Nachfolgend veröffentliche ich einen anonymen Gastbeitrag, der Einblick in die aktuelle Islamdebatte innerhalb der Türkei gewährt. Er fasst Äußerungen des Islamgelehrten Hayrettin Karaman zusammen, die kürzlich in einer dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nahestehenden Tageszeitung publiziert wurden.
Der Islamstaat nicht nur Staat der Muslime
Hayrettin Karaman ist ein türkischer Islamgelehrter. Neben seiner Lehrtätigkeit und zahlreichen Veröffentlichungen schreibt er regelmäßig eine Kolumne für die türkische Tageszeitung „Yeni Şafak“ (wörtlich: Neue Morgendämmerung). Die „Yeni Şafak“ ist bekannt für ihre Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“). Beiträge von Hayrettin Karaman sind aber bei der Analyse des türkischen Zeitgeschehens vor allem deshalb bedeutsam, weil er als einer der islamischen Gelehrten gilt, auf dessen Meinung zu aktuellen und grundsätzlichen Themen Präsident Erdoğan hört.
In seiner Kolumne in der „Yeni Şafak“ vom 22. Oktober beschäftigt sich Karaman unter der Überschrift „Das Ziel des Islam ist es nicht, die Umma zu spalten, sondern sie zu integrieren“ mit der Frage, ob es aus islamischer Sicht mehrere islamische Staaten geben solle. Für ihn steht die Antwort fest: „Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, wird die Umma ein einziger Staat sein und alle Muslime werden Untertanen dieses Staates sein.“
Neben einer Begründung dieser Hauptthese und der Diskussion darüber, wie diese Frage heute anzugehen sei, weil die „Voraussetzungen“ eben noch nicht gegeben seien, geht Karaman in einem Satz auch auf das Schicksal der Nichtmuslime in einem solchen islamischen Staat ein: „Wie wir schon oft zum Ausdruck gebracht haben, ist der Islamstaat nicht nur ein Staat der Muslime. Im Falle dass die Nichtmuslime (ihn) akzeptieren, werden sie eine einfache Steuer bezahlen, ihren Status bewahren und dadurch zu Staatsbürgern und zu Inhabern von Menschenrechten werden.“
Bei der angesprochenen Steuer geht es um die aus frühislamischer Zeit bekannte und auch im Osmanischen Reich, dem Vorgänger der Republik Türkei, lange Zeit angewandte „Kopfsteuer“, die speziell von Nichtmuslimen erhoben wird. Den „Status bewahren“ spielt vermutlich auf den Schutz an, den solche islamischen Staaten Juden und Christen gewährt haben, solange diese sich mit ihrem Stand als „Bürger zweiter Klasse“ zufrieden gaben und gewisse Sonderregeln einhielten, zu denen auch der unbedingte Verzicht auf Mission unter der muslimischen Mehrheitsbevölkerung gehörte.
Abgesehen von der vielleicht für manchen westlichen Beobachter verblüffenden Tatsache, dass in der lange als laizistisches Modell geltenden Türkei heute der ideale Islamstaat diskutiert wird, wirft die Bemerkung des Islamprofessors ein bezeichnendes Licht auf ein unter führenden Islamisten verbreitetes Verständnis der Menschenrechte. Menschenrechte werden nicht gemäß dem westlichen Verständnis als jedem Menschen von Anfang an eigene und unveräußerliche Rechte gesehen. Vielmehr vergibt der (islamische) Staat diese Rechte quasi als Gunstgewährung für ein den islamischen Regeln entsprechendes Wohlverhalten.
Wenn also heute weltweit über Menschenrechte gesprochen wird, kann man ohne genaue Begriffsbestimmung leicht aneinander vorbeireden.