In der Ausgabe 2/2020 von Bibel und Gemeinde (S. 33–40) habe ich eine kleine Kritik der queeren Bibelinterpretation veröffentlicht. Dazu hier kurz einige Anmerkungen:
Heutzutage sind viele Schriftausleger nicht mehr bereit, sich dem Sinngehalt von Bibeltexten unterzuordnen. Meist setzen sie voraus, dass Texte gar keinen objektiven Sinngehalt transportieren. Argumentiert wird wie folgt: „Da wir sowieso nicht verstehen, was ein ursprünglicher Autor, etwa ein David oder Paulus, gemeint hat, müssen wir nach anderen Wegen suchen, um von den antiken Texten zu profitieren. Wir verstehen Bibeltexte nicht, indem wir uns ihnen unterordnen und sie im Sinne ihrer Autoren auslegen. Wir schaffen uns vielmehr in der Begegnung mit den alten Texten neue Wirklichkeiten.“ Das Gewicht verschiebt sich also vom Text auf den Ausleger, dessen Denken wiederum imprägniert ist von seiner sozialen Zugehörigkeit. Nicht das, was der Text objektiv sagt (kein Text sagt etwas objektiv), sondern das, was der Text in uns auslöst, ist entscheidend für das Textverständnis der spätmodernen Bibelausleger. Rob Bell ist zum Beispiel jemand, der so mit der Bibel umgeht.
In der Tradition dieser spätmodernen Bibelauslegung steht auch das sogenannte „Hermeneutische Cruising“. Der Begriff „Cruising“ stammt aus der englischen Seefahrersprache und bedeutet wörtlich „mit dem Schiff kreuzen, herumfahren“. Innerhalb der schwulen Milieus wird er gern benutzt, um die aktive Suche nach einem kurzfristigen Sexpartner zu bezeichnen. Ein „Cruiser“ ist jemand, der zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Auto unterwegs ist, um einen potenziellen Intimpartner zu finden. Dabei achtet er auf zarte schwule Signale und setzt selbst mittels Körpersprache, Kleidung oder Codes Fingerzeige, die von Eingeweihten erkannt werden. Des Öftern endet Cruising mit anonymem Sex, weshalb im homosexuellen Diskurs der Begriff auch als Synonym für den schnellen Sex verwendet wird.
Insofern überrascht es nicht, dass das „Hermeneutische Cruising“ seinen Sitz in der schwulen Bibelauslegung hat. Timothy R. Koch, ein homosexueller Pfarrer und Pionier dieser hermeneutischen Herangehensweise, schreibt:
Ich nenne sie [d. h. die schwule Hermeneutik] hermeneutisches Cruising, weil Cruising der Name ist, mit dem wir den uns eigenen Weg des Erkennens bezeichnen, die uns eigene Sehnsucht nach Begegnung, den uns eigenen Verstand und Instinkt, die uns eigene Art, auf das (bzw. den) zu antworten, was (der) uns anzieht und bewegt. Hermeneutisches Cruising bedeutet, den Frauen und Männern in der Bibel mit derselben Haltung zu begegnen, mit der wir uns einer jeglichen heterogen zusammengesetzten Gruppe nähern würden: in der Erwartung, dass unter diesen Menschen einige Freundinnen und Freunde sein werden, einige Feinde, einige, denen unser Lebensstil egal ist (oder auch die für uns nichts weiter bedeuten) … und einige echt heiße Typen!“ (Timothy R. Koch, „Hermeneutisches Cruising: Homoerotik und die Bibel“, Werkstatt Schwule Theologie, Nr. 3 (10/2000), S. 213–225, hier S. 219)
Diese Weise der Bibelauslegung richtet sich gegen jedes Konzept, das der Bibel immer noch die Vollmacht zugesteht, „Menschsein zu regulieren oder in seiner Eigentlichkeit zu bestimmen und so mein Verhalten und das Verhalten anderer zu normieren“ (T.R. Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219). Verworfen wird jeder autoritative Anspruch, der von außen an den Menschen herantritt. Kompetenzzentrum der Auslegung ist das innerseelische Begehren. Die innere Wahrheit entscheidet über die Bedeutung und das Recht, die oder das fremde Wahrheiten für mein Leben haben dürfen. Timothy R. Koch schreibt:
Der hermeneutische Cruiser wird beim Lesen der Bibeltexte seine Augen und Ohren für das offenhalten, was seine Wünsche uns Sehnsüchte anspricht. Er ist immer dabei, „in dem Wald von Texten nach lebenseröffnenden, spannenden Spuren und Begegnungen zu suchen!“(T.R. Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219–220). In der Bibel herumcruisen bedeutet, die eigene erotische Erkenntnisfähigkeit und das mir gehörende erotische Wissen in die Begegnung mit den biblischen Schriften einzubringen. „Hermeneutisches Cruising setzt wie jedes Cruising in der wirklichen Welt voraus, dass ich offen bin für neue Möglichkeiten, dass ich dem Aufmerksamkeit schenke, was mir neu vor Augen kommt, meine Neugier erregt oder als vielversprechendes Signal daherkommt – und mich einfach darauf einlasse. (T.R. Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219–220).
Ich erläutere das Cruising an zwei Beispielen. Das erste Beispiel stammt von Koch selbst. In seiner Exegese von 2Könige 1,2–8 erkennt er in Elia einen Gott der Ziegen, da sich „geheiligte Homosexuelle zu verschiedensten Zeiten der Geschichte in Ziegenfelle kleideten und zu Medien von Ziegengottheiten wurden“ (T.R. Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 221). Das zweite Beispiel stammt von der evangelischen Pfarrerin Dr. Kerstin Söderblom, die Jakobs Kampf am Fluss Jabbok queer auslegt (eine Kurzversion dieser Interpretation wurde hier veröffentlicht). Ihr Fazit lautet:
„Vor diesem Hintergrund zeigt sich in dieser biblischen Geschichte ein Gott, der ganz anders ist. Er überschreitet Grenzen und zwingt auch Jakob Grenzen zu überschreiten. Dieser Gott ist nicht männlich, nicht weiblich. Er lässt sich körperlich berühren und berührt selbst. Dadurch sprengt er die dualistisch angeordneten Kategorien von Normalität und Abweichung, Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Und als der Morgen anbricht, segnet Gott den Jakob.“
Der Cruiser greift bei seiner Auslegung der Bibel Fragmente und Begriffe auf und entwickelt gefühlige Assoziationsketten, um eigene Begehren und Ziele zu untermauern. Von daher überrascht es nicht, dass der exegetische Ertrag des hermeneutischen Cruisings vor allem das widerspiegelt, was die Herzen der Ausleger bewegt. Es handelt sich um ein Format der Eisegese, bei der etwas in den Text hineingelesen wird, was dort nicht steht. Ich bin geneigt, sogar von Projektionen zu sprechen, da innerpsychischer Inhalte oder Konflikte auf die Texte übertragen werden.
Was diese Herangehensweise besonders tragisch macht, wiegt freilich schwerer als eine verfehlte Textinterpretation. Der Cruiser kann unterm Strich im zu deutenden Text nur das finden, was er sucht. Er erlaubt der Heilige Schrift nämlich nicht mehr, sein eigenes Vorverständnis aufzubrechen. Gott darf nicht mehr reden. Was zählt, ist die „intrinsische Autorität“. Das Ergebnis der Auslegung ist eine Echo der eigenen Seele. Was bleibt, ist Einsamkeit!
Die Ausgabe 2/2020 oder ein Abonnement von Bibel und Gemeinde kann hier bestellt werden: bibelbund.de.
Ich bin freundlicherweise noch auf ein aktuelles Beispiel hingewiesen worden. Klaus-Peter Lüdke betreibt in seinem Beitrag „Joseph und ihre Geschwister“ (erschienen in: Deutsches Pfarrblatt 1/2020, S. 34–38) ebenfalls hermeneutisches Cruising.
Im Ergebnis wird dann aus Josef eine Frau:
Hier der vollständige Artikel: http://www.pfarrerverband.de.
Liebe Grüße, Ron
Nun ja, bereits gegen 1970 erschien ein Buch eines Autors namens Grobian Gans mit dem Titel „Die Ducks. Psychogramm einer Sippe“, in dem festgestellt wurde, dass der aus Disnyes Taschenbüchern bekannte Gustav Gans latent homosexuell sei. Gut, das Buch erschien noch in der Jux-Abteilung einer Verlagsgesellschaft, aber es zeigt doch recht deutich, dass man allen möglichen Quatsch aus jeder Literatur (ist Comic schon zur Literatur geadelt? Darf ich den Begriff verwenden?) herauslesen kann, wenn man es denn nur wirklich möchte. Schaue ich mir die Geschichten der Ducks an, dann mit dem Ziel einer kurzweiligen, intellektuel wenig anspruchsvollen Unterhaltung zum Zeitvertreib. Lese ich die Bibel, dann mit der Absicht, mich besser unter Gottes Wort zu stellen. Aber es geht ja auch anders: Natürlich kann ich mir auch ein beliebiges zu erreichendes Forschungsergebnis setzen und lese dann beliebige Literatur so, dass mein Wunschergebnis mit aus dem Kontext rausgerissenen Aussagen gestützt wird. Und dann wird auch aus Winnetou und Old Shatterhand ein schwules… Weiterlesen »
Ich muss gestehen, denn ich beziehe die Zeitschrift und habe versucht, den Artikel zu lesen, ich habe Dich bewundert, Ron, dass Du durchgehalten hast und den Artikel schreiben konntest.
Mich hat das so durchgeschüttelt – ich konnte nicht durchkommen.
Ich habe mich ertappt, erbarmungslos einfach zu denken: wie krank und komplett selbstzentriert können Menschen sein, die doch im tiefsten Innern spüren, dass es nicht richtig ist, wie sie sind, was sie da tun – und dass das doch mit Liebe zu Menschen nichts zu tun hat … Menschen gefallen zu wollen, hatte noch nie mit Liebe zu tun..
Und anstatt Hilflosigkeit und Angst zuzugeben, wird alles so verdreht bis es passt.
Ja, viel Lieblosigkeit von Christen hat dies sicherlich mit möglich gemacht.
Also muss auch ich über meine Erbarmungslosigkeit im Denken Buße tun … aber ich bin und bleibe fassungslos ob solcher Auslegungen
Die nächste transidente Gestalt der Bibel wird sicherlich David sein. Bisher ist man ja davon ausgegangen, dass er und Jonathan schwul waren. Das beinhaltet nun aber das Problem, dass er später als König viele Frauen hatte und mit ihnen auch zahlreiche Kinder. Denn um später so zu werden muss er sich ja vor seinem Herrschaftsantritt einer Konversionstherapie unterzogen haben, was nun aber weitgehend verboten ist. Eine Neubewertung der Texte der beiden Samuelbücher ist also dringend geboten!
Dieses „Cruising“ erinnert mich an charismatisch geprägte Bibellese, bei dem ich Gott frage „Was soll ich tun?“, die Bibel aufschlage, einen Vers lese und die Wünsche über meine zukünftige Handlung in den gelesenen Vers hineinprojiziere, so dass ich zuletzt handele wie ich wünsche. Freilich nicht nur Charismatiker legen so die Bibel aus. Haben nicht sogar Augustinus und sein Freund Alypius (im Achten Buch aus „Bekenntnisse“) den Finger auf einen Vers der zufällig aufgeschlagenen Bibel gelegt?
„Hermeneutisches Cruising“ ist lediglich vom Ausdruck etwas neues. Leider. Das Vorgehen, sich einfach das rauszusuchen was einem gefällt und so zu deuten, wie man es mag bzw. das es transport, was man selber aussagen möchte, ist schon sehr alt.
Die intentio auctoris spielt sicherlich bei diesen theologischen Cruisern keinerlei Rolle. Dieses unbegründbare und gegen alle Vernunft gerichtete Vorgehen verschandelt die Heilige Schrift zu einer Glaskugel, die auf Jahrmärkten Verwendung findet und aus der angeblich „hellsichtige“ Scharlatane die Zukunft der interessierten Klienten vorhersagen, Ratschläge erweisen und ihnen Geld aus der Tasche ziehen.
DIe Betreiber solcher „Exegesen“ sind keine Theologen, sondern Verbreiter unchristlicher Privatoffenbarungen. Vielleicht wären sie in einer Esoterik-Szene besser aufgehoben als in der Kirche.