Sören Kierkegaard

Kierkegaards Lob der orthodoxen Sündenlehre

Obwohl Sören Kierkegaard der existentialistischen Theologie, etwa Rudolf Bultmann, wichtige Gedankenanstöße geliefert hat, waren für ihn die Lehrpunkte der christliche Kirche nicht Vergegenständlichungen von Existenzerfahrungen wie für die Theologen im Gefolge Schleiermachers. Wunderbar deutlich wird das aus einem Abschnitt über das Dogma der Erbsünde (Die Krankheit zum Tode, 2005, S. 133–134). (Hinweis: Wenn er hier von orthodoxer Dogmatik und Orthodoxie spricht, meint er nicht die Lehre der östlichen Kirchen, sondern die „rechtgläubige Lehrbildung“ im Anschluss an die Reformation.)

Er schreibt:  

Daß dies so ist, ist etwas, wofür die orthodoxe Dogmatik und die Orthodoxie überhaupt beständig gekämpft hat und als pantheistisch jede Definition der Sünde abgewiesen hat, die diese nur zu etwas bloß Negativem, zu Schwachheit, Sinnlichkeit, Endlichkeit, Unwissenheit und dergleichen machte. Die Orthodoxie hat sehr richtig gesehen, daß hier die Schlacht geschlagen werden muß, oder um an das Vorangegangene zu erinnern, daß hier das Ende befestigt werden muß, daß es hier gilt, zurückzuhalten; die Orthodoxie hat richtig gesehen, daß das ganze Christentum, wenn die Sünde negativ bestimmt wird, ohne Halt ist. Darum schärft die Orthodoxie ein, daß eine Offenbarung Gottes da sein muß, um den gefallenen Menschen zu lehren, was Sünde ist welche Mitteilung dann, ganz konsequent, geglaubt werden muß, da sie ein Dogma ist. Und es versteht sich, das Paradox, der Glaube, das Dogma, diese drei Bestimmungen bilden eine Allianz und Übereinstimmung, die der sicherste Halt und ein Bollwerk gegen alle heidnische Weisheit sind.

Das Paradox bei Kierkegaard ist nach wie vor ein Stein des Anstoßes, über den viel zu diskutieren ist. Klar ist aber, dass eben für Kierkegaard es (a) keinen christlichen Glauben ohne Erbsündenlehre geben kann, (b) die menschliche Vernunft aus eigenem Vermögen die Tiefe der Sünde nicht zu erschließen vermag (also auch die Daseinsanalyse an Grenzen stößt) und schließlich (c) Sünde nicht als Mangel (Negation) gesehen werden darf. Diese scharfe Absage an die spekulative Dogmatik und Vermittlungstheologie sollten wir uns in einer Zeit, in der auch in Bekenntniskreisen die Lehre von der Sünde verflacht, zu Herzen nehmen.

Sören Kierkegaard vor 200 Jahren geboren

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Sören Kierkegaard

Gestern wäre der dänische Schriftsteller und Philosoph Sören Kierkegaard 200 Jahre alt geworden. Anbei der Link zu einem kurzen ERF-Interview, das ich heute anlässlich des Jahrestages gegeben habe (beim Gespräch ist leicht zu „erhören“, dass ich gerade mit einer Erkältung und einer Pollenallergie kämpfe).

Zur Vertiefung empfehle ich den Aufsatz „Schaeffers Kierkegaard: Können wir mit ihm leben“ aus dem Buch Wahrheit und Liebe (Bonn: 2006, S. 127–180) oder die gekürzte Version: Ron Kubsch: „Kierkegaards Sprung“, MBS Texte 144 (2010). Der MBS Text kann hier unentgeltlich heruntergeladen werden: mbstexte144.pdf.

Sören Kierkegaard als Medienkritiker

Ein wunderbarer DLF-Beitrag über die Medienkritik Sören Kierkegaards. Das Publikum lässt sich als Masse durch die Presse leiten. „Ein wahres Martyrium ist da, wo man mit der Menge zu tun hat.“ Oder: „Je stumpfer die Zeit, desto mächtiger die Presse.“

Im Dialog mit Kierkegaard

Mbstexte175 dc387fd861Mein Kollege Prof. Dr. Thomas K. Johnson hat vor einigen Jahren den Text „Dialogue With Kierkegaard in Protestant Theology: Donald Bloesch, Francis Schaeffer, and Helmut Thielicke“ verfasst.

Twentieth century Protestant theology effectively began in 1919 with the publication of Karl Barth’s great Roman’s Commentary. Here Barth effectively declared the otherness of God and the crisis of modern optimistic religion and culture, and Barth did this under the influence of Søren Kierkegaard. Kierekegaardian phrases like “the infinite qualitative difference between time and eternity” echo throughout Barth’s early works, and these themes are an important part of what makes twentieth century theology so different from nineteenth century theology. In his later works Barth did not make so many references to the idiosyncratic Dane, but dialogue with Kierkegaard had begun and was to become a fascinating and many-sided element in the writings of many Protestant theologians after Barth. And this dialogue with Kierkegaard can serve as a kind of red thread that can lead us into some of the distinctive and interesting themes of the theology of the last century. Three theologians of the generation after Barth who carried on extensive dialogues with Kierkegaard were Donald Bloesch, Francis Schaeffer, and Helmut Thielicke. The three represent a variety of intellectual, confessional, and national backgrounds, yet the three have some important things in common. All three saw themselves as followers of the Protestant Reformation, and all three, like Barth, saw a very close connection between theology and Christian preaching. And all three thought the dialogue with Kierkegaard was significant. But there the similarity ends. Each theologian has a distinctive interpretation of and response to our Danish friend.

Der Text kann hier gratis heruntergeladen werden: mbstexte175.pdf.

Kierkegaard und das Paradox des Glaubens

Kierkegaard.jpgDer Däne Sören Kierkegaard gilt als Begründer der Existenzphilosophie und als Kritiker einer bürgerlichen Kirchlichkeit, für die das Christentum auf Sitte und Gewohnheit reduziert wurde. Mit seinen Schriften beeinflusste er zahlreiche Philosophen, Theologen und Schriftsteller von Martin Heidegger über Karl Barth bis zu Albert Camus.

Der DLF hat zwei informative Beiträge über Sören Kierkegaard veröffentlicht:

Teil 1:
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Teil 2:
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Eine schriftliche Darstellung, Würdigung und Kritik des Kierkegaardschen Fideismus findet sich hier:

Dem Leser wird auffallen, dass ich den Sprung leicht anders beurteile, als Professor Hermann Deuser im insgesamt meisterhaften DLF-Beitrag. Meines Erachtens gibt es bei Kierkegaard den Sprung als  „den qualitativen Übergang … vom Nichtglauben zum Glauben“ (so in der Unwissenschaftlichen Nachschrift).

Kierkegaards Sprung (Teil 5)

Dürfen Christen ihren Glauben durchdenken?

Kierkegaard diente den säkularen Existentialisten als Folie und ist Vordenker einer Theologie, die Offenbarung von Geschichte abtrennt. Er drängte bedauerlicherweise genau die Leute, die die Notwendigkeit einer lebendigen Christusbeziehung hervorhoben, in ein anti-intellektuelles Denkklima. Kierkegaard, der selbst einen erwähnenswerten Teil seines Vermögens für seine 2748 Bücher ausgab, initiierte so ungewollt eine Welle bildungsfeindlichen Christentums. Warum Verstehen, wenn Existieren im Glauben und Verstehen einander ausschließen?

Kierkegaard wollte mit seinem Rückzug in den fides qua das Christentum gegenüber der Offenbarungskritik immunisieren. Die christliche Metaphysik wurde seit Kant in den Bereich des spekulativen Denkens verwiesen und durch eine streng an den Naturwissenschaften orientierte Erkenntnistheorie ersetzt. Mit der Etablierung dieses neuzeitlichen Wissenschaftsideals setzte die massive Kritik an der historischen Zuverlässigkeit der biblischen Überlieferungen ein. Es war diese Kritik, die den ›garstigen Graben‹ tiefer und breiter machte. Und genau dieser Kritik wollte er den leidenschaftlichen Glauben entziehen. Kierkegaard reagierte auf die Kritik der Offenbarung mit dem Appell, beim Glauben stehenzubleiben oder, um es anders zu sagen, mit dem Denken in den Glaubensdingen aufzuhören. Er verkennt dabei die zentrale Stellung, die das Denken im Leben der Gläubigen ein­nimmt. Anstatt nach Antworten auf die glaubensbedrohenden Zweifel zu suchen, verbietet Kierkegaard das Denken und fordert Gehorsam. Dieser Reflex löst natürlich das Problem nicht, sondern verdrängt es. Ohne Denken gibt es keinen Glauben. Schauen wir uns deshalb abschließend kurz an, warum das Denken im Leben eines Christen von großer Bedeutung ist.

Schon auf ihren ersten Seiten hebt die Bibel die Bedeutung des Denkens heraus. Der Sündenfallbericht beginnt nämlich damit, dass die Schlange Eva auf böse Gedanken bringen will. Der Höhepunkt der Versuchung durch die Schlange ist das Versprechen: »Ihr werdet sein wie Gott und erkennen, was Gut und Böse ist« (Gen 3,5). Der Fall fand schließlich statt, als Eva sah, »dass der Baum begehrenswert war, Einsicht zu geben« (Gen 3,6). Auch in Röm 1,20–23 u. 28 lesen wir, dass der Abfall des Menschen von Gott in seinem Denken beginnt:

… weil sie Gott zwar kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten, noch ihm gedankt haben, sondern in ihren Gedanken in Torheit verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde. Indem sie behaupteten, Weise zu sein, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit dem Gleichnis eines Bildes …

Paulus kritisiert hier ein Denken, dass Gott die ihm gebührende Ehre verweigert. Das undankbare Denken des Menschen bleibt auf sich selbst bezogen, ist sich also selbst Gesetz. Dieses autonome Denken richtet sich gegen Gott, wird zur Selbstverherrlichung des Menschen benutzt und ersinnt allerlei Rechtfertigungen für die Sünde. Aber die Boshaftigkeit bezieht sich nicht auf die Formen des Denkens (z.B. die Logik), sondern auch auf die Denkvoraussetzungen und Inhalte. Das Denken ist finster und böse, weil es unter dem Einfluss der Sünde missbraucht wird. Die Alternative zum verkehrten Denken ist gleich­wohl nicht die Gedankenlosigkeit, sondern das gute Denken. Wir neigen dazu, den Bericht über den Sündenfall so zu deuten, als ob Einsicht und Erkenntnis an sich verwerflich seien. Aber die Problematik des Falls ist nicht Erkenntnis allgemein, sondern Erkenntnis, die unabhängig von Gott gewonnen wird. Kurt Hübner schreibt zum Sündenfallbericht:

Unter Erkenntnis aber ist hier die Hybris gemeint, dass sich der Mensch selbst, aus eigener Kraft, ohne der Gottheit zu bedürfen und ohne Rückbeziehung (religio) oder Rücksicht auf Gott, das Wissen über das so zu verstehende Gute und Böse anmaßt.

Verwerflich ist also nicht die Einsicht oder die Vernunft, sondern die heimatlose Vernunft. Schon im Alten Testament wird deutlich, dass die Alternative zum Miss­brauch des Denkens der gottgewollte Einsatz des Denkens ist. So lesen wir z.B. in Spr 28,26: »Wer auf seinen Verstand vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit lebt, der wird entkommen.« Und wenn wir in Spr 3,5 lesen: »Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand«, dann will damit nicht behauptet sein, dass Gottvertrauen in die Denkfaulheit führt. Der Autor warnt uns ganz im Sinne des Sündenfallberichtes davor, den Verstand autonom, also losgelöst von Gottes Gedanken, zu ge­brauchen. Wir sind berufen nachzudenken, was Gott denkt. Der Mensch, der durch den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus Vergebung für seine Schuld – auch die Schuld seines verkehrten Denkens – und ein neues Leben geschenkt bekommt, erhält ein neues Herz und damit ein neues Denken. Der unversöhnte Mensch kann die Interessen Gottes nicht erkennen. Der Mensch in der Gemeinschaft mit Gott hat jedoch »das Denken des Christus« (1Kor 2,16; vgl. 1,10). An die Stelle des bösen Denkens tritt Gottes Weisheit und ein Denken, das in Christus »alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis« sucht und findet (Kol 2,3). Der Friede mit Gott macht also das gute Denken wieder möglich. Er ist Voraussetzung dafür, dass die durch Sünde verwundete und selbstherrliche Vernunft heilt und ihre Heimat zurückfindet.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich das Denken eines Christen automatisch dem Denken Gottes unterordnet. Jemand, der Frieden mit Gott geschenkt bekommen hat, muss lernen, Gott mit seinem Denken zu lieben. Jesus sagt in Mt 22,37: »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzem Verstand«. Paulus verfolgt mit seiner Aufforderung in Röm 12,1–2 ein ähnliches Anliegen: »Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene«. Christen sollen ihre Gedanken unter den Gehorsam Christi bringen (vgl. 2Kor 10,5). Deshalb ist ein Christ ein denkender Mensch, ein Mensch, der seine nun beheimatete Vernunft dazu einsetzt, Gott die Ehre zu geben.

Kierkegaards moralischer Appell, beim Glauben stehen zu bleiben, kann möglicherweise Zweifel und Unfrieden kurzfristig verdrängen. Langfristig steht er einer Glaubensvertiefung im Weg. Nur Gottes Worte, die tief fallen (vgl. Lk 8,12; ähnlich Mt 13,19), also denkerisch verarbeitet und in ein Verhältnis zur Lebenswirklichkeit gebracht werden, können aufgehen und Frucht bringen. Kierkegaard, der die Erbauung der lebendigen Christenheit im Sinne hatte, trug so unbeabsichtigt mit zur nihilistischen Wende des 19. Jahrhunderts bei. Seine Anschauung vom Christsein hat – wie Thomas Johnson treffend konstatiert – die westliche Gesellschaft tief verunsichert. »Eine Gesellschaft, die die Rationalität preisgibt, muss Gott, die Würde des Menschen, Sinn und all­gemeingültige moralische Werte als etwas Irrationales ansehen. Eine ganze Zivilisation verlor das intellektuelle Fundament, das ihr einst das Christentum gegeben hat.«

Schluss

Kierkegaards Sprung (Teil 4)

Die drei Ebenen des Glaubens

Betrachten wir das Problem einmal mit Hilfe der aus der lutheri­schen Orthodoxie stammenden Unterscheidung zwischen drei Ebe­nen des Glaubens (vgl. Abb. 2).

Die erste Ebene ist notitia, die Kenntnis eines Glaubensinhaltes. Wir können solche Inhalte auch Propositionen nennen. Propositionen sind Objekte mentaler Aktivitäten wie Wollen, Glauben oder Hoffen. Sätze oder Aussagen mit propositionalem Gehalt sind prüfbar, kön­nen war oder falsch sein. Die Apostel unterschieden zwischen wah­ren und falschen Glaubensinhalten, zwischen ungesunden Lehren und der heilsamen Lehre (vgl. Röm 16,17). Eine falsche Lehre steht im Widerspruch zu dem, was Gott will und offenbart hat. Die Apostel verkündigten die Lehre des Christus, (2Joh 10), die scharf gegenüber fremden Lehren abgegrenzt werden kann (vgl. Hebr 13,9). Sie waren beispielsweise davon überzeugt, dass der Gott, dem sie sich anvertraut haben, nicht lügt (vgl. Tit 1,2 u. Hebr 6,18) oder Je­sus Christus im Fleisch gekommen ist (2Joh 9). Menschen, die diese Propositionen ablehnten, waren in ihren Augen falsche Propheten.

Drei Ebenen des Glaubens

Abbildung 2: Die drei Ebenen des Glaubens aus Sicht der lutherischen Orthodoxie.

Die zweite Ebene des Glaubens ist assensus, die Bejahung oder Annahme be­stimmter Glaubensinhalte. Jemand, der einem Sachverhalt zu­stimmt, bekundet sein Interesse und Einverständnis mit dem, was er sachlich wahrgenommen hat. Stellen wir uns vor, wir interessierten uns für die Frage, ob Jesus Christus tatsächlich gelebt habe. Wir würden geschichtliche, kritische und apologetische Bücher studieren, die sich mit der Frage des historischen Jesus befassen. Irgendwann formulierten wir dann ein Ergebnis unserer Untersuchungen. Das, was wir als Resultat unserer Bemühungen präsentierten, und sei es das zurückhaltende Bekenntnis »Wir können nichts genaues dazu sagen!«, fände unsere Zustimmung. Wir hielten das, was wir ausgearbeitet hätten, für annehmbar und vertrauenswürdig.

Die dritte Ebene, fiducia, ist das Gottvertrauen, der persönlich ge­lebte Glaube. Kierkegaard, der täglich in Kopenhagen ein Christen­tum ohne fiducia wahrnahm, verlagerte den Glauben ganz in den Be­reich des Vertrauens oder Gehorsams. Doch keine der drei Ebenen des Glaubens darf fehlen. »Man kann Gott nicht anerkennen (= assen­sus), ohne ihn zu kennen (= notitia). Man kann Gott nicht vertrauen (= fiducia), ohne ihn anzuerkennen (= assensus). Oder man könnte auch sagen: Das (Gott)Gehören (= fiducia) setzt ein Gehorchen (= as­sensus), das Gehorchen ein Anhören (= notitia) voraus.« Der Gläu­bige soll nicht glauben, weil er Ungewusstes und Unverstandenes auf die Autorität der Kirche hin glaubt, sondern weil er sich darüber klar ist, woran er glaubt.

Die existentielle Dimension des Glaubens ist eminent wichtig. Aber Leidenschaft ohne Rückbezug auf eine über- und durchdenkbare propositionale Lehrbasis kann auch die Unwahrheit sein. Wer möchte dem Selbstmordattentäter, der im Getümmel eines Marktplatzes lächelnd eine Bombe zündet, die Leidenschaft absprechen? Kierkegaard schreibt: »Der einzige wahre Ausdruck dafür, dass es noch etwas Absolutes gibt, ist, dessen Märtyrer oder Märtyrer dafür zu werden.«

Kierkegaards Wahrheitsbegriff hat viel gemein mit dem, was wir Wahrhaftigkeit nennen. Er beharrt auf Leidenschaft, die sich entwickeln kann, wenn innere Überzeugungen eines Menschen mit dem kongruieren, was er sagt und tut. Diese eingeforderte Wahrhaftigkeit bleibt auch heute eine leider zu oft uneingelöste Herausforderung für Christen. Aber innere Überzeugung ist nicht selbst Kriterium der Wahrheit von Aussagen. Sie kann nur dort An­rede Gottes sein, wo sie sich auf propositionalen Offenbarung Gottes beruft. Kierkegaards Sprung vom fides quae in den Raum des fides qua verkürzt den von den Aposteln überlieferten Glaubensbegriff auf verhängnisvolle Weise. Er koppelt den Vollzug des Glaubens vom Inhalt ab.

Sprung des Glaubens bei Kierkegaard

Abbildung 3: Kierkegaard isoliert den leidenschaftlichen Glaubensvollzug vom Glauben, der geglaubt wird.

Das Christentum ist Existenz-Mitteilung, nicht propositionale Lehre, die verstanden oder begriffen werden soll oder will, da »es keinen direkten Übergang von der Einleitung zum Christwerden gibt, sondern das Christwerden im Gegenteil der qualitative Sprung ist«. Die Konfrontation mit dem absoluten Paradox soll dem Menschen jede Möglichkeit nehmen, sich mit Erklärungen einer notwendigen Entscheidung zu entziehen.

Kierkegaards Sprung (Teil 3)

Wider die leidenschaftslose Theologie

Dass existentielle Wahrheit etwas anderes ist als eine ›objektive Wahrheit‹ oder ›Wahrheit an sich‹, leuchtet ein. Problematisch allerdings ist, dass existentielle Wahrheit jeweils nur Wahrheit ›für mich‹ sein soll. Subjektive Wahrheit ohne intersubjektive oder transsubjektive Aussagekraft oder Gültigkeit schneidet das Erlebnis von der Welt der Tatsachen und des Wissens ab. Glaube in diesem Sinn kann von der Bezugnahme auf historisches Heilsgeschehen suspendiert werden. Dem Zugleich von historisch-kritischer Denkweise und einem innerlichen beseligten Glauben steht hier nichts mehr im Weg, da man springen kann. Geradezu kierkegaardianisch hat Rudolf Bultmann (1884–1976) dieses existentialistische Glaubensverständnis schon im Alter von 29 Jahren formuliert:

Der evangelische Glaube ist etwas anderes. Er ist die Hingabe an Gott, die sich nicht auf Wissen und nicht auf einem Willensentschluß gründet, sondern auf die Überwindung unseres Ich dadurch, daß Gott in unser Leben tritt: durch ein Erlebnis, das uns völlig demütigt und doch beseligt und erhebt, uns in eine neue Welt versetzt. Dies Erlebnis nennen wir Offenbarung Gottes.

Wir werden Kierkegaard allerdings nicht gerecht, wenn wir seine Subjektivierung der Wahrheit einseitig dämonisieren. Christwerden ist kein reiner Verstandesakt. Die Bekehrung oder Wiedergeburt eines Menschen bleibt, so exakt unsere theologischen Begriffe und Systeme auch sein mögen, geheimnisvoll. Wenn jemand Christ wird, dann ist das ein Werk des Heiligen Geistes, dass sich einem erschöpfendem menschlichen Zugriff entzieht. Kierkegaard betont wohltuend, dass Gott keine Idee ist. Während Hegels spekulativer Idealismus den Eindruck er­weckt, man könne durch bürgerliche Bildung oder logisches Denken fromm werden, besteht Kierkegaard im Einklang mit der biblischen Botschaft auf dem Spannungsverhältnis von weltlicher Bildung und christlichem Glauben. Je »mehr Bildung und Wissen – desto schwieriger« ist es, Christ zu werden. Für den Klugen ist es schwerer zu glauben als für den Einfältigen (vgl. Lk 10,21).

Kierkegaards Würdigung der Andersartigkeit Gottes ist ein notwendendes Korrektiv zur immanenten Geistphilosophie Hegels oder zu einer rationalistischen Theologie. Seine leidenschaftliche Rede von der Aneignung des Glaubens klingt wie ein prophetischer Bußruf. Allerdings hat Kierkegaard die Verborgenheit Gottes und die Antithese von Glaube und Vernunft so überzogen, dass über Inhalte des Glaubens kaum mehr gesprochen werden kann.

Kierkegaards Sprung (Teil 2)

Der Sprung als leidenschaftliche Entscheidung

Schon früh lässt sich im Werk Kierkegaards das alles durchdringende Leitmotiv seines Lebens erkennen. Nicht »Theorie und bloßes Wissen, sondern Tun und Leben, nicht teilnahmslose, neutrale Objektivität, sondern Einsatz und Entscheidung«, sind seine Themen. Kierkegaard vertritt einen strengen Fideismus und hat damit die Bahnen für den europäischen Existentialismus vorgezeichnet. Der in Bonn lehrende Theologe Hans Emil Weber (1882–1950) beschrieb 1917 den dänischen Philosophen euphorisch als einen Irrationalisten:

Kein Ausdruck scheint Kierkegaard zu stark zu sein für die Irrationa lität des Glaubens. Hier gibt es kein »Wissen«, kein »Beweisen«; der Glaube ist keine »Erkenntnis«. Die Gründe, mit denen man das Christ liche beweisen wollte, haben gerade den Zweifel aus sich erzeugt. Man »beweist Gottes Dasein durch Anbetung«, und »in der absoluten Anbetung der Unwissenheit« »stürzt« der Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen »zusammen«. Wir hören scharfe Worte reden wider die »Anmaßung« der »Erweckten«, die sich »des Schauens« oder eines »höheren Verstandes« rühmen. Der Gegenstand des Glau­bens ist ein Geheimnis, ja mehr, die »Unwahrscheinlichkeit«, das (absolute) »Paradox«, Kreuzigung des Verstandes, »das Absurde«.

Nach Kierkegaard haben sich Vernunft und Glaube gegenseitig nichts zu sagen. Religiöser Glaube kann weder bewiesen noch widerlegt werden, er ist vernunftblindes Vertrauen. Kierkegaard schreibt:

Wäre es nicht doch am besten, beim Glauben stehenzubleiben, und ist es nicht empörend, dass ein jeder weitergehen will? … Wäre es nicht besser, dass man beim Glauben stehen bliebe und dass der, der dort steht, zusähe, dass er nicht falle; denn die Bewegung des Glaubens muss ständig kraft des Absurden gemacht werden.

Christentum ist das Absurde, das den Einzelnen auffordert, »darin zu existieren und seine Zeit nicht mit einem spekulativen Verstehenwollen zu vergeuden«. Kierkegaard strapaziert seinen Fideismus bis auf das Äußerste. Wir werden ihm am ehesten gerecht, wenn wir uns den Raum des Wissens und den Raum des Glaubens als zwei Kreise vorstellen, die nebeneinander liegen und sich dabei nicht berühren. Es fehlt jede Kontinuität zwischen Glaube und Verstehen. Da ist weder Übergang noch Vermittlung, da das »Christwerden im Gegenteil der qualitative Sprung ist«

Sprung

Abbildung 1: Der Sprung des Glaubens bei Kierkegaard.

Aber was meint Kierkegaard, wenn er den Sprung fordert? Der Sprung ist bei Kierkegaard leidenschaftliche Entscheidung, der Augenblick, der über Nicht-Sein und Da-Sein entscheidet. Der Sprung ist Wiedergeburt, das Christwerden. Kierkegaard hat den Begriff von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) übernommen. Lessing behauptete, »daß zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis von ewigen Vernunftwahrheiten werden können«. Der Übergang von einer historischen Nachricht zu einer ewigen Seligkeit könne nur durch einen Sprung gelingen. Kierkegaard sagt dazu:

So verstanden ist der Übergang, durch den etwas Geschichtliches und das Verhältnis zu diesem für eine ewige Seligkeit entscheidend wird, eine metabasiß ei\ß a\llo genoß [Lessing sagt sogar: wenn dies nicht eine solche ist, dann weiß ich nicht, was Aristoteles darunter verstanden hat], ein Sprung, sowohl für den Zeitgenossen als auch für den Späteren. Es ist ein Sprung, und gerade dieses Wort hat Lessing innerhalb der zufälligen Einschränkung gebraucht, die durch einen illusorischen Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit und Nichtgleichzeitigkeit bezeichnet wird. Die Worte lauten so: Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.

Ein objektiver Glaubensinhalt steht dem Glaubensvollzug im Weg. Je weniger Evidenz für die objektive Wahrheit, desto besser für die leidenschaftliche Innerlich keit, den Glauben. Denn: Für den Glaubenden »bedeuten drei Gründe nicht mehr als drei Flaschen oder drei Hirsche«.

Da Kierkegaard den Glauben für ein Ärgernis oder für »absurd« erklärt, folgt, dass sich theoretisches Denken und Glaube notwendig ausschliessen. Apologetik ist für ihn ein Judasdienst an Christus, denn Welt und Glauben sind Paradox und nur im Wagnis des Sprungs zugänglich.

Darum ist es gewiss und wahr, dass derjenige, der zuerst erfand, in der Christenheit das Christentum zu verteidigen, de facto ein Judas Nummer zwei ist; auch er verrät mit einem Kuß, nur daß sein Verrat aus Dummheit geschieht.

Nicht nur die vernünftige Glaubensverteidigung, auch die Beantwortung der Frage, ob es diesen Gott, der uns nach dem Sprung auffängt, überhaupt gibt, tritt bei ihm weit zurück. Die leidenschaftliche In­nerlichkeit ist Wahrheitskriterium der Gottesfrage.

Wenn einer, der mitten im Christentum lebt, zu Gottes Haus hinauf steigt, zu des wahren Gottes Haus, mit der wahren Vorstellung von Gott im Wissen, und dann betet, aber in Unwahrheit betet; und wenn einer in einem heidnischen Lande lebt, aber mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit betet, obgleich sein Auge auf einem Götzenbild ruht: wo ist dann am meisten Wahrheit? Der eine betet in Wahrheit zu Gott, obgleich er einen Götzen anbetet; der andere betet in Unwahrheit zu dem wahren Gott, und betet daher in Wahrheit einen Götzen an.

Diese Betonung der subjektiven Wahrheit, die eine Klärung der objektiven Wahrheitsfrage verdrängt und verdeckt, qualifiziert den Dänen als Vordenker des Existentialismus. Kierkegaard inspirierte Denker wie Martin Heidegger, Albert Camus, Emil Brunner, Karl Barth oder Reinhold Niebuhr. Er galt ihnen als jemand, der nicht die Wahrheit an sich, sondern sich selbst in der Wahrheit seiner Existenz zu verstehen sucht. Wahrheit in diesem Sinne kann nur im Augenblick tiefer persönlicher Betroffenheit und Entscheidung offenbar werden. Denn: »die objektive Ungewißheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit, ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt«.

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