Biblische Seelsorge, allgemeine Offenbarung und die Genügsamkeit der Schrift

Mit der freundlichen Erlaubnis von John Frame gebe ich nachfolgend einen Briefwechsel zur Frage der Genügsamkeit der Heiligen Schrift in der Seelsorge wieder. Im April 2016 erreichte John Frame eine diesbezüglich Anfrage. Er hatte das Buch Theologie der biblischen Seelsorge von Heath Lambert empfohlen. Darauf meldete sich verwundert E.L. und wollte wissen, ob nicht John Frame in seiner Ethik einen anderen Ansatz vertritt als Heath Lambert in seiner Seelsorgelehre. Frame nutzte die Gelegenheit, um seine Sicht der Dinge etwas konkreter darzulegen.

Hier der Briefwechsel zwischen E.L. und John Frame:

April, 2016

Dr. Frame, ich war überrascht zu sehen, dass Sie Heath Lamberts neues Buch A Theology of Biblical Counseling befürworten, obwohl Sie Heaths Ansatz zur Beratung in Ihrem eigenen Ansatz zur Ethik ablehnen. In The Doctrine of God [#ad] sagen Sie (S. 194–197):

Eine vollständig christliche Ethik erkennt allein Gottes Wort als ultimativ an. Dieses Wort findet sich in erster Linie in der Heiligen Schrift, der Bundesverfassung des Volkes Gottes (Dtn 6,6–9; Mt 5,17–20; 2Tim 3,15–17; 2Petr 1,21), aber es offenbart sich auch in der Welt (Ps 19,1ff.; Röm 1,18ff.) und im Menschen selbst (Gen 1,27ff.; 9,6; Eph 4,24; Kol 3,10). Ein Christ wird diese drei Bereiche studieren, wobei er ihre Kohärenz voraussetzt und daher an jedem Punkt versucht, jede Erkenntnisquelle mit den beiden anderen zu integrieren …
Denn ethische Urteile beinhalten exegetisches, empirisches und psychologisches Wissen, das wiederum Logik und andere Fähigkeiten einschließt. Da verschiedene Christen unterschiedliche Gaben haben, müssen wir zusammenarbeiten … 
Ja, das Schriftwort ist als Bundesverfassung des Volkes Gottes vorrangig. Wir können die Heilige Schrift ohne die subjektive Erleuchtung durch Gottes Geist nicht richtig anwenden. Ja, die Heilige Schrift ist bedeutungslos, wenn sie nicht auf Situationen anwendbar ist, also müssen wir die Zeit, in der wir leben, wirklich verstehen. Nein, keine dieser Perspektiven hat, wenn sie richtig verstanden wird, Vorrang vor den beiden anderen, denn jede schließt die beiden anderen ein …

Sie treten also für den Vorrang der Schrift (normative Perspektive) bei ethischen Entscheidungen ein, halten aber auch das Wissen, das sich im Selbst (subjektiv) und in der Welt (situativ) offenbart, für notwendig. Aber es sind die beiden letztgenannten Wissensperspektiven, die Heaths Ansatz (und ein Großteil der traditionellen biblischen Seelsorge) für entbehrlich hält. Heath wird oft zugeben, dass situatives und subjektives Wissen wahr und vielleicht sogar hilfreich für die Beratung ist (obwohl er dem manchmal widerspricht), aber er beharrt darauf, dass situatives und subjektives Wissen für die Bewältigung von Beratungsfragen nicht notwendig ist. Heaths mangelnde Bereitschaft, situatives und subjektives Wissen zu akzeptieren, passt nicht zu Ihrer eigenen Bereitschaft, sie anzunehmen und sie als notwendig für ethische Fragen zu bezeichnen. Daher bin ich überrascht und entmutigt, dass Sie sein Buch so herzlich empfehlen. Und ich hoffe, Sie werden es sich noch einmal überlegen.

E.L.

Lieber Herr L.,

zunächst einmal sollten Sie bedenken, dass die seelsorgerliche Beratung nicht mein akademisches Fachgebiet ist. Im Laufe der Jahre hatte ich gute Beziehungen zu Seelsorgelehrern verschiedener Denkrichtungen. Jay Adams war in meiner Zeit in Philadelphia und Kalifornien ein sehr guter Freund. Heute bin ich Kollege von Professoren der Seelsorge, die eher integrativ denken. Ich habe verschiedene Aspekte beider Ansätze zu schätzen gewusst und gute und schlechte Beispiele für die Beratung unter beiden Flaggen miterlebt. Ich kann also nicht garantieren, dass ich in diesem Bereich zu 100 Prozent konsistent bin.

Dennoch muss ich auf Ihre Kritik in einigen Punkten eingehen. Wie Sie wissen, habe ich eine hohe Sicht von der Heiligen Schrift (siehe mein Buch Doctrine of the Word of God) (#ad) und vertrete eine dreiseitige Perspektive der Erkenntnistheorie. Diese beiden Auffassungen sind unterschiedlich, aber ich denke, sie sind miteinander vereinbar.

Denken Sie daran, dass die normative Perspektive nicht die Schrift ist. Die normative Perspektive umfasst die gesamte Offenbarung Gottes, und die ist natürlich universell. Theologen unterscheiden also zwischen „spezieller Offenbarung“, „allgemeiner Offenbarung“ und der Offenbarung im Menschen als Ebenbild Gottes, was ich „existentielle Offenbarung“ nenne. Im dreiperspektivischen Verständnis schließt jede dieser Perspektiven die beiden anderen ein. So schließt die normative Perspektive alles ein. Sie sieht Gott und seine gesamte Schöpfung als Normgeber für menschliche Entscheidungen.

Die Heilige Schrift ist nicht die normative Perspektive. Sie ist ein Teil der normativen Perspektive, aber auch ein Teil der situativen und existentiellen Perspektive. Sie ist ein Buch, das normativ ist, aber auch eine Tatsache der objektiven Welt (situativ) und eine Tatsache der menschlichen Erfahrung (existenziell).

Das Besondere an der Heiligen Schrift ist, dass sie das Dokument des Bundes ist, das Gott inspiriert hat, um sein Volk und letztlich die Menschheit zu leiten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Heilige Schrift von anderen „Normen“. Wir bezeichnen sie als notwendig, verbindlich, klar und ausreichend. Winnie the Pooh ist auch Teil der normativen Perspektive (da alles Teil der normativen Perspektive ist), aber er hat eine ganz andere Funktion als die Schrift innerhalb der normativen Perspektive. Die Heilige Schrift ist irrtumslos, Winnie ist es nicht.

Nochmals: Ich glaube nicht, dass es einen Widerspruch zwischen meiner Lehre von der Schrift und meiner dreiperspektivischen Erkenntnistheorie gibt. Die Schrift ist eine ganz besondere Art von Norm, die innerhalb der normativen Betrachtungsweise über allen anderen Normen steht. Sie ist freilich auch Teil der situativen Perspektive, also der Tatsache, die alle anderen Fakten erhellt. Und sie ist Teil meiner subjektiven Erfahrung, der Erfahrung, die all meine anderen Erfahrungen bestimmt.

Wie gesagt, das passt alles gut zusammen. Aber natürlich ist es möglich, dass Christen dies missverstehen und eine unzulässige Dichotomie zwischen der Schrift und den drei Perspektiven aufstellen, wenn jemand sagt: „Die Schrift ist unsere Regel, nicht die normative Perspektive“. Natürlich ist die Heilige Schrift unser Maßstab, unsere letzte Autorität. Aber jeder versteht, dass wir die Schrift BENUTZEN, indem wir sie auf Situationen außerhalb der Schrift ANWENDEN. Um die Heilige Schrift zu nutzen, müssen wir also Dinge verstehen, die über die Heilige Schrift hinausgehen. Das heißt, um diese Norm anwenden zu können, müssen wir Situationen und Personen verstehen. Um unsere maßgebliche Schrift zu nutzen, müssen wir also ihre Beziehung (als ultimative Norm) zu den situativen und existentiellen Perspektiven verstehen.

In der Theorie der seelsorgerischen Beratung konzentriert sich die nouthetische bzw. „biblische“ Schule auf die Autorität, insbesondere die Suffizienz, der Schrift. Die „Integrationisten“ konzentrieren sich auf die Notwendigkeit, die Heilige Schrift mit außerbiblischen Daten in Beziehung zu setzen. In meinen Worten: Sie konzentrieren sich auf die Ausgewogenheit der drei Perspektiven.

In einem wichtigen Punkt haben beide recht. Christliche Seelsorger müssen fest an der Genügsamkeit der Schrift festhalten. Aber wenn sie natürlich nur die Schrift haben und sich weigern, die Schrift auf Situationen und Menschen anzuwenden, dann kann ihre Beratung nicht gelingen. Die Integrationisten haben demnach auch Recht; aber sie müssen daran erinnert werden, dass die Schrift das Buch des Bundes ist: Wenn außerbiblische Daten in eine andere Richtung zu weisen scheinen, müssen wir uns an die Schrift halten, sogar an Scriptura SOLA.

Im Großen und Ganzen würde ich mir eine weniger polemische Beziehung zwischen diesen beiden Schulen wünschen. Konzeptionell besteht dafür keine Notwendigkeit. Die Genügsamkeit der Schrift ist mit der Notwendigkeit vereinbar, die Schrift mit außerbiblischen Daten zu integrieren. Und die außerbiblischen Daten müssen im Licht der Heiligen Schrift verstanden werden. Keines von beiden kann ohne das andere funktionieren.

Die nouthetische bzw. biblische Fraktion hat den Wert der dreiperspektivischen Erkenntnistheorie anerkannt. Dave Powlison hat mir dazu in sehr ermutigender Weise geschrieben. Andererseits haben meine [integrativ arbeitenden] Kollegen hier meine Lehre von sola Scriptura nicht in Frage gestellt. Mein alter Freund Jim Hurley sagte vor einiger Zeit zu mir, dass „Jay Adams uns die Bibel zurückgegeben hat“. Worüber kann man also noch streiten? Vielleicht ist ein Teil des Problems Parteilichkeit oder Team-Rivalität.

Wenn ich ein Buch wie das von Lambert lese, sehe ich, dass er sich auf das Prinzip sola Scriptura konzentriert. Meiner Meinung nach lehnt er unsere Verantwortung, die Schrift mit außerbiblischen Daten in Beziehung zu setzen, nicht ab. Das Buch nimmt diese Verantwortung an, aber es argumentiert für die Notwendigkeit, außerschriftliche Daten gemäß dem Sola-Scriptura-Prinzip zu lesen. Als solches halte ich es für ein gutes Buch.

Wenn Hurley oder Coffield argumentieren würden, dass wir die Lehre von sola Scriptura fallen lassen können, würde ich ihnen widersprechen. Aber ich sehe nicht, dass sie so argumentieren.

Der Streit dreht sich vielleicht um die relative Betonung auf beiden Seiten. Und zur relativen Betonung habe ich keine starke Meinung. Sollen die beiden Schulen doch miteinander darüber streiten. Mir ist das ziemlich egal. Wir sollten denjenigen Grundsatz betonen, der gerade in Frage gestellt wird. Manchmal sollten wir das eine betonen, manchmal das andere. Manchmal bin ich der Meinung, dass ein Buch auf der einen Seite zu ausgewogen ist, oder dass ein anderes Buch auf der anderen Seite unausgewogen ist. Ich habe keine Kritik an Lamberts Ausgewogenheit, aber ich könnte einem Buch mit dem entgegengesetzten Schwerpunkt ebenso wohlwollend gegenüberstehen, solange es die Genügsamkeit der Schrift anerkennt. Ich stimme nicht mit Ihrer Aussage überein, dass Lambert „die [situativen und existentiellen] Perspektiven für unnötig hält“. Ich stimme auch nicht mit Ihnen darin überein, dass „Heath darauf beharrt, dass situatives und subjektives Wissen für die Behandlung von Beratungsfragen nicht notwendig ist“. Er würde, denke ich, sagen, dass diese nicht „notwendig“ sind, da die Schrift notwendig ist („Notwendigkeit“ ist eine der reformatorischen Attribute der Schrift), aber ich glaube nicht, dass er die Absurdität lehrt, dass es in der Beratung mit jemandem ausreicht, die Bibel zu kennen, und dass man gar nichts über den Klienten wissen muss.

Zu all dem könnte man noch mehr sagen, aber ich würde es vorziehen, wenn die Seelsorger diese Fragen unter sich besprechen würden.

Ich hoffe, dass das eine oder andere für Sie hilfreich ist.

Seien Sie gesegnet im Herrn,

Dr. John Frame

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4 Kommentare
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Theo
7 Monate zuvor

Danke für die Übersetzung. Dennoch lässt mich der Briefwechsel etwas verwirrt zurück. Ging es beim Streit um eine „biblische Seelsorge“ nicht um die Frage, ob Methoden der Psychotherapie integriert werden dürfen oder nicht (und nicht, ob außerbiblische Daten oder gar psychologisches Wissen für die biblische Seelsorge brauchbar ist)?

Das Buch von Lampert ist auf jeden lesenswert. Nach meiner Erinnerung leitet er auf fast 100 Seiten seinen Seelsorgeansatz her. Er macht es sich also nicht zu leicht.

Klaus
7 Monate zuvor

Eine, wie ich finde aufschlussreiche Rezension des Buches: https://thelondonlyceum.com/book-review-biblical-counseling-and-common-grace/

Theo
7 Monate zuvor

@Klaus: Die Rezension bezieht sich auf ein anderes Buch als das im Theoblog verlinkte. Aufschlussreich ist die Kritik an Lamperts theologiegeschichtlichem Verständnis von Common Grace dennoch.

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