Kierkegaards Sprung (Teil 2)

Der Sprung als leidenschaftliche Entscheidung

Schon früh lässt sich im Werk Kierkegaards das alles durchdringende Leitmotiv seines Lebens erkennen. Nicht »Theorie und bloßes Wissen, sondern Tun und Leben, nicht teilnahmslose, neutrale Objektivität, sondern Einsatz und Entscheidung«, sind seine Themen. Kierkegaard vertritt einen strengen Fideismus und hat damit die Bahnen für den europäischen Existentialismus vorgezeichnet. Der in Bonn lehrende Theologe Hans Emil Weber (1882–1950) beschrieb 1917 den dänischen Philosophen euphorisch als einen Irrationalisten:

Kein Ausdruck scheint Kierkegaard zu stark zu sein für die Irrationa lität des Glaubens. Hier gibt es kein »Wissen«, kein »Beweisen«; der Glaube ist keine »Erkenntnis«. Die Gründe, mit denen man das Christ liche beweisen wollte, haben gerade den Zweifel aus sich erzeugt. Man »beweist Gottes Dasein durch Anbetung«, und »in der absoluten Anbetung der Unwissenheit« »stürzt« der Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen »zusammen«. Wir hören scharfe Worte reden wider die »Anmaßung« der »Erweckten«, die sich »des Schauens« oder eines »höheren Verstandes« rühmen. Der Gegenstand des Glau­bens ist ein Geheimnis, ja mehr, die »Unwahrscheinlichkeit«, das (absolute) »Paradox«, Kreuzigung des Verstandes, »das Absurde«.

Nach Kierkegaard haben sich Vernunft und Glaube gegenseitig nichts zu sagen. Religiöser Glaube kann weder bewiesen noch widerlegt werden, er ist vernunftblindes Vertrauen. Kierkegaard schreibt:

Wäre es nicht doch am besten, beim Glauben stehenzubleiben, und ist es nicht empörend, dass ein jeder weitergehen will? … Wäre es nicht besser, dass man beim Glauben stehen bliebe und dass der, der dort steht, zusähe, dass er nicht falle; denn die Bewegung des Glaubens muss ständig kraft des Absurden gemacht werden.

Christentum ist das Absurde, das den Einzelnen auffordert, »darin zu existieren und seine Zeit nicht mit einem spekulativen Verstehenwollen zu vergeuden«. Kierkegaard strapaziert seinen Fideismus bis auf das Äußerste. Wir werden ihm am ehesten gerecht, wenn wir uns den Raum des Wissens und den Raum des Glaubens als zwei Kreise vorstellen, die nebeneinander liegen und sich dabei nicht berühren. Es fehlt jede Kontinuität zwischen Glaube und Verstehen. Da ist weder Übergang noch Vermittlung, da das »Christwerden im Gegenteil der qualitative Sprung ist«

Sprung

Abbildung 1: Der Sprung des Glaubens bei Kierkegaard.

Aber was meint Kierkegaard, wenn er den Sprung fordert? Der Sprung ist bei Kierkegaard leidenschaftliche Entscheidung, der Augenblick, der über Nicht-Sein und Da-Sein entscheidet. Der Sprung ist Wiedergeburt, das Christwerden. Kierkegaard hat den Begriff von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) übernommen. Lessing behauptete, »daß zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis von ewigen Vernunftwahrheiten werden können«. Der Übergang von einer historischen Nachricht zu einer ewigen Seligkeit könne nur durch einen Sprung gelingen. Kierkegaard sagt dazu:

So verstanden ist der Übergang, durch den etwas Geschichtliches und das Verhältnis zu diesem für eine ewige Seligkeit entscheidend wird, eine metabasiß ei\ß a\llo genoß [Lessing sagt sogar: wenn dies nicht eine solche ist, dann weiß ich nicht, was Aristoteles darunter verstanden hat], ein Sprung, sowohl für den Zeitgenossen als auch für den Späteren. Es ist ein Sprung, und gerade dieses Wort hat Lessing innerhalb der zufälligen Einschränkung gebraucht, die durch einen illusorischen Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit und Nichtgleichzeitigkeit bezeichnet wird. Die Worte lauten so: Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.

Ein objektiver Glaubensinhalt steht dem Glaubensvollzug im Weg. Je weniger Evidenz für die objektive Wahrheit, desto besser für die leidenschaftliche Innerlich keit, den Glauben. Denn: Für den Glaubenden »bedeuten drei Gründe nicht mehr als drei Flaschen oder drei Hirsche«.

Da Kierkegaard den Glauben für ein Ärgernis oder für »absurd« erklärt, folgt, dass sich theoretisches Denken und Glaube notwendig ausschliessen. Apologetik ist für ihn ein Judasdienst an Christus, denn Welt und Glauben sind Paradox und nur im Wagnis des Sprungs zugänglich.

Darum ist es gewiss und wahr, dass derjenige, der zuerst erfand, in der Christenheit das Christentum zu verteidigen, de facto ein Judas Nummer zwei ist; auch er verrät mit einem Kuß, nur daß sein Verrat aus Dummheit geschieht.

Nicht nur die vernünftige Glaubensverteidigung, auch die Beantwortung der Frage, ob es diesen Gott, der uns nach dem Sprung auffängt, überhaupt gibt, tritt bei ihm weit zurück. Die leidenschaftliche In­nerlichkeit ist Wahrheitskriterium der Gottesfrage.

Wenn einer, der mitten im Christentum lebt, zu Gottes Haus hinauf steigt, zu des wahren Gottes Haus, mit der wahren Vorstellung von Gott im Wissen, und dann betet, aber in Unwahrheit betet; und wenn einer in einem heidnischen Lande lebt, aber mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit betet, obgleich sein Auge auf einem Götzenbild ruht: wo ist dann am meisten Wahrheit? Der eine betet in Wahrheit zu Gott, obgleich er einen Götzen anbetet; der andere betet in Unwahrheit zu dem wahren Gott, und betet daher in Wahrheit einen Götzen an.

Diese Betonung der subjektiven Wahrheit, die eine Klärung der objektiven Wahrheitsfrage verdrängt und verdeckt, qualifiziert den Dänen als Vordenker des Existentialismus. Kierkegaard inspirierte Denker wie Martin Heidegger, Albert Camus, Emil Brunner, Karl Barth oder Reinhold Niebuhr. Er galt ihnen als jemand, der nicht die Wahrheit an sich, sondern sich selbst in der Wahrheit seiner Existenz zu verstehen sucht. Wahrheit in diesem Sinne kann nur im Augenblick tiefer persönlicher Betroffenheit und Entscheidung offenbar werden. Denn: »die objektive Ungewißheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit, ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt«.

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14 Jahre zuvor

„Kierkegaard [dänischer Theologe, 1813-1855] verschaffte der Bibelkritik einen breiten Eingang in die Theologie, indem er sie total verharmloste: einem Glauben, der echt ist, könne sie keinen Schaden tun. Das wirkte sich gerade deshalb verheerend aus, weil Kierkegaard persönlich zweifellos ein frommer Mann gewesen ist, dessen Mund manches rechte Wort hervorbrachte.

Es sind aber gerade die Frommen unter den Bibelkritikern, die am Ende selbst jene für die Bibelkritik einnehmen, die ihr zunächst – aus gutem biblischem Grund – widerstehen.“

(Prof. Dr. theol. Eta Linnemann, 1998, Theologin, Bibelkritik auf dem Prüfstand: wie wissenschaftlich ist die wissenschaftliche Theologie?)

14 Jahre zuvor

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