Religionswissenschaft

Der Neue Atheismus ist fast tot

Stefani McDade berichtet für CT über neue eine ausgewogener Religionskritik als die des Neuen Atheismus. Gerade in England scheint die radikale Sichtweise von Richard Dawkins & Co. an Einfluss zu verlieren. Sie schreibt:

Im Jahr 2015 hatten einige Leute begonnen, den Tod des Neuen Atheismus zu verkünden, und im Jahr 2020, 15 Jahre nach der ComRes-Umfrage, zeigte eine neue Umfrage, dass nur 20 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich der Meinung sind, dass der religiöse Glaube mit einer bösen und hartnäckigen Plage für die Gesellschaft verglichen werden kann.

Nick Spencer, Senior Fellow bei Theos, einem christlichen Thinktank in Großbritannien, und einer der Mitverfasser des neuen Berichts, sagte, die Ära des Neuen Atheismus habe in der Öffentlichkeit ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Feindseligkeit gegenüber der Religion hervorgebracht. In einem Theos-Bericht über Wissenschaft und Religion aus dem Jahr 2022 kam er jedoch zu dem Schluss, dass „die wütende Feindseligkeit gegenüber der Religion, die von der ‚New Atheist‘-Bewegung hervorgerufen wurde, vorbei ist“ und die britische Öffentlichkeit eine ausgewogenere Sichtweise auf die Religion zum Ausdruck bringt als während des Höhepunkts des Einflusses der New Atheists. 

Mehr: www.christianitytoday.com.

Devi, die nette Hexe von nebenan

Gilbert Keith Chesterton hatte bekanntlich mal behauptet, dass Menschen, die aufhören, an Gott zu glauben, nicht an nichts – sondern irgendetwas glauben. Das gilt inzwischen auch für den Raum der Kirche. Alles ist möglich. Dort, wo das Evangelium von Jesus Christus nicht mehr geglaubt wird, nisten sich allerlei andere Glaubereien ein. Ein jüngstes Beispiel zeigt, dass die Kirche auch offen dafür ist, die angeblichen Schnittstellen von evangelischem Glauben und Hexerei anzuerkennen.

Um was geht es?

Das digitale Projekt Basis:Kirche soll eine Alternative zu den klassisch-analogen Angeboten der Kirche liefern. Zielgruppe des kirchlichen YouTube-Kanals sind junge Menschen, die viel im Internet surfen. Produziert wird laut Selbstauskunft der Kanal vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen (ekn) im Auftrag der verschiedenen Landeskirchen in Niedersachsen sowie dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (also BEFG, der Baptistenbund). Das ist der Kanal, auf dem schon mal der Auftritt einer Drag-Queen oder die Qualitätsarbeit des Sexarbeiters André gefeiert wird (vgl. hier).

Im neusten Beitrag trifft die Pastorin der Basis:Kirche die modernde Hexe Devi in ihrer Wohnung in Berlin. Devi zeigt das Tarot-Kartenlegen, führt Rituale durch und erklärt dem Team der Basis:Kirche, wie Magie funktioniert und wann man sie einsetzt. In jedem ihrer Zimmer steht ein Schrein, auf dem sie beispielsweise ihren verstorbenen Mops verehrt.

Pastorin Juli findet das alles total spannend. Da überschneide sich so viel. Der evangelische Glaube sei ja gar nicht so verschieden vom Hexenglauben. Hexi Devi meint, in der Kirche gäbe es halt andere Namen.  Kurz: Hier wie dort glaubt man an etwas, ist offen und bleibt optimistisch.

Es ist – soweit ich das sehen kann – keine Parodie. Es soll bewusst einladend und locker wirken. Dennoch ist die Sache in einer gewissen Weise bitterernst und offenbart unfreiwillig sehr viel über das kirchliche Leben in Deutschland. Ob die Macher die Sendschreiben an die Gemeinden in Thyatira und Sardes kennen?

Hier:

Selenskyj als Antichrist

Reinhard Flogaus beschreibt in einem Gastbeitrag für die FAZ (27.01.2022, Nr. 301, S. 15), dass die politische, mediale und kirchliche Propaganda in Russland zunehmend religiöse Bilder für die Rechtfertigung des Krieges mit der Ukraine in Anspruch nimmt. Die verwendeten Assoziationen und Sinnbilder sind absurd. Ich befürchte jedoch, dass es Anhänger gibt, die darauf reinfallen.

Einige Beispiele:

Der von Putin gegen den Westen gerichtete Vorwurf des Satanismus war schon im April von dem russischen Ultranationalisten Alexander Dugin zur Rechtfertigung des Krieges in der Ukraine benutzt worden. In einem Artikel bezeichnete Dugin den Krieg in der Ukraine als Auseinandersetzung zwischen „geistigen Wirklichkeiten“. Entweder die Ukraine komme wieder „unter die Herrschaft Christi und seiner unbefleckten Mutter, oder sie wird unter der Herrschaft Satans bleiben“, so Dugin. Mit dem Kampf in der Ukraine habe die große endzeitliche Schlacht zwischen der „Orthodoxen Zivilisation“ und „der Welt des westlichen Antichrists“ begonnen. Auf die Pest der Corona-Pandemie folge nun der zeite apokalyptische Reiter – der Krieg. Nicht Russland brauche die Ukraine, wohl aber Christus.

Fanden Dugins Endzeitphantasien zunächst kein großes Echo, so änderte sich dies nach Putins Anprangerung des angeblichen „Satanismus“ des Westens. Zu den Kriegszielen der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine kam in der russischen Propaganda nun auch das der „Entsatanisierung“. Als Erster forderte dies das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Aber auch Alexej Pawlow, der stellvertretende Sekretär des Russischen Sicherheitsrates, behauptete, die satanischen Kulte nähmen in der Ukraine überhand und Russland müsse die Ukraine „entsatanisieren“. Schon der Umsturz in der Ukraine 2014 sei ein Werk neuheidnischer Kräfte gewesen. Und Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew, der sich seit geraumer Zeit als der radikalste Kremlvertreter zu profilieren sucht, beschimpfte am 4. November, dem russischen „Tag der Einheit des Volkes“, die ukrainische Regierung als einen „Haufen von Wahnsinnigen und Drogensüchtigen“ und erklärte, es sei die Aufgabe Russlands, in der Ukraine den obersten Herrscher der Hölle zu stoppen, egal welchen Namen er trage – „Satan, Luzifer oder Iblis“. Anfang Dezember wurde im russischen Staatsfernsehen allen Ernstes diskutiert, ob Selenskyj selbst der Antichrist sei oder nur einer seiner Dämonen.

Religionsmonitor 2023

Christian Geyer hat für die FAZ den Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung bissig kommentiert. Die große Einsicht, dass es die Religion auch ohne Kirche gebe, ist ja wirklich nicht neu: Der Glaubenssatz ist ein alter Hut: „‚Jesus ja, Kirche nein‘  hat schon in den Siebzigern die Kirchentage in Erregung versetzt. Walter Kasper legte unter diesem Titel seinerzeit zusammen mit Jürgen Moltmann eine theologische Meditation vor, die Maßstäbe der Unterscheidung entwickelt, welche dem Religionsmonitor leider nicht zu Gebote stehen, wenn er dieselbe Frage ein halbes Jahrhundert später als topaktuell verkauft.“ 

Nicht immer möchte ich Geyer folgen. Aber dieser Abschnitt ist grandios (FAZ, 19.12.2022, Nr. 295, S. 9): 

„Man kann auch ohne Kirche Christ sein“: Im Religionsmonitor bleibt diese Aussage ein diffuser Glaubenssatz, me­thodisch nicht weiter befragt. Damit entfällt die Frage nach der Wahrheit der Religionen, wie um ein Partygespräch nicht rechthaberisch stören zu wollen. In seinem Buch „Religion und Pluralität“ schreibt der Münchner Religionsphilosoph Sebastian Gäb: „Die Re­geln guten Benehmens auf einer Party sind nicht die des richtigen Denkens. Die Frage nach der Wahrheit der Religionen ist zu wichtig – es hängt zu viel von ihr ab, als dass man sie aus Taktgefühl unter den Tisch kehren sollte.“ Als Nachtrag für das Forschungsprogramm der Bertelsmann Stiftung kein verkehrter Hinweis.

Was du über den Buddhismus wissen solltest

Heute feiern Buddhisten auf der ganzen Welt den Geburtstag Buddhas. Es handelt sich dabei um das Vesakh-Fest (oder Wesak), das zum ersten Vollmond im Mai begangen wird. An diesem höchsten buddhistischen Feiertag erinnern sich Religionsanhänger weltweit an Ereignisse wie die Geburt, die Erleuchtung und den Tod von Gautama Buddha.

Eine gute Gelegenheit, um mehr über den Buddhismus zu lernen. Joe Carter hat einige Informationen zusammengestellt zeigt die Herausforderungen, die es gibt, wenn wir mit Buddhisten über das Evangelium sprechen: 

Der geistliche Hintergrund des Buddhismus macht es sehr herausfordernd, Buddhisten das Evangelium zu verkündigen. Viele christliche Apologeten empfehlen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, so z.B. Alex Kocman: „Die Vier edlen Wahrheiten können für Christen vier nützliche Sprungbretter in ein Gespräch darstellen, in dem man dann die biblische Sicht von Leben, Tod und Errettung erklären kann.“ Justin Caudill betont zudem, wie wichtig Zeugnisgeben und echte Beziehungen sind: „Unsere Zeugnisse funktionieren auch dann, wenn bei Buddhisten andere Methoden versagen, und wir denken, dass es dafür verschiedene Gründe gibt“, sagt er. „Zeugnisse sind wirksam, weil es sich dabei um Geschichten handelt, und Geschichtenerzählen ist die wahre Herzenssprache von Buddhisten.“ Sam Chan fügt hinzu, dass Buddhisten sich nach zwei Dingen sehnen: nach Macht und Kontrolle in ihrem Leben und nach Frieden und Schalom. „Jesus ist der Einzige, der uns Macht geben kann, z.B. über böse Geister, und die Macht, geheilt zu werden“, betont Chan. „Und Jesus schenkt uns Frieden. Er nimmt das Leiden nicht weg, aber er zeigt uns, dass es Weisheit gibt, einen Plan und ein Ziel, eine Richtung, die dieses Universum nimmt. Und deswegen können wir einen Frieden genießen, unseren Schalom, den sonst niemand genießen kann.

Mehr: www.evangelium21.net.

Interreligiöser Dialog ohne Weichspüler

Abdel-Hakim Ourghi leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. In der NZZ stellt er das Dialogkonzept der Evangelische Landeskirche Baden auf die Probe und ist meines Erachtens dabei sehr ehrlich und klar.

Es ist verständlich, dass ein Fachpapier für den interreligiösen Dialog die ethisch-humanistischen Werte des Korans betont, die den ethischen Normen des Alten und Neuen Testaments nahestehen. Problematisch ist jedoch, wenn der politisch-juristische Koran von den Verfassern praktisch vollständig ignoriert wird. Zieht man diesen zweiten Aspekt des Korans in Betracht, dann ist allein die Religion des Islams das Wahre, während alle anderen Religionen Erfindungen oder Verfälschungen von Gottes Wahrheit sind. Daher betrachtet dieser politisch-juristische Koran die Gemeinde der Muslime als die beste Gemeinde, die Gott je gestiftet hat, und teilt die Menschen ein in Wissende und Unwissende, Wahre und Unwahre, Gläubige und Ungläubige, Freunde und Feinde. Und Christen und Juden sieht er letztlich als Gegner an, weil sie ihre Heiligen Schriften verfälscht hätten (Koran 27:75, 2:79 und 3:78).

Die religionstheologische Position der Verfasser, die «miteinander konkurrierende menschliche Wahrheitsansprüche anerkennt», geht sogar so weit, fundamentale theologische Unterschiede zwischen Christentum und Islam zu nivellieren.

Hier mehr: www.nzz.ch.

VD: DV

Bankrott des Christentums

Reiner Hank problematisiert den Niedergang des christlichen Glaubens in der westlichen Welt: 

Angesichts der beispiellosen Kirchenaustritte seit fünfzig Jahren bekommt die alte These Max Webers über die Entzauberung der Welt neue Freunde. Robert Barro, ein Harvard-Ökonom, der mit Arbeiten über rationale Erwartungen und die Rolle der Geldpolitik berühmt geworden ist und als Kandidat für den Ökonomie-Nobelpreis gehandelt wird, hat zusammen mit seiner Frau Rachel McCleary, einer Religionswissenschaftlerin, immer schon viel über die Ökonomie des Religiösen geforscht. Jetzt haben die beiden in einem spannend zu lesenden Buch die Summe ihres Nachdenkens vorgelegt („The Wealth of Religions“, Princeton University Press).

Zwei Fragen stehen im Zentrum: Trägt religiöser Glaube zum Wohlstand der Nationen bei? Und: Führt wachsender Wohlstand zu einem Schwund religiöser Praxis und religiösen Glaubens? Letzteres ist die klassische, ebenfalls von Max Weber stammende Säkularisierungsthese, welche von Barro/McCleary rehabilitiert wird. Das bedeutet nicht, dass Religion am Ende ganz aus der Welt verschwände und durch atheistische Rationalität ersetzt würde. Doch seit der religionskritischen Aufklärung haben die Menschen mehr Optionen, wie und woher sie ihrem Leben Sinn geben können. Der Wettbewerb wurde schärfer.

Mehr: www.faz.net.

Interview mit Kian Kermanshahi

Michael Blume hat in seinem religionswissenschaftlichen Blog „Natur des Glaubens“ mit dem früher radikalen Schiiten Kian Kermanshahi über seine Abkehr vom Islam gesprochen. Kermanshahi studierte vier Jahre lang islamische Quellenliteratur. Die Aggression und Gewalt, die zum Islam gehören, haben schließlich zum Rückzug geführt:

Ich habe mich während der 4 Jahre immer noch als Muslim bezeichnet, allerdings als “Reform-Schiite” oder “Reform-Muslim.” Erst in diesem Jahr, also im Sommer 2017 entschloß ich mich offen, mich als nicht-Muslim zu bezeichnen. Der Grund, warum ich das offen tat und nicht einfach meinen stillen Rückzug angetreten habe, war jener, dass ich bereits auf FB und im Internet diverse Blogs aufgebaut habe, wo ich meine Untersuchungen der (muslimischen) Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt habe. Für mich war nun klar, das es eine „Blümchenliteratur“ im Islam gibt, in welcher der Islam als eine liebevolle, freundliche und barmherzige Religion vorgestellt wird, die aber nur selten die unglaublichen Dinge in den Urwerken der Muslime widerspiegelt. Fakt ist, der Islam wird verniedlicht und kaum ein Muslim ahnt, das die alten Lehrmeister der Religion die Menschen in “Rein” und “Unrein” aufteilen und Frauen per göttlichem Dekret zu Menschen zweiter juristischer und religiöser Klasse machen. Dass der Islam durch drastische Androhungen mit der Hölle eine permanente Angst in den meisten Muslime auslöst und sie so in eine Lethargie versetzt, dass sie aus der bloßen Angst heraus keine kritischen Fragen zur Religion stellen können.

Hier: scilogs.spektrum.de.

VD: TI

Voodoo-Rituale und der Menschenhandel

Erst am 5. September habe ich darauf aufmerksam gemacht  dass sich Voodoo heute auch in Europa großer Beliebtheit erfreut und die Bedenken gegenüber dem Zauber auf Klischees und Vorurteile zurückgehen. Im Grunde verhielten sich nur noch die Evangelikalen gegenüber dem Kult „extrem intolerant“.

Zugleich wird merkwürdigerweise sichtbar, welch große Rolle der Voodoo-Kult im Menschenhandel spielt. „Grausige Rituale, skrupellose Verwandte und verängstige junge Frauen: Mit großen Versprechungen werden Mädchen aus Nigeria nach Europa gelockt, mit Hilfe der afrikanischen Voodoo-Religion gefügig gemacht und so jahrelang zur Prostitution gezwungen“, berichtet der FOCUS.

Journalisten des Magazins STERN haben beobachtet, wie Frauen in Ritualen seelisch gebunden werden:

„Ich musste meine Finger- und Fußnägel schneiden und dann den oberen Teil meines Schamhaars“, erzählt Faith. Sie nahm ein Bad zwischen Tierhäuten, schluckte heißes Gebräu, sie strichen ihr das Blut einer geschlachteten Ziege auf die Stirn. Nackt verneigte sie sich vor dem Priester, sprach ihm nach und leistete den Schwur: Sie würde nach Europa gehen, sie folge allen Anweisungen, sie zahle 35.000 Euro zurück, sie erzähle nichts der Polizei. Breche sie den Eid, würde Ayelala Vergeltung üben in ihrer Familie, bis hin zum Tod.

Die Zeitschrift DIE WELT berichtet

„Die Täter gehen oft mit großer Brutalität vor“, sagte BKA-Präsident Jörg Ziercke in Berlin. Die Opfer würden durch körperliche Gewalt, Vergewaltigungen und Todesdrohungen zur Prostitution gezwungen. In schwarzafrikanischen Ländern würden zunehmend Voodoo-Rituale eingesetzt, um Frauen Angst einzujagen und ihnen vor der Schleusung nach Deutschland ein Schweigegelübde aufzuerlegen. Diese Opfer sind dann meist auch nicht bereit, mit der deutschen Polizei zusammenzuarbeiten. Ihre Aussagen aber sind notwendig, um überhaupt gegen die Täter ermitteln zu können.

Ist Voodoo also ganz harmlos? Der Kenianer Amkele Baming’a erklärte dem DLF, was heute kaum noch jemand glauben will: „Diese Witchdoctors benutzen satanische Kräfte. Denn Dämonen sind real. Das steht sogar in der Bibel: Mit satanischen Kräften kann man Wunder wirken.“

Türkei: Islamstaat nicht nur Staat der Muslime

Nachfolgend veröffentliche ich einen anonymen Gastbeitrag, der Einblick in die aktuelle Islamdebatte innerhalb der Türkei gewährt. Er fasst Äußerungen des Islamgelehrten Hayrettin Karaman zusammen, die kürzlich in einer dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nahestehenden Tageszeitung publiziert wurden.

Der Islamstaat nicht nur Staat der Muslime

Hayrettin Karaman ist ein türkischer Islamgelehrter. Neben seiner Lehrtätigkeit und zahlreichen Veröffentlichungen schreibt er regelmäßig eine Kolumne für die türkische Tageszeitung „Yeni Şafak“ (wörtlich: Neue Morgendämmerung). Die „Yeni Şafak“ ist bekannt für ihre Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“). Beiträge von Hayrettin Karaman sind aber bei der Analyse des türkischen Zeitgeschehens vor allem deshalb bedeutsam, weil er als einer der islamischen Gelehrten gilt, auf dessen Meinung zu aktuellen und grundsätzlichen Themen Präsident Erdoğan hört.

In seiner Kolumne in der „Yeni Şafak“ vom 22. Oktober beschäftigt sich Karaman unter der Überschrift „Das Ziel des Islam ist es nicht, die Umma zu spalten, sondern sie zu integrieren“ mit der Frage, ob es aus islamischer Sicht mehrere islamische Staaten geben solle. Für ihn steht die Antwort fest: „Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, wird die Umma ein einziger Staat sein und alle Muslime werden Untertanen dieses Staates sein.“

Neben einer Begründung dieser Hauptthese und der Diskussion darüber, wie diese Frage heute anzugehen sei, weil die „Voraussetzungen“ eben noch nicht gegeben seien, geht Karaman in einem Satz auch auf das Schicksal der Nichtmuslime in einem solchen islamischen Staat ein: „Wie wir schon oft zum Ausdruck gebracht haben, ist der Islamstaat nicht nur ein Staat der Muslime. Im Falle dass die Nichtmuslime (ihn) akzeptieren, werden sie eine einfache Steuer bezahlen, ihren Status bewahren und dadurch zu Staatsbürgern und zu Inhabern von Menschenrechten werden.“

Bei der angesprochenen Steuer geht es um die aus frühislamischer Zeit bekannte und auch im Osmanischen Reich, dem Vorgänger der Republik Türkei, lange Zeit angewandte „Kopfsteuer“, die speziell von Nichtmuslimen erhoben wird. Den „Status bewahren“ spielt vermutlich auf den Schutz an, den solche islamischen Staaten Juden und Christen gewährt haben, solange diese sich mit ihrem Stand als „Bürger zweiter Klasse“ zufrieden gaben und gewisse Sonderregeln einhielten, zu denen auch der unbedingte Verzicht auf Mission unter der muslimischen Mehrheitsbevölkerung gehörte.

Abgesehen von der vielleicht für manchen westlichen Beobachter verblüffenden Tatsache, dass in der lange als laizistisches Modell geltenden Türkei heute der ideale Islamstaat diskutiert wird, wirft die Bemerkung des Islamprofessors ein bezeichnendes Licht auf ein unter führenden Islamisten verbreitetes Verständnis der Menschenrechte. Menschenrechte werden nicht gemäß dem westlichen Verständnis als jedem Menschen von Anfang an eigene und unveräußerliche Rechte gesehen. Vielmehr vergibt der (islamische) Staat diese Rechte quasi als Gunstgewährung für ein den islamischen Regeln entsprechendes Wohlverhalten.

Wenn also heute weltweit über Menschenrechte gesprochen wird, kann man ohne genaue Begriffsbestimmung leicht aneinander vorbeireden.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner