Depression oder Faulheit?

Jay Adams (vgl. hier) gehörte zu den Pionieren der sogenannten „Biblischen Seelsorge“. Wir haben ihm viele hilfreiche Anregungen zu verdanken und können verzeihen, wenn er als Missionar der „nouthetischen Seelsorge“ manchmal provoziert hat oder über das Ziel hinausgeschossen ist. Gelegentlich fällt mir das freilich schwer. Gestern las ich in einer relativ frischen Publikation folgenden Absatz (Jay E. Adams, Critical Stages of Biblical Counseling, 2020, Kindle Version, Pos. 772–773, meine Übers.):

Ein ähnlicher Weg aus einer Depression (die schnell und nachhaltig sein kann) besteht darin, sich einzubringen und die aufgegebenen Aufgaben wieder zu übernehmen. Das wird den gewünschten Stimmungsumschwung herbeiführen. Aber der Ratsuchende sollte nicht nur versuchen, sich besser zu fühlen. Vielmehr sollte er in erster Linie den Wunsch haben, seine Verantwortung zur Ehre Gottes wahrzunehmen. Ein depressiver Mensch (dessen Schlagwort „kann nicht” ist) ist im Reich Gottes nutzlos. Er hat „aufgegeben”. Er muss die Worte aus 1. Korinther 15,58 hören. Gott zu dienen ist nie vergeblich; wir können immer erreichen, was er von uns verlangt, wenn wir uns seiner Weisheit und Kraft bedienen. Der Gläubige hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Er wird gebraucht. Er darf sich nicht vor seiner Verantwortung dort (Galater 6,5) oder gegenüber seiner Familie und seinem Arbeitgeber drücken. Das muss er ja auch nicht. Aufgeben ist nichts, was man jemals tun muss. Lassen Sie Ihren depressiven Ratsuchenden wissen, dass sich sein Zustand noch in dieser Woche ändern kann, wenn er bereit ist, dies zu tun. Finden Sie heraus, was er in den verschiedenen Bereichen seines Lebens versäumt hat, und stellen Sie einen Plan auf, wie er zumindest einige dieser Bereiche sofort in Angriff nehmen kann. Je kleiner der Stapel an Arbeit wird, desto besser wird seine Laune!

Adams verwechselt hier Faulheit mit einer Depression. Dem Faulen sagen wir (Spr 6,6–9):

Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise! Wenn sie auch keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, so bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte. Wie lange liegst du, Fauler! Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?

Einem Menschen, der mit einer mittelschweren oder schweren Depression zu kämpfen hat, wird so ein Appell selten helfen; noch wird er die Kraft haben, einfach loszulegen. Vorauszusetzen, dass er einfach nur faul ist, also kann, aber nicht will, mag hin und wieder sogar die Stimmung der Verzweiflung steigern. Denn eigentlich möchte ein Depressiver aufstehen, kann es aber nicht.

Da ist aber noch etwas: „Ein depressiver Mensch … ist im Reich Gottes nutzlos.“

Darf man das so sagen? Würde Adams auch sagen: „Ein behinderter Mensch, der täglich auf die Fürsorge anderer angewiesen ist, ist nutzlos im Reich Gottes“? Ich hoffe nicht! Gott gebraucht Menschen, die keine gute Performance aufweisen. Ein Depressiver hat einen Platz in der Gemeinde Christi. Im Reich Gottes ist es eben nicht so, dass wir mal eben einen Schalter umlegen und schon ändert sich der Zustand. Manche müssen lange auf Besserung warten. Diese Zeiten des Wartens können können sogar geistlich wertvoll sein. Wir wissen aus der Kirchengeschichte, dass viele Diener Gottes mit depressiven Stimmungen und Episoden zu kämpfen hatten, darunter Luther oder Spurgeon (vgl. hier).

Der Beter in Psalm 43 hat eine vorbildliche Einstellung. Er befahl seine eigene Seele mit ihrer tiefen Unruhe und Verzweiflung angesichts von erfahrenem Unrecht und Verrat dem lebendigen Gott an: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meine Rettung und mein Gott ist!“ (Ps 43,5). Er gab also nicht auf, sondern schüttete sein Herz vor Gott aus. Auch für diesen Beter hatten seine Gefühle nicht das letzte Wort. Er befahl sie seinem Herrn an und konnte geduldig und hoffnungsvoll warten – bis Gott Rettung bringt.

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12 Kommentare
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Stephen
1 Jahr zuvor

Ohne von ihm was gewusst zu haben, habe ich Adams Rat 2016 gefolgt. Am 3. Januar 2017 legte ich ein A4-Blatt Symptome meinem Arzt vor, legte meinen Kopf auf den Tisch und heulte. Drei Monate Krankschreibung bekam ich und seitdem habe ich nie wieder Vollzeit gearbeitet.
Eine Zeit lang war ich meiner Gemeinde keine tragende Säule sondern eine Last: ich hatte kein Nutzen in Gottes Reich. Vielleicht wollen klügere Leute „bessere“ Sprache dafür finden. Ich finde, es ist Zeit, den Wert eines Menschen so sehr von seinem Nutzen abzukoppeln, dass wir nutzlose Lastenmenschen lieben und schätzen wie Der, Dem wir alle Versuchung, Last und Kreuz gebracht haben. Seine Liebe blieb und bleibt unerschütterlich und vom vollsten Maß.

1 Jahr zuvor

Das ist nur ein gutes Beispiel, warum Seelsorge, die die Erkenntnisse der Psychologie rundweg ablehnt, selbst klar abzulehnen ist. Ja, sie kann sogar für den Ratsuchenden gefährlich werden!

Jörg D.
1 Jahr zuvor

Ich möchte einmal Dr. Martin Lloyd-Jones zu Wort kommen lassen: „Es ist meine feste Überzeugung, daß die Thesen des Mr. Szasz im Hinblick auf psychische Krankheiten insgesamt nicht haltbar sind. Auch wenn er in vielen Punkten recht hat, so ist doch die Grundaussage seines Buches, daß es nämlich Geisteskrankheit überhaupt nicht gibt, rundweg abzulehnen. Leider werden Szaszs Thesen auch heute noch vertreten, im evangelikalen Bereich vor allem von Jay Adams in seinem Bestseller Competent to Counsel (deutscher Titel: „Befreiende Seelsorge“). Adams ist nichts weiter als ein moderner Vertreter der Thesen von Thomas Szasz. Seiner Meinung nach ist psychische Krankheit nicht existent. Das Problem „psychisch-kranker Menschen“ ist nach Adams Überzeugung „Sünde“, und es muß deshalb auch geistlich behandelt werden. Also „ermahnt“ Adams seine Patienten und versucht, ihnen auf diese Weise seelsorgerlich zu helfen, wenn auch sicher mit großer Ernsthaftigkeit. Für uns, die wir ebenfalls mit solchen Patienten zu tun haben, ist es ganz wichtig, daß es psychische Krankheiten tatsächlich gibt. Wenn… Weiterlesen »

Stephan
1 Jahr zuvor

Gute Kommentare zum Thema bislang! Bei uns in der Familie gibt es erblich bedingt einen Hang zu Depressionen, ich denke zwar mit abnehmender Tendenz in jeder Generation, aber auch bei leichter oder kurzer Phase eine Belastung für einen selbst und für seine Umwelt, die das mangels eigener Erfahrung (immer noch) nicht nachvollziehen kann. Nun mag manch Verkündiger eines Wohlstandsevangeliums meinen, man würde nicht genug glauben, wenn man in eine Depression fällt, oder in Armut leben muss, aber da irrt er. Bislang hatte ich das Glück, dass ich nur kurze Phasen hatte, die nicht allzu schwer waren, es reichte aber für ein paar wenige Krankheitstage, und bislang bin ich auch ohne ärztliche Hilfe da rausgekommen. Gebete haben ebenso geholfen wie sich darauf zu konzentrieren, dass man wieder Aufgaben erfüllen muss und möchte. Ich habe mich zum Orgelspiel im nächsten Gottesdienst gezwungen, und das zu schaffen hat mich bislang immer wieder rausgeholt. Aber man weiß vorher nie, ob und wann man aus… Weiterlesen »

Markus
1 Jahr zuvor

<blockquote>Der Gläubige hat einen Platz in der Gemeinde Christi.</blockquote>

Und wo ist die? In der lokalen Ortsgemeinde gibt es keinen Platz. Dort reden die Platzhirsche, die anderen sind entweder Ja-Sager oder müssen weg.
Die Praxis unterscheidet sich himmelweit von der Theorie.
Mann, mann. Und dann solche Kommentare wie die des Herrn Adams.

Matze
1 Jahr zuvor
  • Der Umgang mit einer psychischen Erkrankung muss so normal werden wie ein Beinbruch
  • Da dieses Thema immer mehr Aufmerksamkeit bekommt besteht die Gefahr, dass leichte psychische Probleme überbewertet werden, denn es gibt sie einfach.
  • Bei leichten psychischen Erkrankungen sind ein regelmäßiger Tagesablauf und feste Aufgaben eine Hilfe.
  • Bei schweren Verläufen dagegen kann die Einforderung von Strukturen eine zusätzliche Belastung sein und zusätzliche Schuldgefühle auslösen
  • Auch wenn Christen sollten sich auch wenn sie an Wunder glauben, streng an die von den Ärzten vorgegebene Medikamentation halten und Anpassungen mit ihm absprechen. Wir haben schon einige Erkrankte erlebt, die in Hochphasen das Gefühl hatten nun im Glauben ihre Medikamente absetzen zu können. Das ist in der Regel keine gute Idee.
Jörg D.
1 Jahr zuvor

Noch eine Ergänzung von dem Arzt und Pastor Dr. Martin Lloyd-Jones aus dem Buch „Das Beste von Martyn Lloyd-Jones, Teil 1, ausgewählt von Christopher Catherwood“, S. 83f, Verlag der Liebenzeller Mission Lahr. Dieses Buch enthält noch einiges an wertvollen Gedanken zum Thema „psychische Erkrankungen“. Es ist gebraucht für wenig Geld zu erwerben.

Es gibt, psychologisch gesehen,  verschiedene Typen, phlegmatische und melancholische Menschen,  die nichts aus der Ruhe bringen kann, und solche, die zwischen „himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ hin- und herschwankem. Im Falle einer psychischen Erkrankung werden diese charakterlichen Eigenarten ins Krankhafte pervertiert. Es hat sich glücklicherweise inzwischen in der Medizin die Erkenntnis durchgesetzt, daß dies mit einer Funktionsstörung im Gehirn zusammenhängt,  genauso wie der Diabetes millitus durch eine Funktionsstörung der Schilddrüse bedingt ist. Die psychischen Krankheiten sind sicherlich noch nicht hinreichend erforscht und klassifiziert worden, doch gewisse Kategorien sind vorhanden.

Bettina Klix
1 Jahr zuvor

Lieber Ron, danke für diesen wichtigen Beitrag! Als selbst Betroffene, in einem gemischt christlichen/ nicht gläubigen Umfeld lebend, habe ich erlebt, dass die Verkennung der Krankheit/der Verzweiflung oft von wohlwollenden Menschen aus beiden Umgebungen ausging. Rettung hat aber nur eine erneute Bekehrung gebracht, die Beheimatung in meiner katholischen Orts-Gemeinde, meiner zweiten Gemeinde: des Korps Südwest der Heilsarmee in Berlin und der Anschluss an christliches Radio/Fernsehen und Internet, wo man morgens gegen die Lügen der Schwermut die biblischen Wahrheiten „einnehmen“ kann, was ich auch heute weiter tun muss. Aber auch Medikamente, um das geistliche Rehabilitationsprogramm überhaupt durchführen zu können.
Oft waren es nur wenige gute Worte – wie von Dir in einer Email – , die mich wieder den Weg sehen ließen!
Danke auch den andern Erfahrungsberichten und Hinweisen!
Liebe Grüße
Bettina

Markus Jesgarz
1 Jahr zuvor

Meine Meinung ist: 1. Leider hat Herr Adams Faulheit mit einer Depression verwechselt. Das ist ein Zitat aus dem Beitrag:  Hilfe bei Depressionen und Manie  am 10. April 2021 von Dr. med. Alfred Lechler auf der Seite 43 am Ende: Zweifellos ist eine seelsorgerliche Beeinflussung auf dem Höhepunkt der Schwermut so gut wie unmöglich, da der Kranke zu diesem Zeitpunkt gegenüber jeglicher Einwirkung unzugänglich ist. Darum muss sich der Seelsorger immer der Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst bleiben. Trotzdem hat ein verständnisvoller Seelsorger auch bei hochgradiger Schwermut eine wichtige Aufgabe zu leisten. Er darf dem Kranken allerdings nicht in der Meinung gegenübertreten, seinen Zustand ohne weiteres günstig beeinflussen zu können, sondern er darf es als seinen Dienst ansehen, dem Kranken die Gelegenheit zur Aussprache zu geben. Dieser sehnt sich meistens danach, sich auszusprechen, und empfindet es wohltuend, wenn ihm Liebe und Anteilnahme entgegengebracht werden. Die Voraussetzung jeder erfolgreichen Beeinflussung ist das Vertrauen des Kranken zum Seelsorger. Der Schwermütige muss merken, dass… Weiterlesen »

Markus Jesgarz
1 Jahr zuvor

Meine Meinung ist: 1. Leider hat Herr Adams Faulheit mit einer Depression verwechselt. Das ist ein Zitat aus dem Beitrag:  Hilfe bei Depressionen und Manie  am 10. April 2021 von Dr. med. Alfred Lechler auf der Seite 43 am Ende: Zweifellos ist eine seelsorgerliche Beeinflussung auf dem Höhepunkt der Schwermut so gut wie unmöglich, da der Kranke zu diesem Zeitpunkt gegenüber jeglicher Einwirkung unzugänglich ist. Darum muss sich der Seelsorger immer der Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst bleiben. Trotzdem hat ein verständnisvoller Seelsorger auch bei hochgradiger Schwermut eine wichtige Aufgabe zu leisten. Er darf dem Kranken allerdings nicht in der Meinung gegenübertreten, seinen Zustand ohne weiteres günstig beeinflussen zu können, sondern er darf es als seinen Dienst ansehen, dem Kranken die Gelegenheit zur Aussprache zu geben. Dieser sehnt sich meistens danach, sich auszusprechen, und empfindet es wohltuend, wenn ihm Liebe und Anteilnahme entgegengebracht werden. Die Voraussetzung jeder erfolgreichen Beeinflussung ist das Vertrauen des Kranken zum Seelsorger. Der Schwermütige muss merken, dass… Weiterlesen »

Markus Jesgarz
1 Jahr zuvor

Meine Meinung ist:
1.
Leider hat Herr Adams Faulheit mit einer Depression verwechselt.
https://www.facebook.com/markus.jesgarz.3/posts/pfbid0vK5cqB9k1JVgzdT6oeazQ6xVSsA2xocvCLkYpHUqCpjdhq7ogWk7SXmNMa3aqcWBl&nbsp;
2. 
Zum Glück vertritt Herr Dr. med. Alfred Lechler vernünftige Ansichten zum Thema Seelsorge an Schwermütigen aufgrund von biblischen Einsichten über den Menschen und die Seele.

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