Zwei Reiche-Lehre

Ist der Staat Gott?

Europäische Regierungen und Parteien beziehen sich kaum noch auf Gott. Das ist nicht tragisch, wenn Säkularisierung zugleich bedeutet, dass die Religionsfreiheit verteidigt und der Staat nicht selbst zu einem neuen Gott wird, meint Giuseppe Gracia in seinem NZZ-Beitrag „Gott ist tot – der Staat ist Gott? Das wäre eine ganz schlechte Idee“.

Wer eine freie Gesellschaft bewahren will, muss die Religionsfreiheit und das freie Wirken der Religionsgemeinschaften verteidigen. Im Übrigen ist Gelassenheit geboten, wenn politische Parteien verschwinden, die ein «C» im Namen tragen. Das Christentum ist kein politisches Programm und darf nicht auf eine Partei verengt werden. Auch sind Christen keine politische Gemeinschaft, sondern eine Glaubensgemeinschaft.

So wie alle Bürger können Christen in vielen Fragen des politischen Tagesgeschäfts unterschiedliche Ansichten vertreten und verschiedene Parteien wählen. Denn es ist eine Sache, gleiche Grundsätze wie etwa die Nächstenliebe oder die Sorge um die Natur zu haben. Und etwas ganz anderes, die konkrete Umsetzung in oftmals komplexen gesellschaftlichen Realitäten zu beurteilen, bei der es einen legitimen Pluralismus der Überzeugungen gibt.

Aus dem gleichen Grund sollten die Kirchen nicht mit Jesus Politik machen. In den letzten Jahren fallen sie nämlich nicht dadurch auf, dass sie Gott oder die Auferstehung von den Toten bezeugen. Sondern dadurch, dass sie sich dem Staat andienen, als steuerfinanzierter, zivilreligiöser Moralinspender. Oder dass sie versuchen, medial angesagte Programme bezüglich Gender, Klima und Migration christlich zu imprägnieren. Das ist ein Missbrauch der Institution Kirche. 

Mehr hier: www.nzz.ch.

Kirche, die nicht alles mitmacht

Nicht nur die Politik, auch Redaktionen und Journalisten, setzen Kirchen, die eine „Ehe für alle“ ablehnen, massiv unter Druck. Anders formuliert: Wer sich gegen den moralischen Mainstream in Europa und Nordamerika stellt, wird diffamiert.

Wie wird es weitergehen? Wird die „Elite“ Kirchen oder einzelne Pastoren, die sich dem Druck nicht beugen, sanktionieren? Das wäre ein deutlicher Übergriff, denn die Lehre der Kirche ist frei. Eine Kirche, die diesem Druck nachgibt, um relevant zu sein oder geliebt zu werden, verramscht nicht nur ihre Freiheit, sondern wird zum Spielball weltlicher Mächte. So eine Kirche darf sich dann vielleicht (kurzfristig) darüber freuen, den Segen der Welt zu empfangen. Den Segen Gottes verspielt sie. Und genau auf diesen Segen kommt es an.

Hier ein aktuelles Beispiel aus der Schweiz:

Die Reformierten [in der Schweiz, Anm. R.K.] haben sich stets dadurch ausgezeichnet, dass sie auf gesellschaftliche Öffnungsprozesse schneller reagieren als der Vatikan: Frauenordination oder Trauungen von Geschiedenen sind für sie eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie Segnungsfeiern für Homosexuelle. Wenn sich der Schweizerische Evangelische Kirchenbund nun schwertut, den kleinen Schritt hin zu kirchlichen Trauungen für Lesben und Schwule zu tun, ist das alarmierend. Zu vermuten ist, dass nur eine überschaubare Anzahl von Homosexuellen überhaupt vor den Altar treten will. Doch darum geht es nicht. Wichtiger ist das Signal, das die Protestanten aussenden: Wollen sie Liberalisierungbestrebungen mitmachen, hinter denen deutliche Mehrheiten der Bevölkerung stehen – oder entscheiden sie sich für das Verharren in antiquierten Positionen?

Mehr: www.nzz.ch.

Ausmischung?

Der evangelische Pfarrer Jochen Teuffel hat heute in der FAZ den Artikel »Man höre doch mal dem Heiland zu« publiziert. Wieder kann ich Teuffel in vielen Punkten zustimmen, z.B. dort, wo er die Trennung von Kirche und Staat oder die Religionsfreiheit für alle Religionen fordert. Richtig ist zudem sein Verweis darauf, dass zum Christuszeugnis auch das Leiden gehört.

Doch dann lese ich:

Die Provokation des christlichen Glaubens besteht im letzten Wort Jesu am Kreuz: »Es ist vollbracht (tetelestai!« Der stellvertretenden Lebenshingabe des Gottessohnes ist menschlicherseits nichts hinzuzufügen. Was für Christen zu tun bleibt, ist die gottesdienstliche Feier des Pascha-Mysteriums Christi, das missionarische Namenszeugnis sowie der Dienst am fremden Nächsten. Im Übrigen gilt Toleranz, was nichts anderes heißt, als »Zuwiderliches« zu ertragen, weil man es weder abwenden noch ignorieren oder gar für sich akzeptieren kann.

Was Teuffel fordert, ist die »Ausmischung«. Christen, so verstehe ich Teuffel, sollten den Glauben vollständig privatisieren (also außerhalb der persönlichen Bekehrung keinen gesellschaftlichen Anspruch auf Einschluss erheben). Christen feiern Gottesdienst und mischen sich sonst nicht ein, auch dort nicht, wo sich Unrecht ausbreitet oder Freiheit erstickt wird. So hat es Luther nicht gemeint! Auch ich bin gegen die Gleichsetzung von Reich Gottes und Gesellschaft. Die Alternative zur Ideologisierung des Glaubens ist aber nicht die Ausmischung, sondern die friedliche Einmischung. »Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll«, hat Bonhoeffer einmal gesagt.

Hier der Artikel von Jochen Teuffel: www.faz.net. Mehr zu der Frage: »Sollen sich Christen in die Gesellschaft einmischen?« hier: diesseits.pdf.

Das Leben in zwei Reichen

Die Lehre von den zwei Reichen ist in der Theologie der Gegenwart nicht sonderlich beliebt. »Muss die Vorstellung, dass ein Christ gleichzeitig in zwei Reichen lebt, nicht in eine Form von Schizophrenie führen?«, hört man. Ich glaube das nicht und will mit diesem kleinen Beitrag versuchen, einige Stärken von Luthers Sicht (wahrlich nicht nur Luthers Sicht) herauszustellen.

Der Begriff »Zwei Reiche-Lehre« stammt von Harald Diem (1938). Vorher benutzten bereits dialektische Theologen seit etwa 1920 den Ausdruck »Lehre von den Zwei Reichen«. Nach 1945 wurde im Gefolge von Johannes Heckel bevorzugt von der »Zwei-Regimenten-Lehre« gesprochen. Der deutsche Reformator selbst sprach zunächst von »zwei Regimenten«, später auch von »zwei Reichen«. In seiner Schrift »Von weltlicher Obrigkeit« (Neujahr 1523), die für die Entwicklung der Zwei Reiche-Lehre von besonderer Bedeutung ist, benutzt er beide Begriffe.

Was wollte Luther eigentlich deutlich machen?

Luther behauptet (Althaus, »Luthers Lehre von den beiden Reichen im Feuer der Kritik«, Luther-Jahrbuch, 1957, S. 42):

Gott regiert die Welt auf eine doppelte Weise. Die eine Weise hilft zur Erhaltung dieses leiblichen, irdischen, zeitlichen Lebens, damit zur Erhaltung der Welt. Die andere Weise hilft zum ewigen Leben, das heißt: zur Erlösung der Welt. Das erste Regiment führt Gott mit der linken Hand, das zweite mit der rechten Hand.

Im Reiche Gottes mit der rechten Hand ist Christus König und Herr. Jesus regiert durch das Evangelium, das »dargeboten« ist »in Wort und Sakrament«. Er befreit die »Seinen« vom Zorn Gottes durch die Vergebung der Sünden; er bringt die Freiheit »von dem verklagenden Gesetze«. Das Evangelium wird durch Glauben empfangen und führt zur Liebe, welche im Menschen durch den Heiligen Geist gewirkt wird.

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Gottes Reich mit der linken Hand dagegen umfasst die weltliche Obrigkeit und alles, was zur Erhaltung und Ordnung dieses zeitlichen Lebens dient, also auch Ehe und Familie, Eigentum, Wirtschaft, Stand und Beruf usw.

Beim Verhältnis der beiden Regimente zueinander betont Luther die tiefe Einheit, da sie beide von dem einen Gott eingesetzt sind. Das weltliche Regiment darf keinesfalls mit dem »Satansreich« verwechselt werden. Auch wenn das »weltliche Regiment um der Sünde willen da ist«, ist es trotzdem göttliche Ordnung. In beiden Regimenten waltet Gottes Liebe und Güte. Selbst der Zorn Gottes steht »im Dienste der Barmherzigkeit«, nämlich um die »Bösen … zu zwingen und zu strafen« und »die Frommen zu schützen«.

Auch wenn beide Regimente göttlichen Ursprungs sind, wird Luther nicht müde, vor einer Vermischung der Regimente zu warnen:

Dieser Unterschied zwischen dem weltlichen Regimente, dem Hausstande und der Kirche muß fleißig bewahrt, und ein jeglicher Stand in seinen gehörigen Schranken gehalten werden. Und wiewohl wir aus allen Kräften darauf hingearbeitet haben, so wird doch der Satan nicht aufhören, dieses unter einander zu mischen und zu verwirren, und es wird niemals an Leuten mangeln, die sich nicht in den Schranken ihres Amts halten werden. Die mit falschem Geist erfüllten (spirituosi), schwärmerischen und aufrührerischen Lehrer, mit ihrem Amte nicht zufrieden, reißen auch das weltliche Regiment an sich. Dagegen die weltliche Obrigkeit und die Fürsten senden auch ihre Sichel in eine fremde Ernte, und legen ihre Hände an das Ruder des Kirchenregiments, und nehmen sich auch hier die Herrschaft heraus. So hat der Teufel allezeit seine Werkzeuge, die uns hier Unruhen erregen und die vorgeschriebenen Grenzen ihres Berufs überschreiten. (Luther, Sämtliche Schriften, Bd. 6, Sp. 170)

Mit dieser Unterscheidung untermauert Luther die für das Abendland so bedeutende Unterteilung von Kirche und Staat. Weder darf die Kirche mit staatlichen Mitteln, z. B. mit dem Schwert, geistliche Ziele durchsetzen. Noch darf der Staat sich autoritär in die pastoralen Belange der Kirche einmischen. Durch die Unterscheidung, nicht vollständige Trennung oder Abspaltung, beider göttlicher Regimente, wird also gewährleistet, dass der Staat der Kirche einen eigenen Raum überlässt und die Kirche andersherum nicht den Staat instrumentalisiert. Auch heute sehen wir, welch verhängnisvolle Folgen die Vermischung von Politik und Religion haben kann.

Die Trennung von geistlicher und staatlicher Kompetenz ist nicht etwa eine Erfindung Luthers. Sie zieht sich durch das Neue Testament und wird – entgegen mancher Vorurteile – bereits im Alten Testament gefordert. So finden wir z. B. folgende Unterscheidungen:

  • Könige und Fürsten sowie Priester und Propheten (vgl. z.B. Jer 32,32);
  • Barak als Feldherr und Deborah als Prophetin (vgl. Ri 4,4–9);
  • Nehemia als Statthalter und Esra als Priester: Als der Politiker Nehemia verfolgt wurde, widerstand er der Versuchung, in den Tempel zu flüchten und dort sein Leben zu retten. Es wäre eine Sünde gewesen, seine gesellschaftliche Verantwortung nicht ernst zu nehmen. Gott erwartete von ihm, dass er sich seinem Kompetenzbereich als Statthalter stellt, auch wenn es gefährlich wird (vgl. Neh 6,10–14).

Uns Christen ist es nicht erlaubt, das Reich Gottes mit dem Schwert zu bauen (vgl. Mt 26,52)! Abraham Kuyper (1837–1920), ein bedeutender reformierter Theologe und zeitweilig niederländischer Ministerpräsident, schrieb trotz seines beeindruckenden politischen En­gagements:

In der Regierung des Staates darf die Gemeinde nicht herrschen wollen. Ihr Werkzeug ist das freie Wort, ihre Macht der Einfluss von Mensch auf Mensch in seinem Gewissen, seinem Haus, der Welt sei­nes Denkens, … (Kuyper, Die Kirche Jesu Christi: Worte aus Reden und Schriften, 1926, S. 44)

Anmerkungen:

• Weitere Fragen zur Zwei Reiche-Lehre hat Michael Horton aus reformierter Sicht in einer aktuellen Serie beantwortet, die hier zusammenhängend herunter geladen werden kann. (Leider nur auf Englisch. Will es jemand übersetzen?): www.whitehorseinn.org.

• Empfehlen kann ich ebenfalls das von Thomas Schirrmacher herausgegebene Buch (mit Beiträgen von Titus Vogt und Andreas Peter): Die vier Schöpfungsordnungen Gottes: Kirche, Staat, Wirtschaft und Familie bei Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer, Nürnberg, VTR, 2001.

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