Bibelwissenschaft

Der „Jesus“ von Morton Smith

Im Jahre 1973 veröffentlichte Morton Smith, ein angesehener Althistoriker, ein Manuskript, das er 1958 im Kloster Mar Saba südöstlich von Jerusalem entdeckt haben wollte. Das Manuskript enthielt den Teil eines Briefes, der Clemens von Alexandria zugeschrieben wurde. Die Entdeckung Smith’s löste viele Diskussionen über Jesus aus. Edwin M. Yamauchi schrieb damals für CHRISTIANITY TODAY:

Mit beachtlicher Gelehrsamkeit legt Smith ein starkes Argument für die Echtheit des Briefes vor, in dem behauptet wird, dass die karpokratianischen Gnostiker ihre Lehren aus einem geheimen Markus-Evangelium ableiteten. Es wird behauptet, dass Markus nach dem Tod des Petrus in Rom nach Alexandria kam und ein spirituelleres Evangelium für diejenigen verfasste, die sich vervollkommnen wollten. Zu den aus diesem Evangelium zitierten Passagen gehört die Beschreibung der Auferweckung eines toten Jünglings durch Jesus. Nach seiner Auferstehung kam der Jüngling mit nur einem Leinentuch über seinem nackten Körper zu Jesus, „und er blieb die Nacht bei ihm, denn Jesus lehrte ihn das Geheimnis des Reiches Gottes.“

Smith geht jedoch weit über die Beweise hinaus, indem er behauptet, dass dieses angebliche Evangelium älter ist als das kanonische Markus-Evangelium, und spekuliert, dass die ursprüngliche Essenz des Christentums erotische Magie war. Clemens‘ Brief scheint nicht mehr als ein Zeugnis für ein weiteres apokryphes Evangelium zu sein. Nur diejenigen, die bereit sind, das Schlimmste über das Christentum zu glauben, werden seine radikalen Ansichten über die bis dahin unbekannte Natur Christi als Vermittler erotischer Magie begrüßen.

Heute wissen wir mehr über die Arbeitsweise von Morton Smith. Ich zitiere aus Christus (m/w/d) von Anselm Schubert (München: C.H. Beck, 2024, S. 229–231):

Nur wenige Jahre später erfuhr die Debatte um die Männlichkeit Jesu eine unerwartete Verschärfung. Der amerikanische Neutestamentler Morton Smith (1915-1991) veröffentlichte im Jahr 1973 das Fragment eines «Geheimen Markusevangeliums», das er angeblich 1958 in der Bibliothek des bei Jerusalem gelegenen Klosters Mar Saba gefunden hatte. Der kurze Text gab sich als Kopie eines Briefes des Clemens von Alexandria an einen Unbekannten aus. Demnach existiere in Alexandria ein geheimes Evangelium aus der Feder des Markus, das Ketzer mit ihren Lügen verfälschten. Um sie zu widerlegen, gibt Clemens den echten Wortlaut eines Passus aus dem Evangelium wieder. Demnach habe Jesus einen Jüngling von den Toten auferweckt: «Und nach sechs Tagen beauftragte ihn Jesus, und am Abend kommt der Jüngling zu ihm, nur mit einem Hemd auf dem bloßen Leibe bekleidet. Und er blieb bei ihm jene Nacht, denn es lehrte ihn Jesus das Geheimnis des Reiches Gottes.» Smith interpretierte das nächtliche Ritual als Taufe, nach welcher der Täufling sich sexuell mit Jesus vereint habe, um gemeinsam mit ihm ins Reich Gottes entrückt zu werden. Erstmals stand in der akademischen und theologischen Debatte die quellengestützte Vermutung im Raum, es könne in der Urkirche einen homosexuellen Initiationsritus oder die Vorstellung vom Reiche Gottes als sexueller Erfüllung gegeben haben.

Das «Geheime Markusevangelium» gab den latenten Debatten um das Verhältnis von Christentum und Homosexualität neue Nahrung. Ähnlich wie Smith sah der niederländische Neutestamentler Sjef van Tilburg (1939-2003) 1993 die Beziehung Jesu zum sogenannten Lieblingsjünger im Johannesevangelium als ein homoerotisches Lehrer-Schüler-Verhältnis, wie man es aus der griechisch-hellenistischen Welt kenne. William E. Phipps überarbeitete sein Buch und erwog später unter Berufung auf das «Geheime Markusevangelium», dass Jesus schwul gewesen sein könnte. Noch 2009 vertrat der methodistische Theologe Theodore W. Jennings (1942-2020) in seinem Buch «The Man Jesus Loved» die These, das «Geheime Markusevangelium» bestätige die «hidden tradition» eines homosexuellen Jesus. Da Smith nur Fotos der vermeintlichen Abschrift bot, bestanden von Anfang an Zweifel an der Authentizität des angeblichen ClemensBriefes und damit an der Existenz des «Geheimen Markusevangeliums».

Heute nimmt man überwiegend an, dass Smith sich mit dem kirchlichen und wissenschaftlichen Establishment einen Scherz erlaubt und die Fälschung selbst angefertigt hat. Smith, selbst homosexuell, hatte den Ruf eines hochgebildeten, aber schwierigen Zeitgenossen, der sich zeitlebens an der Homophobie der christlichen Verkündigung abarbeitete. Neuere Analysen legen nahe, dass er seine Fälschung mit allen Mitteln der Textkritik anlegte, ihre Auffindungsfiktion nach Motiven eines damals bekannten Spionageromans gestaltete und möglicherweise sogar Hinweise auf seine eigene Autorschaft im Text verschlüsselte. Smiths Fälschung – der Text wie seine Inszenierung – erscheint heute als eine Parodie des Wissenschaftsbetriebs: als eines jener Pastiches, die die Gendertheoretikerin Judith Butler später als wichtigste Möglichkeit pries, den heteronormativen Diskurs punktuell zu unterlaufen und so in seiner Kontingenz zu entlarven.

Warum der Neue Bund die Vergebung der Sünden ermöglicht

Joel R. White schreibt in „Der eine Bund hinter den Bünden“ über die Wirkung des stellvertretenden Sühneopfers (Armin Baum u. P.H.R. van Houwelingen (Hrsg.), Kernthemen neutestamentlicher Theologie, Giessen: Brunnen, 2022, S. 41–57, hier S. 51–52):

Der entscheidende Impuls dafür, dass sich die neutestamentliche Gemeinde als Gottesvolk im neuen Bund verstand, kam nicht von Paulus, sondern von Jesus. Seine Worte beim Abschiedsmahl sind in den synoptischen Evangelien (Mt 26,2629; Mk 14,22–25; Lk 22,14–20) und bei Paulus (1 Kor 11,23–26) überliefert worden. 30 Sie liegen in zweifacher Gestalt vor, einer markinisch-matthäischen und einer paulinisch-lukanischen. Alle vier Berichte belegen, dass Jesus in seinen Einsetzungsworten von einem Bund sprach. Paulus und Lukas machen explizit, dass es sich dabei um den neuen Bund handelt: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird“ (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25). Dass hier auf Jer 31,31–34 angespielt wird, liegt auf der Hand. Markus (Mk 14,24), gefolgt von Matthäus (Mt 26,28), fügt der Aussage Jesu hinzu, dass sein Blut „für viele” vergossen wird. Er greift damit Jesu Aussage in Mk 10,45 auf, dass er sein Leben als Lösegeld „für viele“ gibt. Dadurch wird eine konzeptuelle Verbindung zur jesajanischen Vorstellung von einem leidenden Gottesknecht hergestellt, der als Sühneopfer dargebracht wird und „viele” gerecht macht (Jes 53,10–11), 31 Jesus selbst deutete an, wie einer der rätselhaften Aspekte des neuen Bundes in Erfüllung gehen sollte. Wie wir oben bereits gesehen haben, lässt Gottes Verheißung an Jeremia an eine einmalige Vergebung der grundsätzlichen „Sünde“ des Bundesbruchs denken. Das ist im Kontext des alten Bundes mit seinen sich ständig wiederholenden Versöhnungsriten geradezu unvorstellbar. Aber indem Jesus die Verheißung Jeremias mit der Konzeption vom leidenden Gottesknecht in Verbindung bringt, macht er deutlich, wie diese Vergebung geschehen kann: Er selbst wird das Opfer, das den Bruch des Bundes bzw. die Unfähigkeit des Volkes Gottes, den Bund einzuhalten, sühnt. Er begründet den neuen Bund durch seinen Tod am Kreuz.

So versteht es jedenfalls der Autor des Hebräerbriefs, der sich in Hebr 8,1–10,18 intensiv mit der Thematik des neuen Bundes auseinandersetzt. Er argumentiert, dass der Sinaibund eine Art Abbild eines besseren Bundes war (Hebr 8,5). Die Tatsache, dass von Jeremia ein neuer Bund angekündigt wurde (Jer 31,31–34 LXX wird in Hebr 8,8–12 in seiner Gesamtheit zitiert), impliziert, dass dem Sinaibund ein Defekt anhaftete – sonst bräuchte man keinen neuen Bund (Hebr 8,7) – und dass der erste Bund nach dem Kommen Christi ausgedient hat (Hebr 8,13). Der Hebräerbrief fährt fort, indem er die Kultstätte und die dort zu verrichtenden Opfervorgänge (Hebr 9,1–10) und im Kontrast dazu das Opfer Christi (Hebr 9,11–14) beschreibt. Unter Verweis auf Ex 24,8 betont er, dass ein Bund nur durch Blutvergießen geschlossen wird, weil es nur so Vergebung der Sünden geben kann (Hebr 9,15–28). Der alte Bund konnte diese Vergebung nur provisorisch erreichen; Christus hat sie ein für alle Mal bewirkt (Hebr 10,1–14). Somit erfüllte sich in ihm der neue Bund (Hebr 10,15–16), insbesondere die Verheißung Gottes, der Sünde des Volkes nicht mehr zu gedenken (Hebr 10,17–18).

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Das Studium des Neuen Testaments neu aufgelegt

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Das hilfreiche Werk Das Studium des Neuen Testaments ist beim Verlag VGTG neu erschienen. Das ist eine gute Nachricht, vor allem für Theologiestudenten und Pastoren. Tanja Bitter hat den Klassiker für Evangelium21 vorgestellt: 

Wie der Titel schon erwarten lässt, handelt es sich um ein Lehrbuch, das Theologiestudenten mit den einzelnen Schritten bzw. mit wichtigen Aspekten der neutestamentlichen Exegese bekannt macht. Die Herausgeber, Heinz-Werner Neudorfer und Eckhard Schnabel, haben dafür elf weitere Theologen mit ins Boot genommen, die jeweils einzelne Kapitel beisteuern. Das Buch ist also nicht „aus einem Guss“, sondern ein Sammelband mit Beiträgen unterschiedlicher Autoren.

Im Eröffnungskapitel vermitteln die beiden Herausgeber einen Überblick über Die Interpretation des Neuen Testaments in Geschichte und Gegenwart. Dabei verweisen sie unter anderem auf die problematischen Denkvoraussetzungen der historisch-kritischen Exegese sowie deren Ergebnisse: „Die historische Kritik hat in vielen Haupt- und Nebenfragen eine Vielfalt einander widersprechender Ergebnisse hervorgebracht“ (S. 23). Diese Erkenntnis ist durchaus in der Fachwelt angekommen (vgl. bereits Albert Schweitzers Untersuchung der Leben-Jesu-Forschung), obwohl das historisch-kritische Vorgehen nach wie vor als unverzichtbar gilt. Vor diesem Hintergrund schwankt die Auslegung mittlerweile zwischen Ratlosigkeit und Experimentiergeist. Wo sich kaum mehr etwas mit Sicherheit sagen lässt, ist der Ausleger in seiner Subjektivität gefangen und die Bibel wird zu einem Buch ohne ermittelbare Botschaft.

Demgegenüber verfolgen die Herausgeber eine Hermeneutik, „die dem Charakter der Bibel gerecht wird, … die sich der (An-)Erkenntnis Gottes des Schöpfers, Richters und Erlösers beugt und den Offenbarungsanspruch der Bibel als Wort dieses Gottes anerkennt“ (S. 25). Das schließt gründliche grammatisch-historische Forschungsarbeit nicht aus, sondern ein, denn Gott hat uns sein Wort im Kontext einer realen historischen Situation und in konkreter literarischer Form gegeben.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Analogia fidei

R.C. Sproul schreibt über die „Entsprechung des Glaubens“ (lat. analogia fidei, Bibelstudium für Einsteiger, 2023, S. 46–47):

Als die Reformatoren mit Rom brachen und die Position verteidigten, dass die Bibel die höchste Autorität der Kirche sein muss (sola scriptura – „allein die Schrift“), definierten sie mit großer Sorgfalt grundlegende Auslegungsprinzipien. Die erste Regel der Hermeneutik war die analogia fidei (wörtl. „Entsprechung zum Glauben(sinhalt)“ – im Folgenden als „Analogie des Glaubens“ bezeichnet). Diese Regel besagt, dass die Schrift selbst die Schrift interpretieren muss: Sacra Scriptura sui ipsius interpres („die Heilige Schrift ist ihr eigener Ausleger“). Das heißt einfach, dass kein Teil der Schrift so ausgelegt werden darf, dass er in Konflikt mit der Lehre einer anderen Schriftstelle gerät. Wenn zum Beispiel ein Vers auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden kann und dabei die eine Deutung dem Rest der Schrift widerspricht, während die andere mit ihr harmoniert, dann muss die letztere angewendet werden. Dieses Prinzip beruht auf der zugrunde liegenden Überzeugung, dass die Bibel das vertrauenswürdige inspirierte Wort Gottes und deshalb schlüssig und stimmig ist. Weil davon au gegangen wird, dass Gott sich nicht selbst widerspricht, wird es als Lästerung des Heiligen Geistes angesehen, eine abweichende Auslegung zu wählen, die die Bibel unnötig mit sich selbst in Widerspruch bringt. Diese Sorgfalt ist heute von denen über Bord geworfen worden, die die Inspiration der Schrift leugnen. Es ist an der Tagesordnung, dass die Schrift nicht nur entgegen der Schrift ausgelegt wird, sondern dass man dafür sogar keine Anstrengung scheut. Die Bemühungen von rechtgläubigen Theologen, schwierige Schriftstellen zu harmonisieren, werden ins Lächerliche gezogen und weitgehend ignoriert.

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Die neue Jakobusperspektive

Kenneth Wilson ist bekannt für seine Polemik gegen Augustinus und seine kritische Sicht auf die Reformation, insbesondere auf Luther und Calvin. Mit der Unterstützung von Roger Liebi hat er – was mich überrascht – auch in Deutschland eine gewisse Popularität erlangt. Mir scheint sogar, dass er hierzulande stärker wahrgenommen wird als in der viel größeren englischsprachigen Welt. Natürlich kann ich mich irren.

Vor vier Jahren hat Ken Wilson im Journal of Biblical Literature den Aufsatz „Reading James 2:18–20 with Anti-Donatist Eyes: Untangling Augustine’s Exegetical Legacy“ (Vol. 139, Nr. 2, 2020, S. 385–407) publiziert. Dort stellt er die These auf, dass auch die Lektüre des Jakobusbriefes durch den Einfluss Augustins verdorben sei. Er versucht, dies konkret an der Unterscheidung zwischen zwei Arten des Glaubens in Jak 2,19 zu demonstrieren. Es gibt demnach einen dämonischen Glauben ohne Werke, der geistlich gesehen in sich tot ist. Daneben gibt es einen rettenden Glauben, der gute Werke hervorbringt. Wilson behauptet nun, Augustinus habe den Begriff des „dämonischen Glaubens“ neu erfunden und damit einen dunklen Schatten über die Auslegung von Jak 2,18–20 gelegt. Kenneth Wilson liest V. 19 so, dass die Aussage über den Glauben der Dämonen nicht von Jakobus selbst stammt, sondern von seinen Gesprächspartnern. Augustinus habe seine irreführende Auslegung von Jak 2,19 politisch instrumentalisiert, um die Donatisten als außerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaft stehend zu verteufeln.

Jeffrey Dale hat inzwischen Wilsons Behauptung – nach meinem Dafürhalten – exegetisch erfolgreich widerlegt. Seine Antwort erschien ebenfalls im Journal of Biblical Literature als „Demonic Faith and Demonic Wisdom in James: A Response to Kenneth M. Wilson“ (Vol. 141, Nr. 1, 2022, S. 177–95).

Sein Fazit:

Die Anmerkung, mit der Wilson seinen Artikel beendet, lässt vermuten, dass er mit einer gewissen Ablehnung gerechnet hat. Im letzten Absatz spricht er die Möglichkeit an, dass viele Gelehrte nicht bereit sein werden, seine Lesart von Jak 2 zu akzeptieren. Er führt diesen Unwillen darauf zurück, dass „die anachronistische Neuerung des Augustinus“ als „fast unantastbar heilig“ fortbesteht.

Es ist zwar theoretisch möglich, dass ich aufgrund meiner unbewussten Abhängigkeit von Augustinus’ weitreichendem Einfluss nicht von Wilsons Vorschlag überzeugt bin. Allerdings glaube ich nicht, dass dies der Fall ist. Wie ich argumentiert habe, gibt es im Jakobustext eine starke Grundlage dafür, Jak 2,19 als Teil der Antwort auf den Gesprächspartner in Vers 18a zu lesen und als einen entscheidenden Teil der Argumentation von 2,14–26 zu betrachten. Der Begriff des dämonischen πίστις [dt. Glaubens] stammt von Jakobus, nicht vom Gesprächspartner, und er leistet einen wichtigen Beitrag zu Jakobus’ Kernaussage in diesem Abschnitt: Wahrer Glaube ist nicht nur etwas, das behauptet oder behauptet werden kann, sondern etwas, das durch Werke erwiesen werden muss. Auch die Dämonen halten an dem Glauben fest, dass „Gott einer ist“, aber das ist nicht die Art von πίστις, die zum Heil führt.

Diese Lesart von Jak 2 wird dadurch gestützt, dass der Abschnitt über zwei Arten von Weisheit (Jak 3,13–18) als interpretative Parallele verstanden wird, die Einblick in das jakobinische Denken bietet. Auf diese Weise bringt mein Vorschlag die Diskussion über die Einheit des Jakobusbriefs voran und hebt einige bedeutende thematische Resonanzen hervor, die ihn miteinander verbinden. Für Jakobus sind Glaube und Weisheit unterschiedliche Konzepte, aber sie funktionieren in einem ähnlichen Paradigma. Mangelhafte Formen der Weisheit und des Glaubens gehören zum dämonischen Bereich, aber wahre Weisheit und wahrer Glaube sind Gaben, die von oben kommen und zu guten Werken führen, d.h. zu Werken des Mitgefühls, der Barmherzigkeit, des Segens und der Harmonie, die das ausmachen, was Jakobus „reinen und unbefleckten Gottesdienst“ nennt (Jak 1,27).

H. Ridderbos: Das Kommen des Himmelreichs

Herman Ridderbos schreibt über das Kommen des Himmelreichs (Reich Gottes) in The Coming of the Kingdom (Philadelphia, PA : The Presbyterian and Reformed Publishing Company, 1962, S. 23–24):

[Der] absolut theozentrische Charakter des Reiches Gottes in der Verkündigung Jesu bedeutet auch, dass sein Kommen ganz und gar in Gottes eigenem Handeln besteht und vollkommen von seinem Wirken abhängig ist. Das Reich Gottes ist kein Zustand und keine Bedingung, keine von Menschen geschaffene und geförderte Gesellschaft (die Lehre des „sozialen Evangeliums“). Es wird nicht durch eine immanente irdische Entwicklung kommen, auch nicht durch menschliches moralisches Handeln; es sind nicht die Menschen, die es für Gott vorbereiten. Alle diese Gedanken bedeuten eine hoffnungslos oberflächliche Interpretation des gewaltigen Gedankens der Fülle und Endgültigkeit des Kommens Gottes als König, um zu erlösen und zu richten. Vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, ist das Himmelreich also in erster Linie etwas, worauf man mit Beharrlichkeit beten und warten muss. Sein Kommen ist nichts weniger als der große göttliche Durchbruch, das „Zerreißen der Himmel“ (Jesaja 64,1), der Beginn des Wirkens des göttlichen dynamis (Markus 9,1). Das Himmelreich ist also in seinem Ursprung absolut transzendent, es ist die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes (Mt 16,27; 24,30; Mk 8,38; 13,26 usw.). Deshalb ist die Doxologie am Ende des Vaterunsers in vielen Handschriften („denn dein ist das Reich …“), auch wenn sie ursprünglich nicht dort steht, die denkbar passendste Formel, um das „Gebet des Reiches“ zu beschließen. Das Reich hat nicht nur mit Gott zu tun, es hat auch seinen Ursprung bei ihm. Sein Kommen ist nur auf der Grundlage seines wundersamen und allmächtigen Handelns zu verstehen.

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Was ist das Evangelium?

Andreas Köstenberger hat für das Buch Faith Comes by Hearing: A Response to Inclusivism (hrsg. von Christopher W. Morgan und Robert A. Peterson, InterVarsity, 2008) das Kapitel „The Gospel for All Nations“ (dt. Das Evangelium für alle Völker, S. 201–219) beigesteuert. Er beschreibt dort fünf Beobachtungen: 

  1. Das Evangelium ist göttlich, nicht menschlich: Es ist die rettende Botschaft Gottes an eine in Finsternis lebende Welt und eine in ihrer Sünde verlorene Menschheit. Das Evangelium ist keine menschliche Botschaft, und seine Entstehung geht auch nicht auf menschliche Initiative zurück, sondern sein Ursprung und sein Anstoß kommen allein von Gott.
  2. Das Evangelium ist notwendig, nicht optional: Die Annahme des Evangeliums ist für die Errettung nicht optional, sondern aufgrund der allgegenwärtigen menschlichen Sündhaftigkeit erforderlich.
  3. Das Evangelium ist christologisch, nicht nur theologisch: Es ist nicht vage theologisch, als ob es verschiedene Heilswege geben könnte, je nachdem, ob man an einen bestimmten Gott glaubt oder ob man in der Lage ist, das Evangelium in klarer Weise zu hören; es ist entschieden und konkret christologisch, das heißt, es konzentriert sich auf die Erlösung durch den stellvertretenden Kreuzestod des Herrn Jesus Christus. 
  4. Kein anderes Evangelium: Das messianische Motiv, das die ganze Heilige Schrift durchdringt und in dem Herrn Jesus Christus seinen Mittelpunkt hat, und der „Missionsbefehl“ des auferstandenen Jesus an seine Nachfolger, zu den Völkern zu gehen und sie zu Jüngern zu machen, verbinden untrennbar das Verständnis des Evangeliums als der ausschließlichen Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus mit dem Auftrag der Kirche, missionarisch tätig zu werden.
  5. Kein anderer Name als Jesus: Angesichts der oben erwähnten eindeutigen Bibelstellen und angesichts der starken und durchdringenden Verweise der Bibel auf das Evangelium gibt es keine angemessene Grundlage, um für eine Erlösung zu argumentieren, wenn man nicht ausdrücklich an Jesus Christus glaubt. 

Mehr: biblicalfoundations.org.

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„Umkehr“ in der Verkündigung von Jesus

Joachim Jeremias schreibt über die „Umkehr“ in der Verkündigung von Jesus (Neutestamentliche Theologie: Erster Teil, 1988, S. 151–152): 

Jesus sieht die Menschen in ihr Verderben rennen. Es steht alles auf des Messers Schneide. Es ist letzte Stunde. Die Gnadenfrist läuft ab. Unermüdlich weist er auf die Bedrohlichkeit der Situation hin. Siehst du nicht, sagt er, daß du in der Lage des Beklagten bist, der vor dem Gerichtshaus steht und dessen Prozeß hoffnungslos ist? Es ist die letzte Minute, dich mit deinem Gegner zu vergleichen (Mt 5,25f. par. Lk 12,58f.). Siehst du denn nicht, daß du in der Lage des Verwalters bist, dem das Messer an der Kehle sitzt, weil seine Betrügereien aufgedeckt sind? Lerne von ihm! Er läßt die Dinge nicht treiben, er handelt resolut, wo alles auf dem Spiel steht (Lk 16,1–8a, erweitert durch kommentierende Logien V. 8b-13). Jeden Augenblick kann der Ruf erschallen: der Bräutigam kommt; dann zieht der Hochzeitszug mit den Fackeln* in den Festsaal, und die Tür wird verschlossen, unwiderruflich. Sorge dafür, daß du Öl für die Fackel hast (Mt 25, 1–12). Leg das Hochzeitsgewand an, ehe es zu spät ist (Mt 22,11–13). Mit einem Wort: Kehre um, solange es noch Zeit ist.

Die Umkehr, das ist die Forderung der Stunde. Umkehr ist nötig nicht nur für die sogenannten Sünder, sondern ebenso, ja noch mehr, für die, die nach dem Urteil der Umwelt „der Buße nicht bedurften“ (Lk 15,7), für die Anständigen und Frommen, die keine groben Sünden begangen hatten; für sie ist die Umkehr am dringlichsten.

Was meint Jesus aber, wenn er fordert: Kehrt um? Wieder ist typisch, daß die Vokabeln metanoia und metanoein kein erschöpfendes Bild geben von dem, was Jesus unter Umkehr verstehts. Eine deutlichere Sprache reden die Gleichnisse; am klarsten und schlichtesten sagt es das Gleichnis vom verlorenen Sohn“. Die Wende seines Lebens wird umschrieben mit seis eauton de eltwn (Lk 1S, 17), hinter dem ein aramäisches hadar beh stehen dürfte, das nicht wie die griechische Formulierung „er kam in vernünftige Geistesverfassung“, sondern „er kehrte um“ bedeutet. Dabei ist das erste, daß er seine Schuld bejaht (V. 18). So bejaht auch der Zöllner seine Schuld: „Er wagte ess nicht, die Augen zum Himmel zu erheben“, geschweige denn (so ist zu ergänzen) die Hände (Lk 18,13). Statt des üblichen Gebetsgestus der erhobenen Hände und Augen schlägt er sich verzweifelt an die Brust mit den Anfangsworten des s r. Psalms, die er um den (adversativ gemeinten!) Dativ tã Quaotalã erweitert: „O Gott, sei mir gnädig, obwohl ich so sündig bin.“ Die Meinung ist wohl, daß der Zöllner den ganzen Bußpsalm gebetet habe: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deinem großen Erbarmen. Wasche mich rein von meiner Schuld, reinige mich von meiner Sünde. Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde steht mir immer vor Augen …“ Diese Bejahung der Schuld hat nicht nur vor Gott zu geschehen, sondern auch vor den Menschen. Sie äußert sich in der Bitte um Vergebung an den Bruder (Mt 5,23f.; Lk 17,4) und im Mut zum öffentlichen Sündenbekenntnis (19,8).

Umkehr ist nun aber mehr als Reue. Sie ist Abkehr von der Sünde. In immer neuen Bildern fordert Jesus diese Abkehr, und zwar stets konkret, von jedem in seiner Lage. Vom Zöllner erwartet er die Abkehr vom Betrug (Lk 19,8), vom Reichen die Abkehr von der Mammonsherrschaft (Mk 10, 17–31), vom Eitlen die Abkehr von der Hoffart (Mt 6,1–18). Wer einem anderen Unrecht getan hat, soll es wiedergutmachen (Lk 19,8). Hinfort soll der Gehorsam gegen Jesu Wort das Leben bestimmen (Mt 7,24–27), das Bekenntnis zu ihm (Mt 10,32f. par.), die Nachfolge, die allen anderen Bindungen vorgeht (V. 37 par.).

Lebensschutz in der Bibel?

Nele Pollatschek sucht in der SZ nach neuen Arguementen in der Abtreibungsdebatte und versteigt sich zu der Behauptung, dass sich die Bibel nur an einer Stelle für den Schutz ungeborenen Lebens ausspricht, nämlich in 1Mose 38:

Wann also beginnt potenzielles Leben? Auf der Suche nach Antworten hilft die Bibel. Ein Buch, das sich in der “ Pro Life“-Bewegung großer Beliebtheit erfreut, obwohl es sich insgesamt eher pro-Schwangerschaftsabbruch geriert – ständig werden Feten in Gottesnamen aus ungläubigen Bäuchen gerissen. Die einzige Passage, die sich explizit für den Schutz potenziellen Lebens starkmacht, findet sich in Genesis 38. Nach dem Tod seines Bruders soll Onan mit dessen Witwe einen Nachkommen zeugen. Allerdings lässt Onan seinen Samen lieber zur Erde fallen, wofür Gott ihn mit dem Tod bestraft.

Wenn die Bibel männlichen Samen als potenzielles Leben ansieht, erkennt sie etwas biologisch Korrektes, denn tatsächlich strebt schon ein Spermium danach, menschliches Leben zu werden, indem es sich auf eine Eizelle zubewegt. Ein Spermium kann vom Bestreben, Leben zu werden, nur abgehalten werden, indem man es statt mit einer Eizelle mit unbelebbarem Milieu konfrontiert. Erde, Taschentuch, Socke, der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt.

Da hat sich Frau Pollatscheck freilich verrannt. In 1Mose 38,8–9 weist Juda seinen zweiten Sohn Onan an, den Brauch der „Leviratsehe“ zu erfüllen, wonach ein Bruder die kinderlose Witwe seines Bruders heiraten und ihr Kinder schenken musste (vgl. 5Mose 25,5–10; Rut 1,11–13; 4,1–12; siehe a. Mt 22,24–25; Lukas 20,28). Der Text möchte gar nicht sagen, dass im männlichen Samen ein potentieller Mensch steckt. Nele Pollatscheks Strohmann-Argument, dass nämlich ungeborenes Leben nur dann Schutz verdient, wenn auch männliche Samen Lebensschutz erhalten, ist hinfällig. 

Es gäbe durchaus andere Bibeltexte, die davon sprechen, dass ungeborene Kinder Lebensschutz verdienen. Wie wäre es mit Jeremia 1,5, wo Gott zu dem Propheten spricht: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“ Oder Psalm 139,13–16, in dem der König David ausspricht, dass seine Erschaffung im Mutterleib ein Grund dafür ist, Gott als den Schöpfer zu loben:

Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, da ich im Verborgenen gemacht wurde, da ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.

Übrigens: Der Artikel von Frau Dr. Pollatschek ist wirklich seelenlos. Sie schlägt vor, dass in Deutschland in die Forschung für Uterus-Transplantationen investiert wird und dann in Zukunft die Männer, die gegen Schwangerschaftsabbrüche sind, sich eine Gebärmutter anschaffen und als Trans-Frauen potentielles Leben austragen dürfen: „Sollte die Forschung bei Transplantationen von Gebärmüttern in trans Frauen erfolgreich sein, könnten sich auch xy-chromosomale Schwangerschaftsabbruchsgegner für das Austragen potenziellen Lebens zur Verfügung stellen. Das wäre ein guter Kompromiss.“

Diesem seelenlosen Geplär setzte ich – auch wenn ich mich wiederhole – Bonhoeffers kluge Stellungnahme entgegen (Ethik, Werkausgabe, Bd. 6, S. 203–204):

Mit der Eheschließung ist die Anerkennung des Rechtes des werdenden Lebens verbunden, als eines Rechtes, das nicht in der Verfügung der Eheleute steht. Ohne die grundsätzliche Anerkennung dieses Rechtes hört eine Ehe auf Ehe zu sein und wird zum Verhältnis. In der Anerkennung aber ist der freien Schöpfermacht Gottes, der aus dieser Ehe neues Leben hervorgehen lassen kann nach seinem Willen, Raum gegeben. Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. Die Erörterung der Frage, ob es sich hier schon um einen Menschen handele oder nicht, verwirrt nur die einfache Tatsache, daß Gott hier jedenfalls einen Menschen schaffen wollte und daß diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist. Das aber ist nichts anderes als Mord. Daß die Motive, die zu einer derartigen Tat führen, sehr verschiedene sind, ja daß dort, wo es sich um eine Tat der Verzweiflung in höchster menschlicher oder wirtschaftlicher Verlassenheit und Not handelt, die Schuld oft mehr auf die Gemeinschaft als auf den Einzelnen fällt, daß schließlich gerade an diesem Punkt Geld sehr viel Leichtfertigkeit zu vertuschen vermag, während bei den Armen auch die schwer abgerungene Tat leichter ans Licht kommt, dies alles berührt unzweifelhaft das persönliche, seelsorger[liche] Verhalten gegenüber dem Betroffenen ganz entscheidend, es vermag aber an dem Tatbestand des Mordes nichts) zu ändern. Gerade die Mutter, der dieser Entschluß zum Verzweifeln schwer wird, weil er gegen ihre eigenste Natur geht, wird die Schwere der Schuld am wenigsten leugnen wollen.

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