Michael Horton: Missionale Gemeinde oder neues Mönchtum
Anbei der vollständige Artikel:
- Michael S. Horton: »Missionale Gemeinde oder neues Mönchtum«, 2011
mit Literaturangaben als PDF-Datei: Michael_Horton_Mönchtum.pdf.
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Wenn wir Reich Gottes bauen, indem wir »Evangelium leben«, dann hat es durchaus Sinn, nicht länger zur Kirche zu gehen. Dann könnten wir unser Jüngersein vor Ort leben oder in nachbarschaftlichen Hilfsprojekte investieren. Willard merkt dazu an: »Es ist ein tragischer Fehler, zu denken, Jesus habe uns kurz vor seiner Himmelfahrt sagen wollen, wir sollten – nach modernem Verständnis – Gemeinden gründen … Er wollte vielmehr, dass wir ›Brückenköpfe‹ oder Operationsbasen für das Reich Gottes bauen, wo immer wir auch sind … Die äußerlichen Auswirkungen eines Lebens in Christus bedeuten eine andauernde, moralische Revolution, die solange geht, bis der Plan mit der Menschheit auf Erden vollendet ist.« Die Frage an echte Jünger muss daher lauten: »Werdet ihr eure Kirchen verlassen, um zu seiner Gemeinde zu werden?«
Kimball drückt es ähnlich aus: »Wir können nicht ›zur Kirche gehen‹, wir sind die Kirche.« Von hier aus zieht Kimball die bekannte Grenzlinie zwischen Evangelisation (Mission) und den Kennzeichen der Gemeinde (Gnadenmittel). Kimball hält die Entwicklung seit der Reformation für falsch:
In ihrem Bemühen, der Bibel zu ihrem Recht zu verhelfen und die gesunde Lehre aufzurichten, definierten die Reformatoren die Kennzeichen einer echten Kirche: Sie ist der Ort, an dem das Evangelium verkündet werden soll, die Sakramente richtig ausgeteilt und die Kirchenzucht ausgeübt werden soll. Diese Kennzeichen haben die Definition von Kirche allerdings im Laufe der Zeit immer mehr verengt: Die Kirche ist jetzt ein »Ort« [an dem sich Leute treffen] und keine »Daseinswirklichkeit« mehr. Der Begriff »Kirche« lässt nun an einen »Ort« denken, »an dem ganz bestimmte Dinge ausgeübt werden« wie predigen und Abendmahl halten.
Ironischerweise wird das Verständnis von Kirche als »›Ort, an dem ganz bestimmte Dinge ausgeübt werden‹ wie predigen und Abendmahl halten« von solchen Autoren dem missionarischen Aspekt gegenübergestellt, obgleich Jesus diese Gnadenmittel selbst als Missionsbefehl eingesetzt hat.
Die Verlagerung von der Evangeliumsverkündigung hin zum Gespräch über das Evangelium als weltveränderndem Werkzeug der Gemeinschaft tritt in den Versammlungen klar zutage. Jones spricht über Jacob’s Well, einer wegweisenden Gemeinschaft der Emerging Church in Kansas-City: »Die Gemeinde hat das klassisch-presbyterianische Heiligtum mit den gebeizten Kirchenbänken und der Chorbühne um die erforderlichen Bildschirme ergänzt und die Kanzel durch eine Musikkapelle ersetzt. Die Redner stehen nicht länger auf der Bühne – die gehört nur mehr den Musikern« (meine Hervorhebung). (Man fragt sich, wovon genau sich diese Gemeinde von den Megakirchen unterscheidet?) Bei den Versammlungen der vorwiegend weißen Zuhörerschaft steht auf einer Seite ein Tisch, auf dem sich ein Zitat des derzeitigen anabaptistischen Theologen John Howard Yoder befindet: »Die sichtbare Kirche ist nicht die Überbringerin der christlichen Botschaft, sie selbst ist die Botschaft.«
Auch Jones’ eigene Gemeinde in Minneapolis (Solomon’s Porch, geleitet von Doug Pagitt) geht vom herkömmlichen Gottesdienst zum Gespräch über: »Es geht darum, das Predigtwesen über Bord zu werfen, das den Protestantismus fünfhundert Jahre lang beherrscht hat«, erklärt er. »Die Predigt wird hier dekonstruiert, auf den Kopf gestellt. Die Bibel gilt uns als ,Mitglied der Gemeinschaft‘, mit dem wir im Gespräch stehen; die gemeinschaftliche Auslegung einer Bibelstelle sprudelt nur so aus dem Leben der Gemeinschaft.« Brot, Traubensaft und Wein werden in einer »lauten Partyatmosphäre angeboten; daneben gibt es noch einen stillen Raum zur Meditation.«
[Aber] dieser Teil des Gottesdienstes steht nicht unter irgend jemandes Leitung … Das Abendmahl wird von verschiedenen Leuten eingeleitet – die eine Woche mit einem Gedicht, ein andermal mit einem Zeugniss über »das, was das Herrenmahl mir bedeutet« und die Woche darauf mit den traditionellen »Einsetzungsworten« aus dem allgemeinen Gebetsbuch. [Danach] setzen wir uns, um die Ankündigungen zu hören. Die Kinder kämpfen inzwischen um die letzten Krümel »Abendmahlsbrot«, meistens Zimtkuchen mit Rosinen, Schokoladenkekse oder ein Hartkäsebrot mit Jalapeño.[Es ist ein ziemliches Durcheinander], aber echter Gottesdienst ist eben eine chaotische Sache. Daraus mache ich keinen Hehl. Es soll gar nicht »anständig und ordentlich« zugehen, sondern chaotisch und nur mit einem Anschein von Ordnung, dafür aber mit großer Freude.
Das ist nun freilich alles nicht neu: Der Pietismus ordnete die Kennzeichen der Kirche, wie sie im Missionsbefehl unseres Herrn definiert sind (Predigt, Sakrament und Kirchenzucht) einer ganzen Reihe geistlicher Disziplinen unter, die Jesus nicht angeordnet hatte; einige Erweckungsbewegungen haben dieser Entwicklung noch Vorschub geleistet. Charles Finney, der berühmt-berüchtigte Erweckungsprediger der »Zweiten großen Erweckungsbewegung«, schrieb, der Missionsbefehl laute einfach: »Geht hin … Wir unterliegen hier keinen bestimmten Vorgehensweisen; es wird keine besondere Form verlangt … Der Auftrag [an die Jünger] lautete einfach, das Evangelium auf die effektivste Weise bekannt zu machen … und dadurch Aufmerksamkeit zu erregen und den Gehorsam einer möglichst großen Zahl von Menschen zu sichern. Niemand kann der Bibel irgendwelche Methoden entnehmen.« Das scheint eine doch recht eigenwillige Auslegung zu sein, da der Missionsbefehl die »Methoden« ganz genau angibt – sie finden sich gleich nach der Aufforderung: »Gehet hin!« Nichtsdestoweniger kam es zu jenen praktischen Ergebnissen der anthropozentrischen Theologie Finneys. Derzufolge ist die Kirche nicht Gottes »Botschaft«, der der Dienst am Wort und die Sakramente anvertraut sind, sondern »eine Gesellschaft von Moralreformern«. Wie Finney brauchen die Erwecker keine besondere Ausbildung für ihre Berufung, da es ja mehr die Taten als die Glaubensbekenntnisse sind, die den Auftrag der Kirche in der Welt vorantreiben. Eine ziemlich »chaotisches« Bestreben, in der Tat. Der katholische Historiker Garry Wills schreibt:
Die Versammlung im Feld setzte den Maßstab für die Qualifizierung zum Dienst: Die Prediger wurden durch den Beifall der Menge bestätigt. Institutionelle Qualifikationen, Reinheit der Lehre und persönliche Ausbildung wurden nicht gebraucht – tatsächlich mussten einige gelehrte Diener Unwissenheit vorspielen. Der Diener wurde von den Laien ordiniert, von den Leuten also, die er bekehrt hatte … Der »do-it-yourself«-Glaube verlangte nach einem »do-it-yourself«-Gottesdienst.
Wills zeigt die Verbindung zwischen Botschaft und Methode auf: Statt Evangelium Christi heißt es nun »gute Werke« – das führt logischerweise zur Erniedrigung der Gnadenmittel Gottes zugunsten einer Methodik innerer oder gesellschaftlicher Wandlung.
Fügen wir die Teile zusammen, dann zeigt sich folgendes: Wie das neue Mönchtum das Evangelium ins Gesetz verwandelt und nicht weiter »zur Kirche geht«, sondern »Kirche ist«, so macht sie aus der versammelten Gemeinde eine versprengte Gemeinde. Oder um eine hilfreiche Kategorie Abraham Kuypers zu bemühen: Die Kirche als Institution verschwindet zugunsten »organischer« Gemeinden. Die Christen sind in dieser Welt zu vielerlei aufgerufen: Sie sollen Eltern, Berufstätige, Bürger, Freunde und Nachbarn sein. Wie alle Menschen, die nach Gottes Bild geschaffen sind, so sind auch die Gläubigen zum Gehorsam gegenüber dem Gebot aufgerufen: Liebe Gott und deinen Nächsten! Die Kirche als Gottes offizielle Botschaft der Gnade jedoch ruft die Menschen von überallher zum Fest. Um eine andere Metapher zu gebrauchen: Die versammelte Gemeinde dient den Einzelnen als »Versalzungsort«; so können wiedergeborene Sünder, die die Vergebung erlangt haben, jede Woche neu als Salz in die Welt »gestreut« werden. Ohne Wort und Sakrament verliert das Salz seine Kraft und ist zu nichts mehr nütze, als dass man es ausschüttet, damit es zertrampelt werde.
Michael S. Horton, J. Cresham Machen Professor für Theologie und Apologetik am Westminster Seminar in California (Escondido), hat in der aktuellen Ausgabe von Modern Reformation einen Aufsatz über das »Neue Mönchtum« veröffentlicht. Die Zeitschrift hat freundlicherweise erlaubt, den Beitrag in deutscher Sprache im Theoblog zu veröffentlichen. Ivo Carobbio hat, wieder einmal, den Aufsatz übersetzt.
Ich werde:
in vier Teilen ohne Quellenangaben publizieren. Nach Veröffentlichung des letzten Teils werde ich auch eine PDF-Datei mit dem gesamten Text und den Literaturangaben anbieten. Ich bedanke mich bei Michael S. Horton, Modern Reformation und Ivo Carobbio!
Einige von uns erinnern sich an den Song von Tears for Fears: »Everybody Wants to Rule the World« [zu deutsch: »Jeder will die Welt beherrschen«]. Heute heißt das Mantra eher »Veränderung«, nicht »Herrschaft«. Viele jüngere Christen haben genug vom geistlichen Konsumismus und von Evangelisationseinsätzen mit dem Aufruf: »Lass Jesus in dein Herz, damit du nach dem Tod in den Himmel kommst.« Das Christentum muss doch mehr sein als nur »Seelenheil«, oder? Was verbirgt sich denn hinter der Phrase »Auferstehung des Leibes und ewiges Leben«? Geht es da nicht um eine neue Schöpfung? Singen wir nicht: »Joy to the World«, ja, erwarten wir nicht, dass sich das Reich Christi erstreckt, »so weit der Fluch reicht«?
Man wird dennoch fragen dürfen: »Ist dieses neuentdeckte Interesse an einer erlösten Schöpfung nicht von einem Paradigma motiviert, das sich eher dem Mönchtum verdankt als der weltbejahenden Frömmigkeit der Reformationszeit?
Das mittelalterliche Mönchtum war geteilt: Da waren jene, die das kontemplative Leben schätzten (spiritueller Aufstieg zum Himmel durch meditative Übungen). Dann waren da noch die anderen, die dem aktiven Leben den Vorzug gaben (spiritueller Aufstieg durch gute Werke, insbesondere für die Armen). Franz von Assisi – und später der nach ihm benannte Orden – betonte die »vita activa«.
Wir erleben heute erstens eine Wiedergeburt der kontemplativen Spiritualität. Traditionell evangelikal, legt sie die Betonung auf die »persönliche Frömmigkeit«: Jüngerschaft als innere Veränderung durch geistliche Übung. Richard Fosters »Nachfolge feiern – Geistliche Übungen neu entdeckt« (1979) hat vielen Christen die mittelalterliche Mystik und einige Schriftsteller der »vita contemplativa« zugänglich gemacht. Dallas Willard hat den Aufruf zur Jüngerschaft in seinen beiden Büchern The Divine Conspiracy (1998) und The Great Omission: Reclaiming Jesus‘ Essential Teachings on Discipleship (2006) wiederholt: Es geht um die innere Veränderung durch geistliche Übung.
Willard fordert Pastoren auf, sich zu fragen: »Besteht mein wichtigstes Ziel wirklich darin, Jünger zu machen? Oder sorge ich bloß für eine ‚reibungslosen Ablauf‘?« Kenntnisreich urteilt Willard, die Jüngerschaft habe ihre spezifische Prägung:
Die theologische Rechte sieht in der Jüngerschaft die Vorbereitung zur Rettung von Menschenseelen. Diese Vorbereitung steht heute allerdings eher unter der Leitung parakirchlicher Bestrebungen, da die örtlichen Gemeinden sich nicht wirklich darum gekümmert haben. Die Linken sehen in der Jüngerschaft eher so etwas wie soziales Engagement, von der Ausspeisung sozial Benachteiligter bis hin zu politischen Protesten oder ähnlichen Tätigkeiten. Was solide psychologische oder biblische Inhalte betrifft, hat der Begriff »Jüngerschaft« alle Bedeutung verloren.
Sei es nun in Form soteriologischer Bestrebungen oder in Form sozialen Engagements – die Christen seien zu »aktivistisch«. Was sie wirklich bräuchten, sei innere Veränderung durch geistliche Übungen, besonders durch »Abgeschiedenheit, Schweigen und Fasten«. Das, so Willard, seien die »Schlüssel des Reiches Gottes«. Er schreibt: »Ich habe noch niemanden getroffen, der regelmäßig Gebrauch dieser geistlichen Übungen macht – wie sie übrigens jeder kennt, der mit dem Inhalt des Neuen Testaments vertraut ist – und dabei geistlich abgekühlt, ratlos, bekümmert oder gescheitert wäre.«
Nach der Disziplin gefragt, die derzeit am stärksten geübt werden sollte, lautet Fosters Antwort: »Die Abgeschiedenheit«:
Die Abgeschiedenheit verkörpert die grundlegendste Disziplin des Verzichts – die »via negativa«. Das christliche Bestreben nach Engagement in der Welt ist löblich, aber wie Thomas von Kempten sagt: Sicher reist nur, wer auch zu Hause bleiben kann. Und Pascal sagte, wir könnten die Probleme der Welt nur lösen, wenn wir gelernt hätten, allein zu bleiben. Abgeschiedenheit ist für ein rechtes Engagement unabdingbar.
Zweitens ist innerhalb der Christenheit heute eine stärkere Betonung auf das »franziskanische Moment« (vita activa) echter Jüngerschaft als gesellschaftlicher Wandlung spürbar, insbesondere da, wo man sich um die Benachteiligten kümmert. Zwar werden geistliche Übung und innere Veränderungen nicht völlig ignoriert; viele Verfechter dieser Lebensart – ganz besonders in der Emerging Church-Bewegung – anerkennen den Einfluss von Autoren wie Foster und Willard. Doch die Gebetslabyrinthe, Gesänge, Keltenkreuze, Kerzen und »Aufzeichnungen« dienen letztlich allesamt mehr der Schaffung von Gemeinschaft, als dass sie die Abgeschiedenheit förderten; sie drängen die Gemeinschaft zum Zeugnis durch den Dienst. Die Leiter dieser Richtung zitieren gerne jenen Satz, der Franz von Assisi zugeschrieben wird: »Predige stets das Evangelium; wenn nötig, auch mit Worten.«
In diesen zwei Formen der mönchischen Frömmigkeit sind bei aller Verschiedenheit die Gemeinsamkeiten heute genauso erkennbar wie einst.
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Nachtrag vom 24.03.2011: Ursprünglich lautete der Titel dieser Reihe »Missionarische Gemeinde oder neues Mönchtum«. Nach einer kleinen Diskussion über den Begriff »missional« habe ich mich entschieden, den Titel leicht zu ändern. Der Begriff »missional« soll ein Missionsverständnis etablieren, das sich nicht nur darauf konzentriert, »Menschen für den Himmel« zu gewinnen und in Gemeinden zu sammeln, sondern Christen ganzheitlich für Teilhabe und Mitgestaltung dieser Welt zurüstet. Eine missionale Gemeinde bestärkt Christen, in Familie, Berufswelt und Freizeit eine »natürliche« missionarische und prägende Ausstrahlung zu entwickeln.