Forum 18 hat einen interessanten Bericht zum Status der Religionsfreiheit in China veröffentlicht. Da der Arbeitskreis ÖEA freundlicherweise eine Übersetzung besorgt hat, kann ich die Meldung hier in deutscher Sprache wiedergeben:
China: Ein post-kommunistischer Obrigkeitsstaat und die Religionsfreiheit
Verletzungen der Religionsfreiheit haben in China eine lange und grausame Geschichte. Berichte über Zwischenfälle, die in der jüngsten Vergangenheit um die Welt gegangen sind, haben dieses Bild von der mangelnden Freiheit verstärkt. Dennoch wachsen die verschiedensten Religionsgemeinschaften mit ungebrochener Geschwindigkeit. Eine Antwort auf dieses scheinbare Rätsel liegt in der Tatsache, dass die Einstellung der Kommunistischen Partei Chinas zur Religion – und damit auch gegenüber dem grundlegenden Menschenrecht auf Religions- bzw. Glaubensfreiheit – weitgehend die Ansicht der modernen chinesischen Eliten und bereits der Vorgänger der kommunistischen Machthaber reflektiert, dass religiöse Überzeugungen ein Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung sind. Dies hat zu einer politischen Einstellung geführt, die man so charakterisieren könnte, dass sich die Politiker als Manager des Staates sehen und der Staat somit den Willen und die Macht zur Kontrolle der Religionsgemeinschaften behält.
Dieser Managementansatz, den man in China beobachten kann, ist pragmatischer und flexibler als ein ideologisch orientierter Ansatz in dem Sinn, dass der Staat die Ausrottung der Religion nicht mehr als letztes politisches Ziel betrachtet. Das lässt den Religionsgemeinschaften eine gewisse Bewegungsfreiheit und sogar Raum zum Wachstum. In dieser Hinsicht ist die Zukunft der Religionsfreiheit nicht nur pessimistisch zu sehen.
Ein Bild der Kontraste
Am 9. Februar 2012 wurden in der Provinz Sichuan zwei tibetische buddhistische Mönche wegen ihrer Teilnahme an einem Protest gegen die chinesische Herrschaft über Tibet von chinesischen Sicherheitskräften getötet. Dies berichtete Radio Free Asia. Hunderte Tibeter wurden im Januar bei ihrer Rückkehr von einer religiösen Veranstaltung in Indien in Lhasa verhaftet und festgehalten. Im Januar hat laut Berichten von Human Rights Watch die chinesische Regierung ihre Führungspolitik gegenüber den buddhistischen Klöstern in Tibet geändert. Anstatt „loyale“ tibetische Mönche mit der Führung der Klöster zu betrauen, ist der Staat dazu übergegangen, Beamte als Leiter dieser Klöster einzusetzen.
Zur gleichen Zeit, als die tibetischen Buddhisten mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sahen sich chinesische Protestanten mit ihren eigenen Herausforderungen konfrontiert. Aufgrund des Eingreifens der Regierung hat die Shouwang Gemeinde in Beijing weiterhin keinen Zugang zu einer permanenten Versammlungsstätte. Mitglieder der Gemeinde wurden verhaftet und waren anderen Formen der Belästigung ausgesetzt, als sie versuchten, sich im Freien zum Gottesdienst zu versammeln. Selbst ausländische Christen konnten den Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung nicht entgehen. Wie die China Aid Association berichtet, wurde eine chinesische Christin im Januar 2012 von chinesischen Sicherheitskräften entführt und musste zwei Tage ohne Nahrung und Wasser verbringen, nachdem sie den Leiter der Shouwang Gemeinde und eine Hauskirche in der Provinz Shanxi besucht hatte.
Den meisten Berichten zufolge hat sich die Haltung der kommunistischen Partei zur Religionsfreiheit in den letzten Jahren nicht geändert. Neben anderen Menschenrechtsverletzungen ist es immer wieder zu Verletzungen der Religionsfreiheit gekommen. Amnesty International schrieb z.B. in ihrem Jahresbericht 2011: „Die chinesische Regierung reagierte auf eine zunehmend wachsende Zivilgesellschaft mit der Inhaftierung und Strafverfolgung von Menschen, die in friedlicher Weise ihre Meinung zum Ausdruck brachten, vom Staat nicht zugelassenen Religionsgemeinschaften angehörten, für demokratische Reformen und Menschenrechte eintraten oder die Rechte ihrer Mitbürger verteidigen wollten.“ In ähnlicher Weise äußerte sich Human Rights Watch in ihrem Jahresbericht 2011: „China ist nach wie vor ein autoritärer Einparteienstaat, der die Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit massiv einschränkt.“
Während die chinesische Regierung und ihre Vertreter diese Verletzungen der Religionsfreiheit begehen, erleben die Religionsgemeinschaften in China ein Wachstum und eine Vitalität, wie man sie seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Abgesehen von dem außergewöhnlichen zahlenmäßigen Wachstum der Gläubigen sind religiöse Stätten und Aktivitäten äußerst sichtbar.
Protestantische Kirchen in ganz China sind regelmäßig überfüllt. Die riesige staatlich zugelassene christliche Kirche in Beijing Haidian ist jeden Sonntag zum Bersten voll. Mitarbeiter des Nachrichtendienstes Forum 18 haben selbst gesehen, wie ein Mitglied der Kirche Flugzettel über die Gottesdienste an die Fußgänger in einer belebten Einkaufsstraße in der Nähe der Kirche verteilte. Die unter Ausländern als Community Church bekannte Kirche in Schanghai zieht Sonntag für Sonntag große Zahlen an Gläubigen an. Viele müssen im Hof sitzen, da keine Sitzplätze im inneren des Kirchengebäudes frei sind. Auch die inoffiziellen Kirchen und Hausgemeinden sind voll.
Doch die Christen sind nicht die einzige Religionsgemeinschaft, die ein spektakuläres Wachstum zu verzeichnen hat. Auch buddhistische Tempel ziehen große Menschenmassen an, die dort beten und den Rat von Mönchen suchen.
Die Selbstverbrennungen tibetischer Mönche und anderer Tibeter und die Schwierigkeiten der christlichen Shouwang Gemeinde zeigen die nach wie vor bestehenden Grenzen der Religionsfreiheit in China auf, bei gleichzeitigem Wachstum lebendiger Religionsgemeinschaften. Da der Großteil der Verletzungen der Religionsfreiheit in China vom Staat und seinen Organen ausgeht, verlangt diese widersprüchliche Situation nach einem tieferen Verständnis des kommunistischen Staates und seiner Haltung gegenüber der Religion.
Ein Staat geführt von Managern
Wenn man die Entwicklung der Religionspolitik des kommunistischen China verstehen will muss man erkennen, dass seine Haltung zur Religion weitgehend die Ansichten der modernen chinesischen Elite und bereits die der Vorgänger der kommunistischen Machthaber reflektiert. Einfach gesagt, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Haltung chinesischer Denker und Mitglieder der politischen Elite geprägt von Geringschätzung für Religion und religiöse Menschen. Die Elite sieht Religion bzw. „Aberglauben“, wie sie religiöse Überzeugungen nennt, schon lange als Hindernis für die Modernisierung Chinas. Die ersten kommunistischen Führer Chinas waren direkte ideologische Nachfahren der nicht kommunistischen Verfechter der Modernisierung Chinas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für die kommunistischen Eliten Chinas, einschließlich Mao Tse-Tungs, war die Modernisierung Chinas oberste Priorität, um China zu einem fortgeschrittenen Staat zu machen, der im Konkurrenzkampf mit dem Westen erfolgreich bestehen kann. Auch die politische Unabhängigkeit vom Ausland, insbesondere von westlichen Staaten, wurde als hohe Priorität gesehen. Alles, was diesen Zielen im Weg stand, galt es zu eliminieren.
Diese Perspektive führte zu einem – nach dem Verständnis der Elite – pragmatischen Verhalten gegenüber Religionsgemeinschaften und Gläubigen. Man praktizierte eine systematische Unterdrückung der Religion und der Gläubigen. Bald nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 begann der Staat eine systematische Ausrottungspolitik gegenüber einheimischen spirituellen Überzeugungen, die man als Teil der lokalen Traditionen sah, die bisher Fortschritt und Entwicklung behindert hatten. Gleichermaßen unterdrückte der Staat ausländische Religionen und insbesondere das Christentum systematisch in dem Versuch, alle Kanäle zu eliminieren, durch die feindliche ausländische Mächte das neu errichtete kommunistische Regime und das von diesem angestrebte Sozial- und Wirtschaftssystem beseitigen könnten. Die Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 bildete den Höhepunkt des ideologischen Wütens im kommunistischen China. Während dieser Phase wurden die Religionsgemeinschaften und ihre Anhänger in den Untergrund gedrängt. Doch die Kulturrevolution war nur ein zeitlich beschränktes Kapitel in der Geschichte des Kommunismus in China.
Mit der Reformära kehrte der Pragmatismus zurück, als die politischen Führer Chinas sich bewusst dafür entschieden, ideologische Überlegungen hintan zu stellen und zur Aufgabe der Modernisierung des Landes zurückzukehren. Seit dem Beginn des 21. Jahrhundert ist „soziales Management“ zu einem wesentlichen politischen Ziel geworden. Die politische Führung betont die Bedeutung der sozialen Stabilität, selbst wenn dies auf Kosten der Modernisierung gehen könnte.
Ideologische Rhetorik ist jedoch nicht vollkommen verschwunden und wird auch nicht verschwinden. So erklärte Vizeminister Zhu Weiqun im Dezember 2011, dass Kommunismus und Religion unvereinbar sind und dass Mitglieder der Kommunistischen Partei religiöse Überzeugungen ablehnen müssen. Solche Aussagen sind aus vielen Gründen interessant, unter anderem weil daraus hervorgeht, dass es Parteimitglieder mit religiösen Überzeugungen gibt. Es dringen immer wieder Berichte nach außen, dass protestantische Christen in hohen Positionen der Regierung zu finden sind, hochrangige Mitglieder des Militärs waren angeblich Anhänger der inzwischen verbotenen aber im Untergrund weiterbestehenden Falun Gong Bewegung. Der Gründer von Falun Gong hatte ursprünglich sogar staatliche Unterstützung erhalten und auch vergleichbare philosophische und Gesundheitsbewegungen („Qigong“) wurden durch den kommunistischen Staat gefördert. Es bleibt abzuwarten, wie sich religiöse Überzeugungen in den Reihen von Funktionären und Beamten auf die Ansicht der politischen Eliten Chinas auswirkt, dass Religion „Aberglaube“ und ein Hindernis für die Modernisierung sei. Eine Änderung dieser Ansicht der Elite könnte eine sehr positive Auswirkung auf die Religionsfreiheit in China haben.
Ganz im Gegensatz zu den Aussagen von Zhu Weiqun wurden kürzlich religiöse Gruppen ermutigt, sich für die Notleidenden im Land zu engagieren, Stiftungen und Organisationen zu gründen, um den Nöten der Menschen zu begegnen. Andrerseits wurden die Religionsgemeinschaften davor gewarnt, ihr karitatives Engagement zu nützen, um ihre religiösen Überzeugungen zu verbreiten.
Der kommunistische Staat hat eine wesentliche Rolle bei der wirtschaftlichen Transformation Chinas gespielt und sich dabei nicht von der offiziell proklamierten kommunistischen Ideologie leiten lassen. „Niemand glaubt mehr an den Kommunismus“, diese Aussage hörten die Mitarbeiter von Forum 18 immer wieder bei ihren Gesprächen in China, auch von Regierungsbeamten. Seit der Kulturrevolution hat sich der Staat eines Großteils seines marxistischen ideologischen Gepäcks entledigt. Hauptanliegen ist die Modernisierung des Landes, und vielleicht noch mehr, der Machterhalt. Daher wird es den Religionsgemeinschaften gestattet, zu existieren und sogar zu wachsen, so lang sie das Ziel der Modernisierung des Staates und den Fortbestand der Herrschaft der Kommunistischen Partei nicht gefährden.