Syst. Theologie

Die Überhöhung des Zweifels bei Paul Tillich

Klaus Bockmühl hat sich in seiner Vorlesung kritisch zur Überhöhung des Zweifels bei Paul Tillich geäußert (Verantwortung des Glaubens im Wandel der Zeit, 2001, S. 221):

Etwas ist jedenfalls ganz sicher, daß nämlich der biblische Glaube durchaus keinen Platz für den Zweifel hat. Der biblische Glaube zielt darauf, den Zweifel zu entfernen. In Matthäus 21,2I sagt Jesus: „Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt …“  Glaube und Zweifel sind also Gegensätze. In Matthäus 28,17 heißt es: „Einige aber zweifelten“ zur Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Aber nach Pfingsten war es anders. Das Evangelium beschreibt also den Glauben nicht als Einbau, sondern als Überwindung des Zweifels.

Ich gebe zu, daß die Überwindung des Zweifels ein andauernder Prozeß ist, aber das ist nicht dasselbe wie die Einverleibung des Zweifels in den Glauben. Im Hebräischen bedeutet das Wort für Glauben „festmachen, konsolidieren, gewiß machen“, was soviel sagen soll wie, die Unstabilität, die Möglichkeit von zwei miteinander im Konflikt stehenden Wahrheiten muß überwunden werden. Wenn wir auf Abraham als den Vater des Glaubens schauen, dann wird Glaube dort als Vertrauen verstanden. Da geht es nicht wesentlich auch um den Zweifel, sondern die wesentliche Konsequenz des Glaubens ist der Gehorsam. Zweifel führt zum Zögern und zum Ungehorsam, aber Glaube ist die vertrauensvolle Überbrückung der Wartezeit zwischen der Verheißung und der Erfüllung, und zwar im bewußten Handeln. Dabei spreche ich nicht von gegen alle Zweifel gefeiter Sicherheit, über die Tillich sich lustig machte – fundamentalistische Sicherheit. Es ist vielmehr so, daß der Glaube ständig mit dem Zweifel kämpft, aber nicht bereit ist, dem Zweifel eine Berechtigung einzuräumen, sondern versucht, ihn zu überwinden. Ich denke, daß Tillich mit seiner Behauptung, daß der Zweifel im philosophischen Betrieb, aber auch in der biblischen Religion dazugehört, in beiden Fällen irrt.

Monitor: Sieg der Glaubenskrieger?

Mit der Sendung „Gotteskrieger: AfD und radikale Christen“ erreicht das ARD-Magazin MONITOR einen neuen Tiefpunkt im gebührenfinanzierten Nicht-Journalismus. Es geht gar nicht mehr um eine inhaltliche Klärung von Fragen zum Lebensrecht, sondern darum, gegen Menschen zu hetzen, die sich für den Lebensschutz Ungeborener einsetzen. Natürlich werden Lebensschützer dabei pauschal mit christlichen Nationalisten in den USA in Verbindung gebracht. Es geht ihnen gar nicht so sehr um den Schutz der Menschenwürde, sondern um den politischen Umsturz – wird unterstellt.

Franziska Harter von der TAGESPOST hat die Sendung treffend kommentiert

Einen Nachweis für die angebliche Diffamierung und Hetze sucht man in der gesamten Sendung freilich umsonst. Ebenso fehlt jeglicher Hauch einer Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Argumenten der Lebensschützer. Wozu auch, wenn es doch so viel einfacher ist, genau das zu tun, was die Produzenten der Sendung den Gegnern von Brosius-Gersdorf vorwerfen, nämlich faktenfrei Meinung zu machen. Deswegen kommt in der gesamten Sendung auch niemand aus dem Kreis der herbeifantasierten rechts-religiösen Verschwörung zu Wort. Stattdessen suggeriert Monitor durch Bildauswahl und Hintergrundmusik nur allzu platt, dass gläubige Menschen zu mehr als hysterisch-irrationalen Ausfällen und dem Schwenken von Jesus-Fahnen nicht fähig sind. Journalismus, der diesen Namen verdient, sieht anders aus. Aber gebührenfinanzierte Sender stehen ja nicht unter Konkurrenzdruck, da braucht man an journalistische Qualität wohl keine hohen Ansprüche stellen.

Christen wird ja gern Lobbyarbeit vorgeworfen. Was macht eigentlich MONITOR?

Das Magazin präsentiert sich als Sprachrohr von Neil Datta, dessen Kampf gegen den Lebensschutz von der International Planned Parenthood Federation, der Open Society, dem UN-Bevölkerungsfonds und der EU-Kommission finanziert wird. Neil Datta ist Sekretär des Europäischen Parlamentarischen Forums für sexuelle und reproduktive Rechte (EPF). Dieses in Brüssel ansässige Netzwerk von Europaparlamentariern setzt sich für die Verteidigung der sexuellen und reproduktiven Menschenrechte in Europa und der ganzen Welt ein. Ziel ist es, ein europaweites Menschenrecht auf Abtreibung zu schaffen (vgl. hier). 

Datta ist also ein lupenreiner Lobbyist. Das darf er in einer freien Welt auch sein. Er arbeitet allerdings nicht mit fairen Mitteln. Er geht so weit, dass er Lebenschützern vorwirft, zu lügen und mit Faschisten zusammenzuarbeiten. Datta begrüßt es, dass Lebensrechtler als „Hassgruppen“ eingestuft und vor Gerichte gezerrt werden. Das klingt dann so

Aber im Unterschied zu progressiven Organisationen versuchen sie ihre Absichten zu verbergen, indem sie offen darüber lügen, was sie tun und wer sie sind. Sie präsentieren sich der Öffentlichkeit als Menschen mit guten Absichten, aber hinter verschlossenen Türen kooperieren sie mit der extremen Rechten und den Faschisten, mit denen sie die gleichen Ziele teilen. Sie würden das niemals zugeben, aber jetzt, da dies an die Öffentlichkeit gelangt, sind sie gezwungen, mit den Folgen all dessen zu leben.

Gut, dass man sich in einer freien Gesellschaft mit friedlichen Mitteln gegen solchen ideologischen Aktivismus zur Wehr setzen darf!

Die beunruhigende Nähe Jugerndlicher zum Chatbot

Jugendliche vertrauen ChatGPT nahezu blind, was zu allerlei Problemen. Sandra Kegel schreibt dazu:

KI-Modelle wie ChatGPT oder Character.AI kann man auch als Speichellecker bezeichnen. Weil sie so programmiert sind, dass sie ihre Nutzer nicht etwa hinterfragen, sondern ihnen genau das sagen, was diese hören wollen. Das bleibt nicht folgenlos. So stand 2023 ein Engländer vor Gericht, der Elizabeth II. in Schloss Windsor ermorden wollte. Laut Staatsanwaltschaft wurde er von einer KI namens „Sarai“ dazu angestiftet.

Im selben Jahr nahm sich ein Belgier das Leben, nachdem er mit einem Chatbot namens „Eliza“ wochenlang korrespondiert hatte. Die Chatprotokolle wurden von der Witwe veröffentlicht. Demnach befeuerte der Bot die Ängste des Mannes und bot an, zusammen mit ihm zu sterben. Im Oktober vergangenen Jahres verklagte eine Mutter in Florida Character.AI wegen Totschlags. Sie behauptet, der Algorithmus habe ihren vierzehnjährigen Sohn in eine derart missbräuchliche Beziehung verstrickt, dass dies seinen Suizid ausgelöst habe.

Vor diesem Hintergrund ist eine Studie bemerkenswert, die sich mit dem blinden Vertrauen von Kindern und Jugendlichen in KI-Modelle wie ChatGPT beschäftigt. Der Algorithmus „erklärt“ Dreizehnjährigen auf Anfrage demnach nicht nur, wie sie sich betrinken und high werden können, sondern gibt auch Anleitungen, wie man Essstörungen verbergen kann, und verfasst auf Wunsch „Abschiedsbriefe“, die ein suizidgefährdeter Jugendlicher seinen Eltern hinterlassen möchte.

Inzwischen nutzen 800 Millionen Menschen allein ChatGPT, gut zehn Prozent der Weltbevölkerung. In Deutschland sind es knapp zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen. Zwar ist es das Privileg der Jugend, sich neuesten Entwicklungen weniger misstrauisch zuzuwenden als Ältere, schon allein, weil sie mit Technologie aufgewachsen sind. Die mangelnde Distanz führt jedoch zu einer riskanten Nähe und beunruhigenden Vertrautheit, die Kinder und Jugendliche heute wie selbstverständlich sagen lässt, sie hätten sich mit ChatGPT „unterhalten“.

Mehr: www.faz.net.

Das christliche Menschenbild bildet den ethischen Kern

Auch Thomas Söding, katholischer Neutestamentler, hat auf den Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf reagiert und eine Form des Naturrechtsdenkens gegen ihn verteidigt (FAZ, 11.08.2025, Nr. 184, S. 11). Er schließt sich der Sichtweise von Ernst-Wolfgang Böckenförde an: „Der Rechtsstaat verleiht die Menschenwürde nicht, sondern garantiert sie. Er hat keine Definitionshoheit über sie, sondern muss sich auf Normen und Werte, auf Überzeugungen und Argumente beziehen, die seine Gesetze begründen und deren Befolgung mit Leben erfüllen.“ 

Auch darin stimme ich ihm zu:

Das „christliche Menschenbild“ ist der ethische Nukleus. Die biblische Anthropologie spannt von der Erschaffung über die Versuchung bis zur Vollendung des Menschen, vom Sündenfall bis zur Vergebung, von den Klageschreien bis zu den Seligpreisungen einen universalen Spannungsbogen, der jeden Rassismus, jeden Nationalismus, jeden Darwinismus in die Schranken weist. Es ist eine uralte Tradition, das Menschsein nicht an Eigenschaften festzumachen, nicht an Intelligenz, Status, Geschlecht oder Religion, sondern am Menschsein selbst, theologisch: an der Bejahung durch Gott, der Leben schenkt und erhält.

Diese Glaubensüberzeugung muss in den Kirchen – durch Theologie – immer wieder bedacht und vermittelt werden; die Gesellschaft hat darauf einen Anspruch, die Politik profitiert davon. Wenn dies geschieht, sind die Kirchen ein konstruktiver Faktor im Aufbau des politischen Gemeinwesens. Deshalb liegt es im Eigeninteresse des demokratischen Rechtsstaates, Religionsfreiheit zu garantieren – nicht nur den Kirchen. Die Option für die Armen, die Solidarität mit den Leidenden, die Hoffnung für die Toten sind nicht exklusiv, aber positiv christliche Orientierung, die sozialethische Kraft entwickelt und dadurch auch das Recht beeinflusst, vom Recht auf Leben bis zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

In derselben Konsequenz kann es aber auch Abgeordneten nicht verwehrt werden, sich bei parlamentarischen Abstimmungen in Gewissensfragen auf das zu beziehen, was ihnen ihr Glaube sagt. Der Schutz des ungeborenen Lebens war, ist und bleibt der empfindlichste Punkt, an dem der Staat seine Aufgabe zu erfüllen hat, die Menschenwürde zu schützen und Rechtsfrieden zu garantieren.

Das Grundgesetz ist nicht gottgegeben, sondern „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ vom Souverän erlassen, dem „Deutschen Volk“. Diese Verantwortung zu deuten, ist die Aufgabe der Rechtswissenschaften, ihr zu entsprechen, die der Legislative wie der Exekutive, sie zu sichern, die der Rechtsprechung. Die Aufgabe der Theologie ist es nicht, sich aus dem öffentlichen Diskurs der Politik und der Jurisprudenz zurückzuziehen, sondern nachzuweisen, dass und wie die Kirchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern, die Menschenwürde verteidigen, die Menschenrechte begründen, der Gerechtigkeit dienen und gleichzeitig helfen, die Versuchung der Überhöhung politischer Macht zu bestehen.

Nochmal: Der Mensch und das Naturrecht

Der Moraltheologe Peter Schallenberg hat erfreulicherweise den hier im Blog schon thematisierten Artikel „Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesetzt“ von Friedrich Wilhelm Graf (ebenfalls in der FAZ) inhaltlich widerlegt. Er nutzt dafür interessanterweise eine existenzialistische Argumentationsfigur (aus dem Da-Sein entfaltet sich das So-Sein) und ein Kant-Argument (der Wert eines Menschen kennt keinen Preis). Inhaltlich stimme ich zu: die Menschenwürde ist unbedingt. Es ist kein naturalistischer Fehlschluss zu meinen, „es sei oberste Aufgabe der Verfassung, das unbedingte Lebensrecht jedes Menschen vom frühestmöglichen Zeitpunkt der Individuation bis zum spätestmöglichen medizinischen Ende zu garantieren. Es ist vielmehr modernes Naturrecht als Personrecht.“

Hier ein Auszug aus „Der Mensch als unverzichtbares Wesen der Gesellschaft“ (FAZ, 07.08.2025, Nr. 181, S. 9):

Die bisherige Rechtsprechung relativiert nicht die Menschenwürde des ungeborenen Menschen gegenüber der Mutter, sondern verzichtet lediglich auf die Strafverfolgung im Fall der Rechtswidrigkeit – ein ungewöhnlicher, aber nicht undenkbarer Vorgang. Das Strafrecht sieht sich außerstande, eine rechtswidrige Tat zu ahnden, nicht mehr und nicht weniger. Daraus lässt sich aber keine Abstufung des Lebensrechtes oder eine Relativierung der Menschenwürde ableiten. Das ist nämlich auch der Sinn des Artikels 1 GG: Die Würde des Menschen ist selbstverständlich nicht nur unantastbar für den Staat, sie ist auch unantastbar für den Mitmenschen und für den Menschen selbst (weswegen Selbsttötung eben nicht eigentlich eine Freiheitstat, sondern ein Abbruch der Freiheit zum Leben ist).

Das alles ist nicht zuerst christlich (und schon gar nicht katholisches Exoticum wie eine Fronleichnamsprozession) und erst recht nicht „rechts“ im Unterschied zu „links“. Qualität folgt vielmehr der Quantität, Da-Sein entfaltet sich zum So-Sein. Jeder Mensch hat das unbedingte Recht auf Überleben, am frühesten Anfang des Lebens als soeben befruchtete Eizelle, als Embryo und als menschliche Person. Und am spätestmöglichen Ende des Lebens, möglicherweise dement und inkontinent und schwerst pflegebedürftig: aber vollkommen unbezweifelbar als liebenswürdige Person. Was christlich Gottebenbildlichkeit heißt, nennen die Philosophie und das Naturrecht Menschenwürde: unbezweifelbar und unbedingt. Dies ist kein naturalistisch-biologistischer Fehlschluss, wie die Befürworter einer liberalen Regelung des Abtreibungsrechts behaupten, sondern Ausdruck der Grundüberzeugung unseres Grundgesetzes, dass von Natur aus – daher Naturrecht – jeder Mensch leben will und leben soll. Darin liegt seine unantastbare Menschenwürde als Person.

Und diese Menschenwürde, verstanden als Ausnahme und Herausnahme in einer Welt der Dinge und der Gebrauchsgegenstände, ist eben nicht, wie Frauke Brosius-Gersdorf meint, zu trennen vom Lebensrecht. Spitzfindig meint sie, dem frühen Embryo komme wohl Lebensrecht, aber nicht Menschenwürde zu, da sonst jede Form der Abtreibung unerlaubt sei. Ungewollt trifft sie in der Tat den kantianischen Nagel auf den Kopf: In der Tat ist nach Immanuel Kant jede direkte Tötung eines Menschen immer und überall unerlaubt, weil ihr eine Bewertung und damit eine Verzwecklichung der Menschenwürde vorangeht. Diese strikten Ansichten zum Lebensschutz haben auch unser Grundgesetz mit den unveräußerlichen Grundrechten wesentlich geprägt. Und hier ist eben keine „Politik des Kompromisses“ möglich, wie Graf im Anschluss an Hans Kelsen nahelegt. Vielmehr meint ein modernes und doch striktes Naturrecht: Jeder Mensch ist von Natur aus aus der Welt der Gegenstände und Zwecke ausgesondert, und daher also ist nach dem Naturrecht, unabhängig von Glauben und Konfession, jede direkte Tötung eines unschuldigen Menschen immer und überall unerlaubt.

Die einzige Ausnahme ist der Fall der Notwehr bei schuldigem Angreifer, was offenkundig für das unschuldige ungeborene Kind nicht zutrifft, dessen einzige „Schuld“ es sein könnte, ungewollt und ungeplant oder schwer behindert zu sein.

Die aktuelle Debatte um das „Naturrecht“

Nach Auffassung des sogenannten Rechtspositivismus gilt als Recht allein das, was der Gesetzgeber als solches verabschiedet hat. Eine Beurteilung des Rechts an moralischen Maßstäben verbietet sich in rechtspositivistischen Gesellschaften, weil es keine einheitlichen Moralvorstellungen gibt. Kurz: Jegliches Recht ist von Menschen gemacht.

In Abgrenzung zu diesem Rechtspositivismus vertritt das Naturrecht, dass Recht und Moral nicht so einfach voneinander getrennt werden können. Etwas ist Recht oder Unrecht, weil es uns mit der Natur gegeben ist. Die Natur lehrt demnach gewisse Dinge. Zum Beispiel lehrt sie uns (oder – reformatorischer gesprochen: Gott lehrt durch seine Schöpfung), dass Menschen sterblich sind. Oder Eltern die Kinder wegzunehmen, ohne das es dafür schwerwiegende Gründe gibt, ist Unrecht – egal was das positive Recht dazu sagt. Alle vom Menschen gemachten Gesetze müssen an der Moral gemessen werden. Nur Gesetze, die diesen moralischen Ansprüchen genügen, können den Anspruch erheben, befolgt zu werden. So waren viele Gesetze der Nationalsozialisten – etwa die Rassengesetze – objektives Unrecht.

Der Philosoph Robert Spaemann (1927–2018) hat einmal gesagt („Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht?“, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 27–34, hier S. 27, ich habe das alles schon mal hier dargelegt):

Nach den grauenhaften Tyranneien des 20. Jahrhunderts ist der Rechtspositivismus eigentlich kaum zu retten. Er ist eine Schönwettertheorie. Er entzieht der Verurteilung von Staatsverbrechen jede objektive Grundlage. Wenn der Wille des Gesetzgebers an keinen ihm vorgegeben Maßstab des Richtigen und des Falschen, des Guten und des Schlechten gebunden ist, und wenn die Verkündigung im Gesetzblatt eines Staates die höchste Legitimation der Gesetze ist, dann kann es keine Rechtfertigung geben, die den Bürger auf irgend eine Weise im Gewissen binden kann.

Trotz dieses offensichtlichen Problems (und der dramatischen Entwicklungen im Dritten Reich) hat sich in Deutschland der Rechtspositivismus durchgesetzt. Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz (Friedrich-Wilhelms Universität Bonn) erklärte zum Beispiel kürzlich in „Für den Stammtisch ungeeignet“ (FAZ, 31.07.2025, Nr. 175, S. 6) anlässlich der Auseinandersetzung um Frauke Brosius-Gersdorf:

Die große Leistung positiver Grundrechte besteht nicht darin, angeborene Rechte zu garantieren. Anachronistisches Naturrechtsdenken spielt im gegenwärtigen Staatsrecht aus gutem Grund keine Rolle mehr. Grundrechte ordnen nicht die Welt manichäisch in Gutes und Schlechtes. Sie verteilen vielmehr Argumentationslasten und rationalisieren den politischen Umgang mit allgegenwärtigen Freiheitskonflikten. Grundrechtsdogmatisch gibt es zunächst einmal nichts per se Verbotenes. Was nicht durch verfassungskonforme Regelung verboten ist, bleibt erlaubt. Grundrechte zwingen daher den Staat zur qualifizierten Rechtfertigung, wenn er in Schutzbereiche eingreifen will. Rechtfertigung verlangt wiederum Differenzierung.

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat wenige Tage später in „Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesetzt“ dem Naturrechtsdenken ebenfalls eine Abfuhr erteilt (FAZ, 04.08.2025, Nr. 178, S. 9): 

Gerade in deutschen Debatten war „Naturrecht“ immer ein konfessionell heftig umstrittener Begriff. Für katholische Moraltheologen spielte er seit dem Neothomismus des späten neunzehnten Jahrhunderts eine zentrale Rolle, wohingegen ihn prominente protestantische Theologen vehement ablehnten. Denn „Natur“ ist mit Blick auf den möglichen normativen Bedeutungsgehalt ein höchst vieldeutiges, vages Konzept. Die Vorstellung, dass aus wie auch immer näher bestimmtem naturalem Sein Sollensforderungen abgeleitet werden können, führt in Debatten über den „naturalistischen Fehlschluss“ (G. E. Moore), in dem das komplexe, opake Verhältnis von Fakten und Normen einseitig durch Vorordnung von Faktizität zu bestimmen versucht wird. Zu den kritisierten Positionen von Frauke Brosius-Gersdorf gehört ihr Rückgriff auf diese Figur logischer Kritik unausweisbarer Vorannahmen bei der Bestimmung des Beginns des Menschenwürdeschutzes.

Graf ergänzt: „Besonders üble Folgen hatten Naturrechtsmuster in der Sexualethik, wurden hier etwa außerehelicher Geschlechtsverkehr oder gleichgeschlechtliche Liebe als ‚widernatürlich‘ und deshalb sittlich verwerflich denunziert.“

Graf hat die Probleme einer rein positivistischen Rechtsauffassung nicht einmal erörtert. Davon abgesehen hat er völlig übersehen, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages das geschütze Recht haben, auf ihr Gewissen zu hören. Politikern, die der Berufung Frauke Brosius-Gersdorf aus Gewissensgründen nicht zustimmen konnten, vorzuwerfen, moralisch überheblich zu agieren, ist geradezu absurd. Stefan Rehder schreibt dazu:

In seinem mit „Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesetzt“ überschriebenen Beitrag (FAZ v. 4. August 2025) fährt der emeritierte evangelische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf scheinbar schwere Geschütze zur Verteidigung der Potsdamer Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf auf, deren Eignung für einen Richterposten beim Bundesverfassungsgericht von vielen bestritten und von noch mehr anderen in Zweifel gezogen wird.

Eingebettet in einen den Odor professoraler Gelehrsamkeit verströmenden, bei näherer Betrachtung jedoch reichlich hemdsärmeligen und willkürlich zusammengestückelten Abriss des deutschen Naturrechts-Diskurses, reitet Graf eine scharfe Attacke auf die CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker. Der Katholikin wirft der Protestant vor, die eigene Partei beschädigt zu haben, was für einen Politiker der Höchststrafe gleichkommt. Damit nicht genug: Graf fragt auch noch, ob Winkelmeier-Becker „einen neuen Kulturkampf zwischen Protestanten und Katholiken provozieren und damit den Koalitionsfrieden gefährden“ wolle. Das ist starker Tobak. Schon deshalb, weil sich Grafs Beitrag selbst als Einladungsschreiben zu einem solchen Kulturkampf lesen lässt.

Tatsächlich überraschen muss jedoch anderes. Und das betrifft Grafs für einen Ethiker erstaunlich unzureichende Einlassungen zum Wahlverfahren, zur demokratischen Legitimation und zur Freiheit des Gewissens. Gemäß Artikel 38, Absatz 1, Satz 2 des Grundgesetzes sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Dass Gott nicht das Grundgesetz geschaffen hat, bedeutet nicht, dass ein Theologe dieses ignorieren darf. Aber genau das tut Graf, wenn er behauptet, die CDU-Abgeordnete Winkelmeier-Becker hätte „demokratische Institutionen wie den Wahlausschuss“ „delegitimiert“ und oberlehrerhaft hinzufügt: „Klar vereinbarte Abmachungen aufzukündigen entspricht jedenfalls nicht den Verlässlichkeitsregeln, deren Einhaltung geboten ist, wenn man in einer Regierungskoalition den pragmatischen Konsens der ethisch verschieden Denkenden zu organisieren hat.“

Was ist unsere Rechtfertigung oder Gerechtigkeit vor Gott?

Das Verhältnis zwischen Richard Baxter (1615–1691) und John Owen (1616–1683) war durch gegenseitigen Respekt, aber auch sehr kontroverse Auseinandersetzungen geprägt. Beide gehörten zu den bedeutendsten puritanischen Theologen des 17. Jahrhunderts in England, standen jedoch bei gewichtigen Punkten gegeneinander. Ein besonderes Kampffeld war die Rechtfertigungslehre. Baxter wollte zwischen Positionen des Calvinismus, des Arminianismus und des Katholizismus vermitteln. Seine Sichtweise lässt sich als eine moderat synergistische Form der Rechtfertigungslehre beschreiben. Die Lehre von der imputatio iustitiae Christi (dt. Zurechnung der Gerechtigkeit Christi im juristischen Sinne), wie sie von vielen reformorierten Theologen vertreten wurde und wird, lehnte Baxter ab (vgl. hier).

Owen war sehr besorgt über diese Form der Vermittlungstheologie und hat sie als semi-pelagianisch oder neonomistisch kritisiert. In The Doctrine of Justification by Faith through the Imputation of the Righteousness of Christ; Explained, Confirmed, and Vindicated (erschienen 1677) warf er Baxter vor, eine neue Form der Gerechtigkeit durch Werke unter dem Mantel des Evangeliums vermitteln zu wollen. Positiv und kompakt formulierte Owen die reformierte Position in seinem Kurzen Katechismus. Im Kapitel XIV ist über die Rechtfertigung zu lesen (John Owen, The Works of John Owen, Bd. 1 (Edinburgh: T&T Clark, o. J.), S. 487):

Frage 1: Sind wir aufgrund unseres Glaubens gerecht und errettet, wenn wir frei erwählt sind?

Antwort: Nein, sondern allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die durch den Glauben erfasst und angewendet wird; allein dafür nimmt uns der Herr als heilig und gerecht an. Jes 43,25; Röm 3,23–26; 4,5.

Frage 2: Was ist dann unsere Rechtfertigung oder Gerechtigkeit vor Gott?

A. Die gnädige, freie Handlung Gottes, die einem gläubigen Sünder die Gerechtigkeit Christi zurechnet und ihm dafür Frieden mit seinem Gewissen in der Vergebung seiner Sünden zuspricht – ihn für gerecht und vor ihm angenommen erklärt. 1Mo 15,6; Apg 13,38.39; Lk 18,14; Röm 3,24.26.28; 4,4–8; Gal 2,16.

Frage 3: Sind wir dann nicht durch unsere eigenen Werke vor Gott gerecht?

Antwort: Nein, denn aus sich selbst heraus können sie weder seine Gerechtigkeit befriedigen, noch sein Gesetz erfüllen, noch seiner Prüfung standhalten. Ps 130,3.4; 143,2; Jes 64,6; Lk 17,10.

Das Testimonium Flavianum

Christian Bensel von Begründet Glauben stellt das neue Buch Josephus And Jesus. New Evidence for the One Called Christ von T.C. Schmidt vor. Über das Buch schreibt der Verlag:

Dieses Buch bringt eine außergewöhnliche Verbindung zwischen Jesus von Nazareth und dem jüdischen Historiker Josephus ans Licht. Im Jahr 93/4 n. Chr. verfasste Josephus einen Bericht über Jesus, der als Testimonium Flavianum bekannt ist. Obwohl es sich dabei um die älteste Beschreibung Jesu durch einen Nichtchristen handelt, haben Wissenschaftler aufgrund der angeblich pro-christlichen Aussagen lange Zeit an ihrer Echtheit gezweifelt. Das vorliegende Buch bestätigt jedoch die Urheberschaft von Josephus und enthüllt dann eine überraschende Entdeckung. Zunächst zeigen die ersten Kapitel, dass die Christen der Antike das „Testimonium Flavianum“ ganz anders lasen als moderne Wissenschaftler. Sie betrachteten es als im Grunde genommen banal oder sogar vage negativ und damit weit entfernt von der pro-christlichen Interpretation, die die meisten Wissenschaftler ihm gegeben haben. Dies deutet darauf hin, dass das „Testimonium Flavianum“ tatsächlich von einem Nichtchristen verfasst wurde. Anhand einer stilmetrischen Analyse wird dann gezeigt, dass das „Testimonium Flavianum“ stark dem Stil von Josephus entspricht. Das Testimonium Flavianum scheint daher tatsächlich von Josephus verfasst worden zu sein. Die letzten Kapitel untersuchen Josephus‘ Informationsquellen über Jesus und kommen zu einer bemerkenswerten Entdeckung: Josephus kannte diejenigen, die den Prozessen gegen die Apostel Jesu beiwohnten, und sogar diejenigen, die dem Prozess gegen Jesus selbst beiwohnten, persönlich. Das Buch schließt mit einer Beschreibung dessen, was Josephus uns über den historischen Jesus erzählt, insbesondere darüber, wie sich die Geschichten über die Wunder Jesu und seine Auferstehung entwickelt haben.

Hier das Video von Dr. Christian Bendel dazu:

VD: MZ

Das Naturgesetz reicht nicht aus

Andrew T. Walker hat in seinem Artikel „Das Naturgesetz reicht nicht aus. Das Naturgesetz ist alles, was wir haben“ die reformierte Sichtweise ganz gut auf den Punkt gebracht: 

Die reformierte Tradition steht seit langem in einem kreativen Spannungsverhältnis zum Konzept des Naturrechts. Einerseits bekräftigte Johannes Calvin die doppelte Erkenntnis Gottes – sowohl die allgemeine Offenbarung durch die Natur als auch die besondere Offenbarung durch die Heilige Schrift –, blieb dabei jedoch zutiefst realistisch hinsichtlich der noetischen Auswirkungen der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen. Auf diesem Realismus aufbauend kritisierten Denker wie Cornelius Van Til und Abraham Kuyper die Idee der moralischen Neutralität und stellten in Frage, ob sündige Menschen wirklich eine gemeinsame rationale Grundlage für Ethik haben können. Trotz dieser Skepsis gaben Calvin und die übrigen Vertreter der reformierten Tradition bis hin zu den reformierten Scholastikern das Naturrecht nicht auf. In seiner Institutio und seinen Bibelkommentaren bekräftigte er die Rolle der bürgerlichen Moral und das bleibende Zeugnis des Gewissens und zeigte, dass das Naturrecht, obwohl beeinträchtigt, in Gottes vorsehender Ordnung der Gesellschaft weiterhin funktioniert. Das Naturrecht ist eine bürgerliche Moral, die Gott in das Gewissen und Herz des Menschen eingepflanzt hat und die ein Mindestmaß an Stabilität ermöglicht.

Trotz seiner Grenzen müssen wir uns weiterhin auf das Naturrecht berufen, da es eine Form der allgemeinen Gnade bleibt. Obwohl es durch die Sünde getrübt ist, ist das Naturrecht in der Imago Dei verwurzelt und taucht weiterhin im Gewissen und in den kulturellen Normen der Menschen auf. Selbst in einer gefallenen Welt reagieren Menschen oft auf moralische Ansprüche, die in der Schöpfungsordnung begründet sind. Dies zeigt sich auf zehntausend subtile Arten – in der Fürsorge einer Mutter für ihr Kind, in der Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren alternden Eltern, in dem schreienden Verlangen nach Gerechtigkeit. Der Apostel Paulus zeigt dies in der Heiligen Schrift, indem er sich in seinem Brief an die Römer und in seiner Rede auf dem Areopag auf das Naturrecht beruft. Darüber hinaus benötigt jede funktionierende Gesellschaft eine gemeinsame moralische Grammatik, um den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Ohne eine Ethik des kleinsten gemeinsamen Nenners wie das Naturrecht bleiben der Gesellschaft nur Machtkämpfe oder Tribalismus, um moralische Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden.

Das Wesen des Christentums unter der Lupe

Der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804–1872) behauptete, dass der Mensch seine eigenen Eigenschaften – Liebe, Macht, Weisheit – auf ein göttliches Wesen überträgt und dieses dann verehrt. Gott sei also eine Projektion des menschlichen Selbstbewusstseins. In seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1841) sagt er beispielsweise: 

Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.

Feuerbach hat mit dieser These maßgeblicher europäische Denker fasziniert, so etwa Karl Marx, Friedrich Engels oder Sigmund Freud. Leider gibt es nur wenige Theologen, die sich fundamentalkritisch mit Feuerbach auseinandergesetzt haben. Emil Brunner, Wolfhart Pannenberg und Horst-Georg Pöhlmann haben sich gründlich mit Feuerbachs Religionskritik befasst. Einer der begabtesten Theologen, der Feuerbach gründlich studiert und widerlegt hat, ist Klaus Bockmühl.

Hier gibt es Gelegenheit, in ein englischsprachiges Seminar über Feuerbachs Christentumskritik hineinzuhören (1981):

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