Antisemitismus

Der verdrängte Exodus

Stephan Grigat beschreibt in der FAZ (04.01.2020, Nr. 2, S. 13) unter Rückgriff auf eine Studie von Nathan Weinstock ein Phänomen, über das sehr selten gesprochen wird: die Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten:

Von den fast 900000 in arabi­schen Ländern vor 1948 leben­den Juden sind heute nur wenige tausend übrig geblie­ben. Im mehr­heit­lich nicht­ara­bi­schen Iran, wo vor der „Isla­mi­schen Revo­lu­ti­on“ zwischen 100000 und 150000 Juden lebten, haben nach der Macht­über­nah­me des Ajatol­lah-Regimes 1979 über neun­zig Prozent der jüdi­schen Minder­heit das Land verlas­sen. Von den über 250000 marok­ka­ni­schen Juden sind nur etwa 2000 im Land geblie­ben. In Tune­si­en lebten 100000 Juden, heute sind es etwa 1500. In Ägyp­ten lebten 1948 75000 und im Irak 135000 Juden, heute sind es jeweils weni­ger als zwan­zig. Im Jemen waren es rund 60000, heute wird ihre Zahl auf fünf­zig geschätzt. Die syri­sche jüdi­sche Gemein­de wurde von 30000 auf weni­ger als fünf­zehn dezi­miert. In Alge­ri­en lebten 1948 140000 Juden, in Libyen 38000. In beiden Ländern leben heute über­haupt keine Juden mehr.

In vielen Fällen muss­ten die Flücht­lin­ge nahezu ihren gesam­ten Besitz zurück­las­sen. Nathan Wein­stock spricht in seiner umfas­sen­den Studie „Der zerris­se­ne Faden: Wie die arabi­sche Welt ihre Juden verlor“ bezüg­lich des Iraks von einer „Berau­bung gigan­ti­schen Ausma­ßes“. In Ägyp­ten durf­ten die zur Flucht genö­tig­ten Juden nur zwan­zig ägyp­ti­sche Pfund mitneh­men. Die Schät­zun­gen der von Juden in den arabi­schen Ländern seit 1948 zurück­ge­las­se­nen und konfis­zier­ten Werte reichen bis zu 300 Milli­ar­den US-Dollar nach heuti­ger Bewer­tung, davon über 100000 Quadrat­ki­lo­me­ter Land­be­sitz, insbe­son­de­re in Ägyp­ten, Marok­ko und dem Irak (was einer Fläche etwa fünf­mal so groß wie Israel entspricht).

Francis Schaeffer kritisierte christlichen Antisemitismus

Francis Schaeffer hat im Jahre 1943 einen Artikel publiziert, in dem er den christliche Antisemitismus scharf kritisiert. Er schrieb (The Independent Board Bulletin, October 1943, S. 16–19):

Wir leben in einer Zeit, in der der Antisemitismus eine mächtige Kraft ist. In vielen Ländern hat er zum Tod unzähliger Juden geführt. Sogar in unserem eigenen Land zeigt er sich von Zeit zu Zeit in verschiedenen Erscheinungsformen. Selbst unter denen, die sich als fundamentalistische Christen bezeichnen, finden wir gelegentlich eine Person, die einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringt, über die Juden herzufallen.

Wenn man den Antisemitismus betrachtet, ist das Erste, was sich in meinem Denken fixiert, die Tatsache, dass Christus ein Jude war. Wenn wir das Neue Testament bei Matthäus 1,1 öffnen, finden wir als allererste Aussage über Christus, dass er von Abraham abstammt und ein Nachkomme Davids war. Die Bibel sagt nicht, dass Jesus zufällig ein Jude war, sondern das Wort unterstreicht immer wieder, dass er ein Jude war.

Mehr: www.pcahistory.org.

„In Cafés sitzen keine Frauen mehr“

Michaela Wiegel hat für die FAS mit der französischen Philosophin Elisabeth Badinter und der deutschen Journalistin Alice Schwarzer über Antisemitismus und Islamismus in Frankreich gesprochen (FAZ vom 10.12.2017, Nr. 49, S. 5). Beide Frauen zählen zur linken feministischen Szene. Einige Antworten sind bemerkenswert und sollten die Politiker in der EU alarmieren. Auszüge:

Elisabeth Badinter: Es gibt heute in Frankreich keine andere Bevölkerungsgruppe, die wie die Juden ausschließlich aufgrund ihrer Religion schikaniert, gefoltert und sogar getötet wird. Diese Straftaten wer- den immer von Personen mit muslimischem Einwanderungshintergrund begangen, die sich dem Islamismus verschrieben haben.

Badinter: Seit viele sozial benachteiligte Familien unter dem Einfluss der Salafisten oder der Muslimbruderschaft stehen, wiegt das Wort der Imame schwerer als das der Lehrer. In zahlreichen Klassenzimmern in den Vorstädten kann die Geschichte des Holocausts nicht mehr unterrichtet werden, so stark ist die Ablehnung der Schüler. Das Wort des Lehrers gilt als Ausdruck der dominanten Mehrheitsgesellschaft, von der sich manche Schüler ausgegrenzt fühlen.

Schwarzer: Die Herausforderung liegt darin, die Probleme nicht zu leugnen. Deutschland hat eine massive Zuwande- rung von jungen Männern erlebt, die aus Ländern kommen, in denen Frauen völlig rechtlos sind, die tief patriarchale Traditionen haben und außerdem seit Jahren einer radikalislamischen Propa- ganda ausgesetzt sind. In ihrem Gepäck bringen sie, wie es der algerische Schrift- steller Kamel Daoud so treffend gesagt hat, all dies mit zu uns.

Badinter: Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Noch vor fünf Jahren konnte ich mich in Aubervilliers oder La Courneuve als Frau unbesorgt in ein Straßencafé setzen. Das ist vorbei. In den Cafés sitzen einfach keine Frauen mehr.

Hier online: www.faz.net.

„Mit uns spricht seit sechs Monaten keiner“

DAS ERSTE und ARTE zeigen nun doch den Film „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“, nachdem sie zuvor eine Ausstrahlung abgelehnt hatten. Der Film läuft an diesem Mittwoch um 22.15 Uhr im ERSTEN. Im Anschluss wird in der Sendung Maischberger von 23.45 Uhr an über den Film diskutiert. Die ARD und ARTE haben das Gespräch mit den Machern des Film leider gescheut. Die FAZ hat hingegen mit dem Regisseur Joachim Schroeder gesprochen. Ein Auszug:

FAZ: Sie verweisen darauf, dass die Mehrheit in den Gesellschaften Deutschlands und Frankreichs nicht wahrhaben will, wie sehr jüdische Mitbürger in diesen Ländern inzwischen in Bedrängnis geraten sind. Es gibt doch aber immer wieder Gelegenheiten, bei denen sich Politik und gesellschaftliche Gruppen für das Judentum, für die Erinnerung an den Holocaust und für den Staat Israel einsetzen.

Joachim Schroeder: Die deutsche Erinnerungskultur ist zu einem leeren Ritual verkommen – verbunden mit deutschem Aufarbeitungsstolz. Der Historiker Eberhard Jäckel brachte es fertig zu sagen: „Es gibt Länder in Europa, die uns um dieses Denkmal beneiden.“ Der Antisemitismus drückt sich heute antizionistisch aus. Der Hass gegen Juden wurde kollektiviert. Israel ist heute der Paria unter den Staaten. Dabei ist es für Antisemiten völlig egal, was der Staat Israel tut – es geht um dessen Existenz.

Mehr: www.faz.net.

„In die Mitte der Gesellschaft“

EU-Beauftragte Katharina von Schnurbein beklagt wachsende Judenfeindlichkeit in Europa:

In Europa nimmt Experten zufolge der Antisemitismus zu. Ein deutliches Anwachsen judenfeindlicher Vorfälle sei vor allem in Frankreich und Großbritannien zu beobachten, mit einer Steigerung von bis zu 36 Prozent im vergangenen Jahr. Eine geringere Steigerung gebe es auch in Deutschland, sagte die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, Katharina von Schnurbein, am Rande eines Symposiums der »Initiative 27. Januar« am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Sowohl physische Attacken als auch die Zahl der Sachbeschädigungen nähmen zu.

Schnurbein berichtete von einer zunehmenden Angst der jüdischen Bevölkerung in Europa. Viele Juden stellten sich persönlich die Frage, ob es für sie überhaupt eine Zukunft in Europa gebe. »Dass diese Frage – gut 70 Jahre nach der Schoa – überhaupt gestellt wird, ist ein großes Versagen«, sagte die EU-Antisemitismusbeauftragte.

Mehr: www.juedische-allgemeine.de.

Martin Heidegger: Ein moralisches Desaster deutscher Geistesgeschichte

„Schönzureden ist nämlich nichts mehr: Der Fall Heidegger ist ein intellektuelles wie moralisches Desaster deutscher Geistesgeschichte“, meint DIE ZEIT, nachdem sie den Briefwechsel zwischen dem Philosophen Martin Heidegger und seinem Bruder Fritz ausgewertet hat. Die Wochenzeitung schreibt:

Sensationell neu ist daran die ungeschminkte Selbstauskunft über die politische Gesinnung. Liest sich Heideggers Antisemitismus in den Schwarzen Heften, einer Art Denktagebuch, noch seinsphilosophisch überhöht, zeigt er sich hier ganz direkt und unverhohlen antisemitisch. Zudem kann man in den persönlichen Briefen detailliert sehen, dass der – anders als bislang gedacht – politisch bestens informierte Freiburger Professor ein früher und leidenschaftlicher Anhänger des Nationalsozialismus ist.

Bereits Ende 1931 schenkt der 43-jährige Heidegger seinem Bruder Mein Kampf zu Weihnachten und rühmt den „ungewöhnlichen und sicheren, politischen Instinkt“ Hitlers. Das rechte Minderheitskabinett unter Reichskanzler Franz von Papen, das mithilfe von Reichspräsident Hindenburg zwischen Juni und Dezember 1932 regierte, wird von Heidegger als jüdische Verschwörung kommentiert. Er beklagt, wie sich die Juden „allmählich aus der Panikstimmung befreiten, in die sie geraten waren. Dass den Juden ein solches Manöver wie die Papenepisode gelungen ist, zeigt eben, wie schwer es auf jeden Fall sein wird, gegen alles, was Großkapital und dergleichen Groß- ist, anzukommen.“ Am 13. April 1933 schreibt Heidegger schließlich begeistert: „Es zeigt sich ja von Tag zu Tag, in welche Größe jetzt Hitler als Staatsmann hinaufwächst. Die Welt unseres Volkes und des Reiches ist in der Umbildung begriffen, und jeder, der noch Augen hat zu sehen und Ohren zu hören und ein Herz zum Handeln wird mitgerissen und in eine echte und tiefe Erregung versetzt.“

Das Engagement Heideggers für Hitlers Staat inklusive NSDAP-Beitritt erweist sich als logische Konsequenz eines weltanschaulichen Gesinnungstäters. Keineswegs ist es die Entscheidung eines opportunistischen Karrieristen oder die ahnungslose Verirrung eines Unpolitischen, wie man es jahrzehntelang zur Entlastung des Philosophen hören konnte. Auch dürfte die Annahme eines sehr eigenwilligen Nationalsozialismus Heideggers, der angeblich frei von jedem Rassismus sei, nun endgültig revidiert sein.

Mal sehen, was die Fachwelt in zehn Jahren zu Heideggers Verstrickungen schreiben wird.

Mehr: www.zeit.de.

Das neue Unbehagen in jüdischen Gemeinden

Fast ein dreiviertel Jahrhundert nach Auschwitz könnte man meinen, der Antisemitismus sei ausgetrieben. Eine internationale Tagung in Berlin scheint das Gegenteil zu beweisen. Demnach gibt es immer wieder neue Erscheinungsformen des Antisemitismus.

Antisemitismusforscher Olaf Glöckner vom Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam sagt in einem DLF-Beitrag:

Aus den deutschen Ergebnissen können wir herauslesen, dass es massive Konsequenzen in der jüdischen Bevölkerung in Deutschland gibt. Wenn also knapp 20% in dieser Umfrage angegeben haben, sie vermeiden es ständig oder zeitweise, einen jüdischen Veranstaltungsort aufzusuchen. Und auch 19% der in Deutschland befragten Juden haben angegeben, dass sie in letzter Zeit vermieden haben, an ihrer Äußerlichkeit als Jüdin oder Jude erkannt zu werden.

Mal reinhören:


Vatikan: Juden ohne Glauben an Jesus Christus erlöst

Der Vatikan hat ein Dokument herausgebracht, in dem die katholische Kirche ausdrücklich auf jeden Versuch, Juden zum Christentum zu bekehren, verzichtet. Es heißt dort z.B.: „Aus dem christlichen Bekenntnis, dass es nur einen Heilsweg geben kann, folgt aber in keiner Weise, dass die Juden von Gottes Heil ausgeschlossen wären, weil sie nicht an Jesus Christus als den Messias Israels und den Sohn Gottes glauben.“ Pater Norbert Hofmann erläutert das Dokument mit den Worten: „Dieses Dokument bringt insofern auch neue Perspektiven, als es sagt: Die Juden sind gerettet, ohne an Jesus Christus als den Sohn Gottes und den Messias Israels zu glauben. Und das liegt im Heilsratschluss Gottes, das zu bewerkstelligen.“

Bei dem Dokument handelt es sich – so die Nachrichtenagentur kathnews unter Berufung auf den Vatikan – um keine offizielle Aussage des kirchlichen Lehramtes, sondern um „Überlegungen“ der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Ein wichtiges Ziel des Dialogs sei die gemeinsame „Bekämpfung aller Erscheinungen rassistischer Diskriminierung gegenüber Juden und aller Formen des Antisemitismus, der sicher noch nicht ausgerottet ist und immer wieder in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Kontexten auftaucht“.

Das Dokument, das aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von „Nostra Acetate“ verabschiedet wurde, kann hier in einer deutschsprachigen Übersetzung heruntergeladen werden: Vatikandokument-50-Jahre-Nostra-aetate.pdf.

Ebenfalls dazu ein Beitrag des DLF:

 

Die Marke Heidegger

Eggert stellt in einem ZEIT-Artikel die These auf, dass die Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, dass Image des Denkers zu kontrollieren und kritische Stimmen klein zu halten.

Als Anfang des Jahres Martin Heideggers Schwarze Hefte veröffentlicht wurden, war das Entsetzen in der Öffentlichkeit groß. In seinen geheimen Notizbüchern legte der Philosoph eine Judenfeindschaft an den Tag, die selbst seine Kritiker kaum für möglich gehalten hätten. Heidegger sprach vom Krieg des „Weltjudentums”, und noch nach 1945 beklagte er eine jüdische „Rachsucht”, deren Ziel es sei, die „Deutschen geistig und geschichtlich auszulöschen”. Nicht einmal erwähnt, geschweige denn bedauert werden die Opfer des Holocausts.

Doch warum erfuhr die Öffentlichkeit erst so spät von Heideggers Judenfeindschaft? Und wenn der Antisemitismus seine Philosophie viel tiefer prägte als bisher gedacht: Sollten sich davon nicht Spuren in der Gesamtausgabe finden lassen, die seit 1975 im Verlag Vittorio Klostermann erscheint?

Es gibt Spuren, aber sie wurden von den Erben mit Eifer verwischt. Die Erben üben eine strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit über das Heidegger-Bild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen klein zu halten.

Wie diese Kontrolle funktioniert, hat zum Beispiel Peter Trawny erlebt, heute Professor in Wuppertal und Herausgeber der Schwarzen Hefte. 1995 betrauten ihn Professor Friedrich-Wilhelm von Herrmann, letzter Privatassistent Martin Heideggers und „leitender Herausgeber” der Gesamtausgabe, sowie Hermann Heidegger, Sohn Martins und Nachlassverwalter, mit der Herausgabe von Band 69 – der um 1938 geschriebenen Geschichte des Seyns.

Trawny machte eine erschreckende Entdeckung. Er stieß in der Handschrift auf eine Passage, in der Heidegger fragt, „worin die eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet ist”. Soll der skandalträchtige Satz in die Gesamtausgabe aufgenommen werden? Er habe sehr dafür plädiert, sagt Trawny heute, sich aber damals, als 31-Jähriger ohne sichere akademische Stellung, gegen von Herrmann und Hermann Heidegger nicht durchsetzen können – der Satz wird unterschlagen. Laut Trawny mit der Begründung, dass die Gesamtausgabe eine Ausgabe „letzter Hand” sei, die den „Denkweg” des Meisters als abgeschlossenen Text wie aus einem Guss präsentiere – und keine historisch-kritische Ausgabe, die Änderungen des Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache.

Nun fehlt Heideggers Überlegung über die „Vorbestimmung der Judenschaft zum planetarischen Verbrechertum” auch schon in einer Abschrift des Manuskripts, die sein Bruder Fritz später angefertigt hat. Martin Heidegger prüfte die Abschriften des Bruders immer nach, er dürfte die Auslassung mithin gebilligt haben. Hat also der Meister selbst bereits sein Bild retuschiert und gefälscht?

Hier mehr: www.zeit.de.

Antisemitismus

Antisemitische Ressentiments finden sich im Islamismus, sind verankert im Rechtsextremismus und brechen sich in Teilen des linksextremistischen Milieus Bahn. Zu einfach wäre es allerdings, judenfeindliche Einstellungen radikalen Gruppierungen allein zuzuschreiben, denn sie existieren auch in der Mitte der Gesellschaft. Wer sich für das Thema interessiert, sollte sich mal Aus Politik und Zeitgeschehen 28–30/2014 ansehen.

In dem Beitrag „‚Man wird doch noch mal sagen dürfen …‘ Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur“ geht die Autorin Lena Gorelik auch auf das Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass ein, das am 4. April 2012 in den Tageszeitungen „Süddeutsche Zeitung“, „La Repubblica“ und „El País“ erschienen ist. Jacob Augstein hatte damals Grass wortstark verteidigt.

Jakob Augstein, Journalist und Verleger, anerkannter Sohn des „Spiegel“-Begründers Rudolf Augstein und leiblicher Sohn des Schriftstellers Martin Walser, Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“ und Kolumnist auf „Spiegel Online“, befand zwar, dass das Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus literarischer Sicht nicht groß sei, kommentierte aber folgende Zeile von Grass „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ mit den Worten: „Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen.“ Der Journalist, der sich beim Literaten für einen vermeintlichen Tabubruch bedankte, landete auf der Negativliste des Simon-Wiesenthal-Centers, in der „Top-Ten“ antisemitischer und antiisraelischer Verunglimpfungen für 2012 auf dem neunten Rang, was zu Empörung in der deutschen Presselandschaft führte. Diese Empörung – neben Augstein fanden sich auf der Liste unter anderem Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft und die iranische Regierung um Mahmud Ahmadinedschad – ist verständlich.

Nichtsdestotrotz kann und muss man diskutieren, warum Jakob Augstein bei der Beschreibung von Gaza auf aus anderen Zusammenhängen entliehene Begriffe wie „Lager“ zurückgreifen muss. Bei Literaturnobelpreisträgern, Journalisten und Publizisten, die, so möchte man annehmen, das Wort und das Spiel mit Worten lieben und auch beherrschen, darf man erwarten, dass sie sich genau, und zwar ganz genau, überlegen, mit welchen Begriffen sie, erst recht bei brisanten Themen, um sich werfen. Auch hier gibt es eine dünne Linie zwischen Begriffen, die akzeptabel sind, und jenen, die den Eigenschaftszuschreibungen zuzurechnen sind, die den Antisemitismus kennzeichnen, wenn sie die Juden (und hierfür muss vorab der Staat Israel mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt werden) als machthungrig, gefährlich, hinterhältig, zerstörerisch, verschwörerisch, nachtragend oder geldgierig beschreiben. Dazwischen, auf der ganz dünnen Linie, stehen all jene Begriffe und Bilder, die nicht per se antisemitisch sind, aber jederzeit so aufgeladen, interpretiert und aufgenommen werden können.

Die Ausgabe kann hier in verschiedenen Formaten heruntergeladen werden: www.bpb.de.

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