Moral

Precht: Moralisch-sittlichen Reserven verbraucht

Richard David Precht (Autor des Buches Wer bin ich?) hat in seinem SPIEGEL-Artikel »Soziale Kriege« einige Problemzonen unserer Gesellschaft sehr pointiert benannt. Ich glaube nicht, dass der Staat dafür da ist, Moral zu erzeugen und Erzieher des Volkes zu sein, sehe aber auch die Baustellen:

Es gibt Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland, es gibt einen Moralverlust in allen sozialen Schichten, einen Sittlichkeitsverfall im öffentlichen Umgang, eine Enthemmung bei Sex und Gewalt, eine soziale Erosion der Mittelschicht und vor allem: Desorientierung. Das Schwarze, in das Sarrazin trifft, ist jener Satz, auf den sich Sarrazin-Freunde wie -Gegner einigen können: So geht es nicht weiter! …

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis in diesem Zusammenhang formulierte Wilhelm Röpke: Die marktwirtschaftliche Ordnung beruht auf Voraussetzungen, die sie nicht selbst erzeugen kann. Wer gewinnorientiert und zweckrational handelt, verhält sich zwar ökonomisch schlau, aber er erzeugt damit keine Moral. Ganz im Gegenteil verbraucht er ein großes Kontingent an Moral, das er in der Gesellschaft vorfindet. Er nutzt die Regeln der Fairness. Er fordert Vertrauen ein und vertraut. Er geht von der Wahrhaftigkeit seiner Geschäftspartner aus, davon, dass sie ihre Waren tatsächlich liefern und ihre Kredite zurückzahlen. Doch all dies wird nicht vom Markt selbst geschaffen, sondern bereits vorausgesetzt, damit der Markt funktionieren kann. Aber: Je zweckrationaler die Menschen ihren Nutzen kalkulieren, umso ungesünder wird das gesellschaftliche Klima. Der Markt ist ein »Moralzehrer«, der unsere moralisch-sittlichen Reserven verbraucht.

Hier: www.spiegel.de.

Seelige Harmonie bei den Moralpsychologen

Die Moralpsychologie untersucht rein deskriptiv die tatsächlichen moralischen Wertvorstellungen von Menschen, meidet aber selbst ethische Aussagen. Jordan Mejas berichtet heute für die FAZ über eine Tagung von Moralpsychologen im östlichen New England (U.S.A.). In seinem amüsant geschriebenen Artikel »Feierliches Hochamt im Tempel der Vernunft« schildert Mejas, wie Psychologen, Biologen, Neurologen, »und allenfalls solche Philosophen, die sich auf Experimente und Einsichten der Hirnforschung stützen«, kontrovers über Moralbegründungen debattierten. Fast nichts ist in der »Babywissenschaft« unumstritten: Gibt es einen freien Willen?, Sind Moralvorstellungen in uns eingebaut oder durch Erfahrung erworben?, Sind Moralvorstellungen universell oder privat-intuitiv?.

Bei aller Vielfalt der Positionen herrschte in zwei Fragen offenbar Harmonie. Einig waren sich die Moralpsychologen nämlich darin, dass (a) Moral ein Naturphänomen ist (wir also in einer moralischen Welt leben) und (b) wir unsere Moralität keinem Gott zu verdanken haben.

Die säkulare Wissenschaft beherrschte die Konferenz. Als es an ihrem Ende jedoch zu einem ersten Konsens kommen sollte, gingen die Schlussfolgerungen gehörig auseinander. Schon auf die Frage, ob Religion als Teil der Evolution anzusehen sei, blieb die klare Antwort aus. Einig waren sich die Teilnehmer immerhin darin, dass auf Gott zu verzichten sei. Ihm, so das einhellige Resultat ihrer gewiss noch nicht abgeschlossenen oder womöglich nicht abschließbaren Untersuchungen, hat der Mensch die Moral nicht zu verdanken. Dass sie ihm angeboren ist, wollte derart kategorisch allerdings auch nicht jeder behaupten. Nur über den Befund, dass Moral ein Naturphänomen ist, herrschte Einigkeit, wenn auch bloß bis zu einem gewissen Grade. Denn ausschließlich zu verstehen sei das sicherlich nicht. Neben der Natur macht sich in der Moral eben auch die Kultur bemerkbar, und wo die Wirkung der einen aufhört und die der anderen beginnt, ist alles andere als ausgemacht.

Hier der Tagungsbericht: www.faz.net.

Welche Alternativen gibt es zum Relativmismus?

jonathan_littell.jpgDer Jude Jonathan Littell stammt aus Litauen, ist Amerikaner, lebt derzeit in Spanien und hat seinen Debütroman auf Französisch verfasst. Das Buch Die Wohlgesinnten über einen kultivierten Nazi-Henker hat ihm den Ruf eingebracht, ein das Böse banalisiernder Immoralist zu sein (siehe auch die FAZ vom 12. Sep. 2006).

In der heutigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ, 3. Nov. 2007, Nr. 256, S. 37) hat Littell über mögliche Alternativen zum ethischen Relativismus gesprochen. Er wurde von Jesús Ruiz Mantille gefragt:

Statt Relativismus wollen wir auch keinen Absolutismus des Schwarz-Weiß-Denkens heraufbeschwören. Wo liegt der Ausweg?

Hier seine Antwort:

Wenn Gott verschwindet, stehen wir vor einem Dilemma. Die Werte müssen sich auf etwas beziehen, sie müssen irgendwo herkommen. In einer Welt ohne Gott ist es schwierig, ein ethisches und moralisches System einzurichten. Die Ideologien haben versucht, ein Ersatz zu sein, aber auch sie scheiterten, und jetzt haben wir gar nichts mehr. Und weder iPod noch Handel und Werbung schaffen ein Wertesystem. Die. Werte, denen wir mit unserem übertriebenen Konsumverhalten folgen, bedeuten gar nichts. Unsere Gesellschaft gleitet auf dem bisschen Erinnerung daher, einmal zu den Guten gehört zu haben. Sie lebt von den Resten.

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