. Ein depressiver Mensch (dessen Schlagwort „kann nicht” ist) ist im Reich Gottes nutzlos. Er hat „aufgegeben”. Er muss die Worte aus 1. Korinther 15,58 hören. Gott zu dienen ist nie vergeblich; wir können immer erreichen, was er von uns verlangt, wenn wir uns seiner Weisheit und Kraft bedienen. Der Gläubige hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Er wird gebraucht. Er darf sich nicht vor seiner Verantwortung dort (Galater 6,5) oder gegenüber seiner Familie und seinem Arbeitgeber drücken. Das muss er ja auch nicht. Aufgeben ist nichts, was man jemals tun muss. Lassen Sie Ihren depressiven Ratsuchenden wissen, dass sich sein Zustand noch in dieser Woche ändern kann, wenn er bereit ist, dies zu tun. Finden Sie heraus, was er in den verschiedenen Bereichen seines Lebens versäumt hat, und stellen Sie einen Plan auf, wie er zumindest einige dieser Bereiche sofort in Angriff nehmen kann. Je kleiner der Stapel an Arbeit wird, desto besser wird seine Laune!

Adams verwechselt hier Faulheit mit einer Depression. Dem Faulen sagen wir (Spr 6,6–9):

Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise! Wenn sie auch keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, so bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte. Wie lange liegst du, Fauler! Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?

Einem Menschen, der mit einer mittelschweren oder schweren Depression zu kämpfen hat, wird so ein Appell selten helfen; noch wird er die Kraft haben, einfach loszulegen. Vorauszusetzen, dass er einfach nur faul ist, also kann, aber nicht will, mag hin und wieder sogar die Stimmung der Verzweiflung steigern. Denn eigentlich möchte ein Depressiver aufstehen, kann es aber nicht.

Da ist aber noch etwas: „Ein depressiver Mensch … ist im Reich Gottes nutzlos.“

Darf man das so sagen? Würde Adams auch sagen: „Ein behinderter Mensch, der täglich auf die Fürsorge anderer angewiesen ist, ist nutzlos im Reich Gottes“? Ich hoffe nicht! Gott gebraucht Menschen, die keine gute Performance aufweisen. Ein Depressiver hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Im Reich Gottes ist es eben nicht so, dass wir mal eben einen Schalter umlegen und schon ändert sich der Zustand. Manche müssen lange auf Besserung warten. Diese Zeiten des Wartens können können sogar geistlich wertvoll sein. Wir wissen aus der Kirchengeschichte, dass viele Diener Gottes mit depressiven Stimmungen und Episoden zu kämpfen hatten, darunter Luther oder Spurgeon (vgl. hier).

Der Beter in Psalm 43 hat eine vorbildliche Einstellung. Er befahl seine eigene Seele mit ihrer tiefen Unruhe und Verzweiflung angesichts von erfahrenem Unrecht und Verrat dem lebendigen Gott an: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meine Rettung und mein Gott ist!“ (Ps 43,5). Er gab also nicht auf, sondern schüttete sein Herz vor Gott aus. Auch für diesen Beter hatten seine Gefühle nicht das letzte Wort. Er befahl sie seinem Herrn an und konnte geduldig und hoffnungsvoll warten – bis Gott Rettung bringt.

Unbeschwert laufen – befreit von Pornographie

Eine neue Internetplattform unterstützt Menschen, die frei von Scham, Isolation und dem Schmutz der Pornographie leben möchten. Bei unbeschwert laufen gibt es viele hilfreiche Hinweise und Ressourcen für ein Leben in sexueller Reinheit.

Zitat:

Wir (bzw. derzeit noch „ich“) sind eine rein private Initiative von Christen, die das, was hier thematisiert wird, selbst erlebt haben. Und ein befreites Leben mit neuer Hoffnung ist jetzt nicht fürs passive „auf-dem-Sofa-hocken“ gedacht. Es muss raus und weitergehen. Deshalb will ich, wollen wir, nicht länger schweigen und sogar den Schritt in die (Internet-) Öffentlichkeit wagen. DENN: Viel zu viele Männer und Frauen sind noch „Gefangene“ der Pornografie und leben in sexueller Sünde. Wir wollen diesen Menschen kostenlos (aber nicht umsonst), ohne Barriere und ganz frei Ressourcen, Informationen und Seelsorgerliche Hilfe anbieten bzw. vermitteln. Wir wünschen uns, dass noch mehr Männer und Frauen ein Leben in Befreiung erlangen und wahre, echte Lebensfreude finden – in Jesus Christus.

Schau dich um, klicke dich durch: Dieser Blog wird noch wachsen, das ist klar. Ein kleines Pflänzchen, was hoffentlich gut wächst. Dazu gesellen sich eine große Ressourcen-Datenbank mit Büchern, Diensten, Kursen, Links und manchem mehr. Stöbere doch einfach mal, vielleicht findest du Hilfe und Vertiefung zu einem Thema, was dich bewegt.

Mehr hier: unbeschwert-laufen.de.

Psycho-Revolution

Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ hat es in sich. Nicht ein besonderer Bereich, sondern die ganze Person gilt dann nämlich als krank und letztlich mehr oder weniger unheilbar. Kritiker meinen: Das sind Schubladen, in die Patienten nicht hineingehören. Das überarbeitete Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation will Persönlichkeitsstörungen in Zukunft deshalb differenziert erfassen. Das ICD-11 hat zum 1. Januar 2022 die bisherigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen ganz aus dem Katalog gestrichen. Kein Narzissmus mehr, keine paranoide oder dissoziale Persönlichkeitsstörung. Es gibt nur noch die allgemeine Diagnose: „Persönlichkeitsstörung“.

Martin Hubert hat für den DLF das Thema geschickt aufbereitet. Ich hätte mir gewünscht, dass die Kritiker dieses Einschnitts mehr Raum bekommen hätten, kann aber gut damit leben, dass zumindest Schwächen der „Dimensionale Diagnose“ (so heißt das jetzt) erwähnt werden.

Ich empfehle Seelsorgern, Pastoren und natürlich Psychologen und Therapeuten diesen Beitrag aber nicht, weil ich ein Gegner oder Befürworter der „Dimensionale Diagnose“ bin. Vielmehr macht der Beitrag sichtbar, wie kompliziert das mit psychiatrischen Diagnosen ist und das diese Diagnosen immer auch abhängig sind von der Kultur, in der die Kriterien entwickelt werden (vgl. dazu auch den Beitrag Zweifelhafte Therapeutisierung).

Also hier:

Bullinger: Verlorene zurückholen

Heinrich Bullinger (Schriften V, 2006, S. 185) schreibt über den Hirtendienst, der sich auch um verlorene Schafe kümmert:

Ein verlorenes Schaf zu suchen, bedeutet: diejenigen, die vor der Wahrheit zurückschrecken und sich in der Finsternis der Irrtümer aufhalten, in die Kirche und in das Licht der Wahrheit zu führen; ein verstoßenes Schaf zurückzuholen: jemanden, der aufgrund einer persönlichen Anfechtung von der Gemeinschaft der Heiligen abgesondert war, wieder aufzurichten und zurückzuführen; ein verletztes Schaf zu heilen: jemanden in Pflicht zu nehmen, denn der gute Hirte rügt die Wunden der Sünden, wie auch Jeremia gebietet, sie zu heilen (vgl. Jer 8,4–22; 30,12–17); ein schwaches und krankes Schaf schließlich bedeutet: jemanden zu stärken und nicht ganz und gar zugrunde gehen zu lassen, und ein starkes Schaf: Menschen, die mit ihren guten Eigenschaften in Blüte stehen, daran zu hindern, aufgrund der Gaben Gottes hochmütig zu werden und sie wieder zu verlieren (vgl. Jes 42,3). Er soll jedoch daran denken, dass dies nur mit Hilfe der gesunden und beständigen Lehre, die vom Wort Gottes abgeleitet ist, erreicht werden kann (vgl. Mt 12,15–21.22–37).

Seelsorge Aufbaukurs II (November 2021)

Vom 21.–26. November 2021 werden wir in Friedrichshafen am Bodensee einen Aufbaukurs zur „Christozentrischen Seelsorge“ anbieten. Folgende Themen sind geplant:

  • Seelsorge an Jugendlichen (Pfarrer Heinz Bogner)
  • Das seelsorgerische Gespräch (Ron Kubsch)
  • Seelsorge im Angesicht von Krankheit und Tod (Thomas Jeising)
  • Seelsorgerische Begleitung in Leidsituationen (Lilia Stromberger)
  • Wenn’s lange dauert: Anregungen für die Begleitung längerer Seelsorgeprozesse (Lilia Stromberger)

Mehr Informationen und eine Anmeldemöglichkeit gibt es hier: Seelsorge _ November 2021_a.pdf.

Vom Umgang mit Zorn

Ash Midgley The heart of angerKlaus Giebel vom Martin Bucer Seminar in München stellt in einer Besprechung des Buch The Heart of Anger: How the Bible Transforms Anger in Our Understanding and Experience von Christopher Ach und Steve Midgley vor:

Das Buch ist flüssig, lebendig geschrieben, sprachlich ist es für die meisten Leser mit Schulenglischkenntnissen sicher gut zu verstehen.

Es ist für Seelsorger, Gemeindeleiter, aber auch für z.B. in Erzieherberufen tätigen ebenso nützlich wie für jeden Christen, der sich auf den Weg gemacht hat, um in der Gnade Gottes zu wachsen. Es hilft, den Bereich der Charakterentwicklung nicht zu vernachlässigen, sondern ihm die entsprechende Aufmerksamkeit zu geben und ein vielleicht bislang vernachlässigtes oder in seiner Gefährlichkeit unterschätztes Phänomen bewusst anzugehen.

Was sich der Leser, der mit zeitgenössischen Vorstellungsmodellen aus den Humanwissenschaften zu tun hat, vielleicht noch gewünscht hätte, wäre ein Kapitel zur Auseinandersetzung mit gängigen Aggressionsmodellen aus der psychologischen Forschung, die, kritisch hinterfragt, ja eine große Rolle im Bereich der Pädagogik und Therapie spielen. Aber das hätte den Rahmen und das wichtige Anliegen dieses ausgesprochen wertvollen Buches womöglich gesprengt.

Meine Empfehlung: ein Buch, das es wert wäre, für den deutschsprachigen Raum übersetzt zu werden! Es ist für alle, die sich mit der Einordnung und Bewältigungsstrategien menschlicher Gefühlswelten beschäftigen wollen genauso hilfreich wie für jeden, der sich selbst mit den eigenen Kräften des Zorns auseinandersetzen will oder anderen dabei helfen möchte, hier neue, christusgemäße Wege zu beschreiten. Darüber hinaus bietet es eine Fülle an biblischen Anregungen, um durch Vertiefung der Texte auch zu eigenen Einsichten zum Thema zu kommen.

Hier die vollständige Rezension: www.evangelium21.net.

Jay E. Adams 1929–2020

Jay Adams ist am 14. November 2020 in die ewige Ruhe bei seinem Herrn eingetreten. Er wurde 91 Jahre alt.

Adams war vor allem als Begründer der modernen biblischen Beratungsbewegung bekannt, die mit der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Buches Competent to Counsel im Jahr 1970 ins Leben gerufen wurde. Er war ein Vorkämpfer für die Sache der biblischen Suffizienz in der Seelsorge und kämpfte gegen das Vordringen der säkularen Psychologie in die Beratungsräume von Pastoren und christlichen Laien an.

In den 80-er Jahren war die Seelsorge nach Adams in Deutschland recht verbreitet, da viele seiner Bücher übersetzt wurden. Seine Seelsorge musste allerdings auch sehr viel Kritik über sich ergehen lassen.

Jay Adams arbeitete zuletzt für das The Institute for Nouthetic Studies. Die Christian Counseling & Educational Foundation (CCEF) hat viele Impulse von Adams aufgenommen und gründlich weiterentwickelt.

Hier ist ein Rückblick auf sein Leben zu finden: nouthetic.blog.

Den Kranken muss das Evangelium erklärt werden

Heinrich Bullinger („Unterweisung der Kranken und wie man sich auf das Sterben vorbereiten soll“, Schriften, Bd. 1, Zürich: TVZ, 2006, S. 103–169, hier S. 131–132):

Daher muss den Kranken in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Menschwerdung und das Leiden Christi vor Augen geführt werden, und zwar zuerst mit der Frage, warum Christus Mensch geworden ist: Da nämlich Gott gut, treu und barmherzig ist, hat er dem Menschen seine Güte auf treueste Weise offenbaren wollen. Dies hat er nun auf keine kostbarere Weise tun können als durch die Menschwerdung Christi, seines Sohnes, der seiner Natur und seines Wesens ist. Denn indem er Mensch wurde, vereinigte er in sich die menschliche und die göttliche Natur in einer Person, wie geschrieben steht [Joh 1,14]: „Das Wort ward Fleisch.“ Durch dieses große Geheimnis gab er uns zu verstehen, dass er mit dem Menschen vereinigt sein, ja ich ihm zu eigen geben und ihn erhalten und erhöhen wollte, so wie er den Menschen Jesus Christus zu ewiger Freude und Seligkeit erhalten und erhöht hat. Da also Christus der Mittler ein sollte, musste er des Wesens und der Natur beider Teile, zwischen denen er vermitteln sollte, teilhaftig werden, damit er auch das an sich hätte, was er für unsere Sünden opfern konnte. Denn ohne Blut zu vergießen, geschah keine Verzeihung. Wenn er nun nicht wahres menschliches Wesen und wahre menschliche Natur angenommen hätte, wie hätte er sterben, sein Blut ‚ergießen und sich für unsere Sünden aufopfern können? Und hier offenbart sich uns die Frucht des Leidens und Sterbens Christi: dass wir durch seinen Tod Verzeihung der Sünden und ewiges Leben erlangen.

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