Stellvertretendes Sühneopfer

J.G. Machen: Lehre vom Kreuz wird lächerlich gemacht

J. Gresham Machen schreibt über die verdeckte Kritik an der Sühnetheologie (Christentum und Lieberalismus, Waldems: 3L, 2013, S. 142): 

Moderne Liberale werden niemals müde, ihrem Hass und ihrer Verachtung gegenüber der christlichen Lehre vom Kreuz freien Lauf zu lassen. Und doch führt selbst an diesen Punkt die Hoffnung auf Konfliktvermeidung gelegentlich zu Verschleierungen. Worte wie „stellvertretender Sühnetod“ – inhaltlich natürlich mit einer Bedeutung belegt, die von der christlichen vollkommen abweicht – werden immer noch von Zeit zu Zeit gebraucht. Trotz der Verwendung solcher traditioneller Begrifflichkeiten machen es liberale Prediger ganz deutlich, was sie eigentlich denken. Mit Abscheu sprechen sie von denen, die glauben, dass „das Blut unseres Herrn, vergossen in einem stellvertretenden Tod, dazu dient, einen entfremdeten Gott versöhnlich zu stimmen, und es möglich macht, dass er den zurückkehrenden Sünder willkommenheißt“. Jede verfügbare Waffe, Karikatur wie Verunglimpfung, wird gegen die Lehre vom Kreuz in Stellung gebracht. Und damit schütten sie ihren Zorn und ihre Verachtung auf etwas aus, das so heilig und wertvoll ist, dass sich in seiner Gegenwart die Herzen von Christen in einer Dankbarkeit auflösen, für die es keine Worte gibt. Es scheint modernen Liberalen nie bewusst zu werden, dass sie auf Menschenherzen herumtrampeln, wenn sie die christliche Lehre vom Kreuz verspotten. 

Craig: Sühne und der Tod Christi

Craig AntonementDonald Macleod hat William Lane Craigs Buch Atonement and the Death of Christ: An Exegetical, Historical, and Philosophical Exploration gelesen. Er schreibt:

Zudem betont Craig die Tatsache, dass es innerhalb der göttlichen Regierung keine solche Gewaltenteilung gibt, wie wir sie in modernen westlichen Demokratien kennen. Gott übt selbst die drei Funktionen des Gesetzgebers, des Richters und der Exekutive aus. Daher besitzt er das Vorrecht, zu verkündigen, was Gesetz ist, über Verstöße gegen das Gesetz zu richten und Gesetzesbrecher zu bestrafen. An keiner Stelle haben wir das Recht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Und am allerwenigsten haben wir ein Recht, von ihm zu fordern, er müsse Sünde einfach so vergeben. Worauf Craig hier nicht eingeht: Letzteres würde auf einen Schlag jedes menschliche Rechtssystem zunichtemachen und zu dem absurden Schluss führen, dass zwar Gott kein Recht hätte, ein Geschöpf zu bestrafen, während ein Geschöpf aber durchaus berechtigt wäre, ein anderes zu bestrafen.

Menschlich gesprochen stand Gott vor einem Dilemma: Sünde straflos durchgehen zu lassen würde bedeuten, das Universum an das uneingeschränkte Böse auszuliefern. Dem Gesetz strikt zu folgen würde bedeuten, die gesamte Menschheit zum ewigen Tod zu verurteilen. Die einzige Möglichkeit, um diesem Dilemma zu entkommen, bestand darin, eine Lockerung des Gesetzes zuzulassen. Im Rahmen der christlichen Versöhnungslehre bedeutet Lockerung, dass Gott dem Einen (Christus) erlaubt, den Platz der Vielen einzunehmen. Mit anderen Worten: die Strafe stellvertretend auf sich zu nehmen, stellvertretende Sühne zu leisten.

Mehr: www.evangelium21.net.

Anselm Grün: Gott braucht keine Sühne

Manche Leute meinen, Pater Dr. Anselm Grün würde das christliche Evangelium sanft umdeuten. Wer den Vortrag „Tod und Auferstehung Jesu als Bild christlicher Hoffnung“ gehört hat, sollte verstehen können, dass er das Evangelium nicht sanft, sondern wesentlich umdeutet. Verlorengehen heißt für ihn, sich selbst verlieren, Tod und Auferstehung ist das Geheimnis unseres Lebens, Golgatha befreit mich von den Erwartungen anderer, erlaubt, dass ich „Ich“ sein kann.  Ostern heißt, dass wir aufstehen aus dem Grab unserer Angst und Zuschauerrolle. Und so weiter. Nach Anselm Grün ist der Tod am Kreuz keine stellvertretende Sühne, sondern Veranschaulichung und Vollendung der Liebe Gottes. Leider muss man es so sagen: Was Grün verkündigt, ist ein Pseudoevangelium.

Musste Jesus sterben, um uns Rettung zu bringen? Die Schrift sieht das anders als Pater Grün.

Während wir daran gewöhnt sind, davon zu sprechen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (vgl. Apg 4,10; 5,30), macht es uns gewisse Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass die Kreuzigung ebenso Gottes Bestimmung war. Dabei spricht die Bibel durchaus davon, dass in der Kreuzigung Gott seinen Sohn in den Tod gegeben hat und er sterben musste. Während wir auf der einen Seite daran festhalten, dass die Menschen durch ihre Sünde den unschuldigen Sohn ans Kreuz gebracht haben, halten wir Golgatha zugleich auch für ein Heilstat Gottes.

Einige Beispieltexte. Ein sehr starker Text ist Röm 8,32:

Er [Gott, vgl. V. 31], der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Apg 2,23 spricht davon, dass Jesus von Nazareth gemäß Gottes „unumstößlichem Ratschluss“ (griech. ὡρισμένῃ βουλῇ, ōrysmenē boulē) getötet werden musste. Jesus starb folglich, weil Gott es so geplant hat. In Apg 2,22–24 lesen wir:

Israeliten, hört diese Worte: Jesus von Nazaret, einen Mann, der sich vor euch als Gesandter Gottes ausgewiesen hat durch machtvolle Taten und Wunder und Zeichen, die Gott – wie ihr selbst wisst – mitten unter euch durch ihn getan hat, ihn, der nach Gottes unumstößlichem Ratschluss und nach seiner Voraussicht preisgegeben werden sollte, habt ihr durch die Hand gesetzloser Menschen ans Kreuz geschlagen und getötet. Ihn hat Gott auferweckt und aus den Wehen des Todes befreit, denn dass er in dessen Gewalt bleiben könnte, war ja unmöglich.

In Apg 4,28 erklärt gemäß dem lukanischen Bericht die Gemeinde in einem gemeinsamen Gebet, dass Herodes und Pontius Pilatus zusammen mit den Heiden und dem Volk Israel getan haben, was Gottes Hand und „Ratschluss zuvor bestimmt hatte, damit es geschehen sollte“.

Auch die Leidensankündigungen in den Evangelien sprechen davon, dass Jesus leiden musste. In Mk 8,31 schreibt der Evangelist über Jesus:

Und er begann sie zu lehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten und den Hohen Priestern und den Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

Markus gebraucht für das „Muss“ seines Totes das griechische δεῖ (dei), welches eine Notwendigkeit bezeichnet. Das Verbum steht für eine göttliche, unabwendbare Bestimmung (vgl. Bauer, WB6, Sp. 343 u. EWNT, Bd. 1, Sp. 668–671. Siehe auch die Untersuchung: W. J. Bennett, „The son of man must …“, in: Novum Testamentum 17 (1975), Nr. 2, S. 113–129). In den dann folgenden Leidensankündigungen gebraucht Markus das passivum divinum und drückt damit aus, dass Jesus von Gott dahingeben wurde (vgl. Mk 9,31; 10,33).

Bei Lukas ist die Rede von der Notwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesus ebenfalls zu finden. Bevor der Menschensohn wiederkommt, „muss [griech. δεῖ, dei] er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht“ (Lk 17,25). „Der Menschensohn muss [griech. δεῖ, dei]“ – lesen wir in Lk 24,7 – „in die Hände von sündigen Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen.“

Im Johannesevangelium ist ähnlich von einem „Muss“ des Erhöhtwerdens des Menschensohnes die Rede. Joh 3,13–15 sagt beispielsweise:

Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss [griech. δεῖ, dei] der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat.

Dass die Erhöhung die Kreuzigung einschließt, wird anhand von Joh 12,32–33 offensichtlich. Der Evangelist zitiert und kommentiert dort eine Rede Jesu:

Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt, jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich von der Erde weggenommen und erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. Das aber sagte er, um anzudeuten, welchen Tod er sterben sollte.

Dieses „Muss“ des Sterbens erschließt sich uns noch tiefer, wenn wir erkennen, dass hier an die alttestamentliche Leidensapokalyptik angeknüpft wird. Jesu Tod ist schriftgemäß, da er schon im Alten Testament ankündigt ist. So spricht Mt 26,24 davon, dass der Sohn des Menschen dahingeht, „wie von ihm geschrieben wird“. Bei seiner Verhaftung begründet Jesus gegenüber den Jüngern die Gewaltlosigkeit mit der Aussage: „Doch wie würden dann die Schriften in Erfüllung gehen, nach denen es so geschehen muss?“ (Mt 26,54).

Lukas berichtet in seinem Evangelium, das schon im Gesetz, bei den Propheten und in den Psalmen darüber geschrieben ist, dass der Menschensohn sterben muss. In Lk 24,44–48 ist zu lesen (vgl. 9,22–23):

Dann sagte er zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch mit euch zusammen war: Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. Dann öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften und sagte zu ihnen: So steht es geschrieben: Der Gesalbte wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen, und in seinem Namen wird allen Völkern Umkehr verkündigt werden zur Vergebung der Sünden – in Jerusalem fängt es an –, und ihr seid Zeugen dafür.

Den Jüngern von Emmaus erklärte der auferstandene Christus (Lk 24,25–27):

Da sagte er zu ihnen: Wie unverständig seid ihr doch und trägen Herzens! Dass ihr nicht glaubt nach allem, was die Propheten gesagt haben! Musste der Gesalbte nicht solches erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht.

Als Paulus und Silas auf der zweiten Missionsreise in Thessalonich ankamen, predigte der Apostel auf der Grundlage alttestamentlicher Schriften und sagte (Apg 17,2–3):

Er öffnete ihnen die Augen und legte ihnen dar, dass der Gesalbte leiden und von den Toten auferstehen musste, und er sagte: Dieser Jesus, den ich euch verkündige, ist der Gesalbte!

Auf welche alttestamentlichen Ankündigungen beruft sich Jesus hier? Der Befund ist so umfangreich, dass ich nur einige wenige Stellen nennen kann. Im Blick auf das Leiden es Menschensohnes am Kreuz ist Ps 22 sehr bedeutsam. In Psalm 22,2–3 lesen wir als Ankündigung der Gottesferne bei der Kreuzigung (vgl. Mt 27,46; Mk 15,34):

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meiner Rettung, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht, bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“

Schon im Gesetz, also bei Mose, sind Hinweise auf den Tod des unschuldigen Menschensohnes zu finden. In Gal 3,13 teilt Paulus uns mit, dass Christus, obwohl unschuldig, den Tod eines Verbrechers am Holz starb. Hier erfüllt sich, was wir schon in 5Mose 21,22–23 vernehmen:

„Und wenn jemand ein todeswürdiges Verbrechen begeht und er getötet wird und du ihn an einen Pfahl hängst, darf sein Leichnam nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du musst ihn noch am selben Tag begraben. Denn ein Gehängter ist von Gott verflucht, …“

Jesu Tod ist also kein „Zufall, Missgeschick oder Betriebsunfall“, sondern in den Schriften angekündigte Tat Gottes. Deshalb schreibt Paulus den Korinthern in 1Kor 15,3:

Denn ich habe euch vor allen Dingen weitergegeben, was auch ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäß den Schriften, …

Martyn Lloyd-Jones: Wie kann Gott Gottlose rechtfertigen?

Martyn Lloyd-Jones predigte in seiner Reihe zum Römerbrief über das Kreuz (Romans 3:20-4:25, 1970):

Das Kreuz zeigt nicht nur die Liebe Gottes herrlicher als alles andere, es zeigt seine Rechtschaffenheit, seine Gerechtigkeit, seine Heiligkeit und die ganze Herrlichkeit seiner ewigen Eigenschaften. Sie alle sind dort zusammen hell leuchtend zu sehen. Wenn man sie nicht alle sieht, hat man das Kreuz nicht gesehen. Deshalb müssen wir die so genannte „Moralisches Beispiel“-Theorie des Sühneopfers, die besagt, dass alles, was das Kreuz tun muss, ist, unsere Herzen zu zerreißen und uns dazu zu bringen, die Liebe Gottes zu sehen, strikt ablehnen.

Paulus geht darüber hinaus, indem er sagt: „Er verkündigt seine Gerechtigkeit zur Vergebung der vergangenen Sünden“. Warum das, wenn es nur eine Erklärung seiner Liebe ist? Nein, sagt Paulus, es ist mehr als das. Wenn es nur seine Vergebung verkünden würde, hätten wir das Recht zu fragen, ob wir uns auf Gottes Wort verlassen können, und ob er gerecht und fair ist. Es wäre eine berechtigte Frage, denn Gott hat im Alten Testament wiederholt erklärt, dass er die Sünde hasst und dass er die Sünde bestrafen wird, und dass der Lohn der Sünde der Tod ist.

Es geht um den Charakter Gottes. Gott ist nicht wie wir Menschen. Wir denken manchmal, dass es wunderbar ist, wenn Menschen eine Sache sagen und dann etwas anderes tun. Die Eltern sagen zu ihrem Kind: „Wenn du das tust, bekommst du den Euro nicht, um deine Süßigkeiten zu kaufen. Dann tut der Junge diese Sache, aber der Vater sagt: „Nun, es ist in Ordnung“, und gibt ihm den Euro. Das, so denken wir, ist Liebe und wahre Vergebung. Aber Gott verhält sich nicht auf diese Weise. Gott, wenn ich es so ausdrücken darf, ist ewig mit sich selbst im Einklang. Es gibt niemals einen Widerspruch in ihm. Er ist „der Vater der Lichter, bei dem keine Veränderung ist und kein Schatten der Veränderung“. All diese herrlichen Attribute sind in seinem ewigen Charakter wie Diamanten, die leuchten, zu sehen. Und sie müssen alle offenbart werden. Im Kreuz sind sie alle manifestiert.

Wie kann Gott gerecht sein und zugleich die Gottlosen rechtfertigen? Die Antwort ist, dass er es kann, weil er die Sünden der gottlosen Sünder in seinem eigenen Sohn bestraft hat. Er hat seinen Zorn über ihn ausgegossen. „Er trug unsere Strafe. Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Gott hat getan, was er angekündigt hat: Er hat die Sünde bestraft. Er hat dies durch das Alte Testament überall verkündet; und er hat getan, was er sagte, dass er es tun würde. Er hat gezeigt, dass er rechtschaffen ist. Er hat eine öffentliche Erklärung darüber abgelegt. Er ist gerecht und kann rechtfertigen, denn nachdem er einen anderen an unserer Stelle bestraft hat, kann er uns frei vergeben. Und das tut er auch. Das ist die Botschaft von Vers 24: „Und werden ohne Verdienst gerechtfertigt (als gerecht angesehen, erklärt, für gerecht erklärt) aus seiner Gnade durch die Erlösung (das Lösegeld), die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut.“

Die Sühnewirkung des Todes Jesu

In der Paulusforschung herrscht seit längerem die Annahme vor, dass der Apostel Paulus keine in sich konsistente Lehre vom Endgericht vertrete, sondern je nach Kontext auf unterschiedliche, einander teilweise widersprechende Motive zurückgegriffen habe. Christian Stettler zeigt durch die Analyse von allen paulinischen Gerichtstexten mit Hilfe der kognitiven Frame-Semantik, dass Paulus nicht von unterschiedlichen oder gar widersprüchlichen „Gerichtskonzeptionen“, sondern von einer in sich konsistenten Gerichtserwartung ausging. Zudem vertieft der Autor die gewonnenen Erkenntnisse durch weitere exegetische Analysen, welche sich kritisch mit Ergebnissen der konfessionellen Paulusexegese und der Neuen Paulusperspektive auseinandersetzen und zu einer differenzierteren Sicht führen.

In seinem Fazit schreibt der Christian Stettler über das Gericht nach den Werken bei den Christusgläubigen unter anderem:

Paulus hat also die Sühnewirkung des Todes Jesu offensichtlich nicht nur auf Sünden vor der Taufe, sondern auch auf die Sünden von Christen bezogen. Wo Sünde nach der Bekehrung vorkommt, kann ein Christ nicht aufgrund seines noch so weitgehenden Liebeswerkes gerechtfertigt werden, sondern ist weiterhin auf die Vergebung Christi angewiesen. Im Blick auf die Rechtfertigung gilt ohnehin das ganze Leben einer Person als Einheit und wird nicht in die Zeit vor und die Zeit nach der Bekehrung aufgeteilt. Abgesehen von Jesus (2Kor 5,21) gibt es niemand, der sein ganzes Leben über ohne Sünde geblieben ist (vgl. Röm 3,9-20). Rechtfertigung selbst durch einen vollkommenen Gehorsam nach der Bekehrung ist dadurch ohnehin ausgeschlossen.

Nach Paulus sind die Glaubenden dem Gericht nach den Werken nicht enthoben, vielmehr sind sie denselben Maßstäben unterworfen wie die übrige Menschheit. Was sie jedoch von nicht an Jesus glaubenden Menschen unterscheidet, ist zweierlei: erstens, dass ihre Sünden vergeben sind, auch die, die nach ihrer Taufe geschahen, sofern sie nicht im sündigen Verhalten verharrt, sondern darüber Buße getan haben, und zweitens, dass sie mit dem Heiligen Geist, der Kraft der neuen Schöpfung, begabt sind, durch den sie ein Gott wohlgefälliges Leben führen können. Beides, Vergebung und Geist, haben sie aus Gottes Gnade empfangen, aufgrund ihres Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn. Also ist auch das neue Handeln aus dem Geist eine Wirkung des Auferstandenen, eine Wirkung der Gnade. Das neue Handeln ist ganz die Verantwortung des Menschen und zugleich ganz die Wirkung Gottes (vgl. Phil 2,12f.).

Es ist deshalb kein Widerspruch, sondern Ausdruck des typisch frühjüdischen aspekthaften Denkens des Paulus, dass nach Paulus die Rettung und Rechtfertigung im Endgericht einerseits ganz Geschenk, ganz „Gnade“ ist und denen gilt, die glauben, und andererseits Paulus dennoch die Gabe des ewigen Lebens im Endgericht auch als eine Antwort auf das Werk der Christen, auf ihren Glaubensgehorsam, ja als „Lohn“ bezeichnen kann.

Für die Untersuchung:

  • Stettler, Christian, Das Endgericht bei Paulus: Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soterologie, WUNT, Band 371, Mohr Siebeck, 2017, 415 S.

wurde dem Autor der Johann-Tobias-Beck-Preis 2018 verliehen.

Das Kreuz falsch verstehen

Ich bin dankbar, dass Stephen J. Wellum ein bei evangelikalen sehr beliebtes Buch zur Sühnetheologie gründlich gelesen hat. Seine Rezension zu The Crucifixion: Understanding the Death of Jesus Christ von Fleming Rutledge ist fair, bringt aber eklatante Schwächen zur Sprache. So deutet sie beispielsweise mit Hermann Cremer und Ernst Käsemann die Gerechtigkeit als überwiegend horizontalen Begriff und die Gerechtigkeit Gottes als Bundestreue.

In chapter 3, Rutledge rightly argues that God’s justice/righteousness is central to a correct view of the cross. Yet she does not think of divine justice first as an essential attribute of God so that in relation to sin, God, as the moral standard of the universe and the offended party, stands against sin in holy wrath that must be satisfied. She does not think that for sin to be forgiven, God must first satisfy his own righteous demand against sin. Instead, Rutledge views divine justice more “horizontally,” namely, as “rectification” or God making things right (133-134). God is truly outraged against sin (129-130) but more in terms of the effects of sin. Rutledge rejects any view of God as a “remote judge” who hands down pronouncements “according to some legal norm” (136).

Instead, God declares his “enmity against everything that resists his redemptive purposes” (136) so that his justice “is not retributive but restorative” (136). Similar to the New Perspective on Paul, Rutledge argues that divine justice “is not so much that God isrighteous but that he does righteousness” (137)—a display of “covenant faithfulness” (137). God’s wrath or outrage is really a display of his mercy because in the cross, God has taken injustice into himself and begun to make all things right in Christ’s resurrection. In fact, God has so rectified injustices in the cross that seemingly all wrongs are righted so that either “unrepentant monsters of history… will be either utterly transfigured or annihilated altogether, for no one is beyond the reach of God’s power” (603). In Christ, then, God rectifies all wrongs, obliterates any memory of injustices, and annihilates any unrepentant people (who seemingly are few) (610-12). Christ, as the “representative of all humanity” (including the elect and the reprobate [607]), suffers “condemnation in place of all humanity” and destroys the Power of Sin and Death and inaugurates a new creation (610-11).

Mehr: credomag.com.

Musste Jesus sterben?

Am kommenden Wochenende werde ich am ITG-Studienzentrum in Innsbruck über das christliche Sühneverständnis sprechen. Das Thema wird heute kontrovers diskutiert. Besonders der Gedanke eines stellvertretenden Sühneopfers wird häufig bestritten. Schon 1986 schrieb John Stott in seinem wahrscheinlich wichtigsten Buch Das Kreuz: „Keine Begriffe des theologischen Wortschatzes rund um das Kreuz haben mehr Kritik hervorgerufen, als ‚Genugtuung‘ und ‚Stellvertretung‘.“

Während wir daran gewöhnt sind, davon zu sprechen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (vgl. Apg 4,10; 5,30), macht es uns gewisse Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass die Kreuzigung ebenso Gottes Bestimmung war. Dabei spricht die Bibel durchaus davon, dass in der Kreuzigung Gott seinen Sohn in den Tod gegeben hat und er sterben musste. Während wir auf der einen Seite daran festhalten, dass die Menschen durch ihre Sünde den unschuldigen Sohn ans Kreuz gebracht haben und Jesus sich freiwillig hingab, halten wir Golgatha zugleich für eine Heilstat Gottes.

Einige Beispieltexte:

Ein sehr starker Text ist Röm 8,32:

„Er [Gott, vgl. V. 31], der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“

Apg 2,23 spricht davon, dass Jesus von Nazaret gemäß Gottes „unumstößlichem Ratschluss“ (griech. ὡρισμένῃ βουλῇ, ōrysmenē boulē) getötet werden musste. Jesus starb folglich, weil Gott es so geplant hat. In Apg 2,22–24 lesen wir:

„Israeliten, hört diese Worte: Jesus von Nazareth, einen Mann, der sich vor euch als Gesandter Gottes ausgewiesen hat durch machtvolle Taten und Wunder und Zeichen, die Gott – wie ihr selbst wisst – mitten unter euch durch ihn getan hat, ihn, der nach Gottes unumstößlichem Ratschluss und nach seiner Voraussicht preisgegeben werden sollte, habt ihr durch die Hand gesetzloser Menschen ans Kreuz geschlagen und getötet. Ihn hat Gott auferweckt und aus den Wehen des Todes befreit, denn dass er in dessen Gewalt bleiben könnte, war ja unmöglich.“

In Apg 4,28 erklärt gemäß dem lukanischen Bericht die Gemeinde in einem gemeinsamen Gebet, dass Herodes und Pontius Pilatus zusammen mit den Heiden und dem Volk Israel getan haben, was Gottes Hand und „Ratschluss zuvor bestimmt hatte, damit es geschehen sollte“. Auch die Leidensankündigungen in den Evangelien sprechen davon, dass Jesus leiden musste. In Mk 8,31 schreibt der Evangelist über Jesus:

„Und er begann sie zu lehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten und den Hohen Priestern und den Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“

Markus gebraucht für das „Muss“ seines Totes das griechische δεῖ (dei), welches eine Notwendigkeit bezeichnet. Das Verbum steht für eine göttliche, unabwendbare Bestimmung (vgl. Bauer, WB6, Sp. 343 u. EWNT, Bd. 1, Sp. 668–671; siehe auch die Untersuchung: W. J. Bennett, „The son of man must …“, in: Novum Testamentum 17 (1975), Nr. 2, S. 113–129). In den dann folgenden Leidensankündigungen gebraucht Markus das passivum divinum und drückt damit aus, dass Jesus von Gott dahingeben wurde (vgl. Mk 9,31; 10,33).

Bei Lukas ist die Rede von der Notwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesus ebenfalls zu finden. Bevor der Menschensohn wiederkommt, „muss [griech. δεῖ, dei] er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht“ (Lk 17,25). „Der Menschensohn muss [griech. δεῖ, dei]“ – lesen wir in Lk 24,7 – „in die Hände von sündigen Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen.“

Im Johannesevangelium ist ähnlich von einem „Muss“ des Erhöhtwerdens des Menschensohnes die Rede. Joh 3,13–15 sagt beispielsweise:

„Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss [griech. δεῖ, dei] der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat.“

N.T. Wright’s: The Day the Revolution Began

Dane Ortlund hat N.T. Wrights The Day the Revolution Began: Reconsidering the Meaning of Jesus’s Crucifixion gelesen und ist deutlich kritischer als Michael Horton.

Throughout the book I kept writing HOW in the margin. Wright tells us (if you’ll forgive a run-on sentence) that ‚the death of Jesus has opened up a whole new world‘ (p. 82) and ‚the death of Jesus launched the revolution‘ (p. 83) and ‚by six o’clock on the Friday evening Jesus died, something had changed, and changed radically‘ (p. 156) and ‚Jesus believed that through his death this royal power would win the decisive victory‘ (p. 183) and that in the crucifixion ‚the covenant was renewed because of the blood that symbolized the utter commitment of God to his people‘ (p. 194) and that the crucifixion is ‚the personal expression of [the love of God] all the way to his death‘ (p. 201) and that ’something has happened to dethrone the satan and to enthrone Jesus in its place‘ (p. 207) and that ‚a new sort of power will be let loose upon the world, and it will be the power of self-giving love‘ (p. 222) and that ‚the cross establishes the kingdom of God through the agency of Jesus‘ (p. 256) and that ‚Jesus in himself, and in his death, is the place where the one God meets with his world, bringing heaven and earth together at last‘ (p. 336) and that ‚when Jesus died, something happened as a result of which the world was a different place‘ (p. 355). We are even told repeatedly that ’sins are forgiven through the Messiah’s death‘ (p. 115).

But Wright doesn’t divulge how this worked. Notice how vague and foggy the above statements are.

Why did Jesus need to die? How did his death begin a revolution?

Then in the course of a few pages in the middle of chapter 11 (on Paul) I began to understand, in part anyhow, why Wright is evasive throughout the book. He writes: „Nowhere here does Paul explain why or how the cross of the Messiah has the power it does, but he seems able to assume that‘ (p. 230). A few pages later he writes of ‚modern Western expectations‘ and the ’supposed central task of explaining how the punishment of our sins was heaped onto the innocent victim‘ (p. 232). Later, speaking of 1-2 Corinthians, ‚At no point does [Paul] offer anything like a complete exposition of either what the cross achieved or why or how it achieved it‘ (p. 246).

Wright is vague on how the crucifixion works because he thinks the New Testament is.

Hier mehr: dogmadoxa.blogspot.de.

Versöhnung durch Sühne

In seiner Vorlesung zur Rechtfertigungslehre (aus: Dogmatik-Vorlesungen 1957–1960,  Münster: Lit Verlag, 2013, S. 150–152) eröffnete Hans Joachim Iwand den Teil zur Versöhnungslehre mit einer religionsgeschichtlichen Darstellung. Deutlich wird dabei, dass er er den alttestamentlichen Kult als Erwartung und Vorbereitung des neutestamentlichen Sühnegeschehens deutete (vgl. Röm 3,24–26).

Wir gehen […] zunächst nicht vom biblischen Verständnis des Wortes [,Versöhnung1] aus, denn jene lexikographische Form, Theologie zu treiben, indem wir ein bestimmtes biblisches Verständnis des Wortes zum Ausgangspunkt nehmen, verliert nur allzu leicht den Sachbezug, in dem das Wort steht. Und die Schrift will ja nicht als eine Sammlung theologischer Worte und Begriffe gelesen sein, sondern als Zeugnis vom Handeln Gottes, wie es sterblichen und sündhaften Menschen widerfahren ist. So begegnet uns denn auch der Begriff ,Versöhnung’ im AT wie im NT im Zusammenhang mit Taten und Handlungen, sei es nun solchen Gottes mit uns oder solchen, die von Menschen her auf Gott hin vollzogen werden. Und wie immer man es auch fassen möge, ,versöhnen’ hat es im AT zunächst einmal mit Sühne zu tun. Es gilt, Gottes Zorn zu versöhnen, und so hat unser Wort seinen ureigensten Bereich in den Opferhandlungen, die sich in einem geregelten Kultus vollziehen. Man weiß eines, und man weiß das unter allen Völkern, dass es besonders bedrängende Lagen gibt, in denen es gilt, den Zorn Gottes zu beschwichtigen. Je kostbarer das Opfer ist, das der Mensch bringt, desto eher hofft er Gott zu besänftigen (placare, reconciliare). Wir werden gut daran tun, über diese in der gesamten Religionsgeschichte der Menschheit verbreitete Handlung des Sühnens ein wenig vorsichtiger zu urteilen, wenn wir erkennen, wie sehr diese Neigung in der menschlichen Natur verwurzelt ist: Man meint – und das eben ist die furchtbare und traurige Verfinsterung und Gottesfeme unseres Lebens -, dass es eine Wiedergutmachung1 Gott gegenüber gäbe, man meint, wir könnten etwas geben, um Gott umzustimmen. Dabei geben wir nun aber gerade , etwas’, also nicht uns selbst: nicht ein Ganzopfer des Menschenherzens, sondern etwas, das nicht wir sind! Und eben dies ist das Bedenkliche und Widergöttliche, daschen Religionen und Kulten vor, weshalb diese ja auch nicht irgendwelchen Phantasien entstammen, vielmehr einen sehr realen und oftmals erschütternden ernsten Akt im Handeln einer leidenden und gequälten Menschheit darstellen, die versucht, sich mit dem Himmel zu versöhnen. Es ist ein Wissen da um Schuld und die Meinung, dass Schuld und Strafe Zusammenhängen: von daher der Versuch der Menschen, der so alt ist wie sie selbst und den keine Aufklärung ihnen je wird ausreden können, die Götter zu versöhnen. Das ist die Wurzel aller Kulte.

In diesem Sinne haben auch der Kult und das Opfer seinen Platz im AT gefunden, und zwar so deutlich und so entschieden, dass hier als beherrschend heraustrat, was bei den Heiden sozusagen mehr an den Rand gedrängt war und nur hin und wieder aufbrach. Gerade jenes leidenschaftliche Bemühen, Gott zu versöhnen, beherrscht das Leben des alttestamentlichen Gottesvolks. Hier weiß man, dass die Sünde, damit dass sie getan ist, nicht hinter uns liegt, sondern dass sie weiterlebt, dass Gottes Arm noch ausgereckt ist, dass solche Menschentat damit, dass sie geschehen ist, eine Wirklichkeit wurde (etwa Kains Bluttat), die als solche nun auch die Wirklichkeit unseres Lebens gestaltet, und dass darum Gottes Grimm und Zorn über eben dieser Wirklichkeit steht. Es ist undenkbar, dass Gott auf die Sünde, die Übertretung seines Willens, nicht reagiert, undenkbar, dass er schwiege, wenn sein Name missbraucht, seine Anrufung unterlassen oder wenn er gar verraten wird, um anderen Göttern zu dienen.Es fallt auf, dass die Bibel unbedenklich vom Zorn Gottes redet, von seinen Gerichten und von seinem Grimm, beispielhaft im 1. Kapitel des Römerbriefs, in dem Paulus geradezu die Quintessenz der Zomesworte Gottes aus dem AT zusammengetragen hat. Dieser Zorn ist aber nichts anderes als das Verhalten Gottes zu der durch die Tat des Ungehorsams bestimmten Wirklichkeit des Menschen und der Welt. Wenn die Welt Gottes Welt ist, kann Gott neben sich und um sich nicht diese „Nichtigkeit“ [vgl. Röm 1, 21], diese auf den Nenner , Sünde4 zu bringende Größe dulden. Der Zorn Gottes ist Gottes Nein gegenüber der Zumutung, diese Wirklichkeit nun einfach auch als Wirklichkeit gelten zu lassen. Und selbst wenn wir Menschen sie gelten ließen – Gott kann und wird das nicht tun. Und eben das weiß in einer besonderen Weise, die nicht von den Tatsachen zur Ursache, sondern von der Ursache zur Tatsache geht, das AT: Es weiß, dass wir dahin müssen durch seinen Zorn [vgl. Ps. 90, 9], es weiß, dass die Gesetzgebung Leben und Tod bedeutet [vgl. Dtn 30] , es weiß, dass Gott in einem heiligen Volk leben will – und nur in ihm. Das ist die Größe des AT, dass es sich nicht begnügt mit der Harmonisierung und Versöhnung von Gott und Welt, sonderneben darin als widergöttlich erwiesen wurde, dass Gott das Werk der Versöhnung selbst übernommen hat. Der Sühne-Gedanke liegt in allen natürlichen Religionen und Kulten vor, weshalb diese ja auch nicht irgendwelchen Phantasien entstammen, vielmehr einen sehr realen und oftmals erschütternden ernsten Akt im Handeln einer leidenden und gequälten Menschheit darstellen, die versucht, sich mit dem Himmel zu versöhnen. Es ist ein Wissen da um Schuld und die Meinung, dass Schuld und Strafe Zusammenhängen: von daher der Versuch der Menschen, der so alt ist wie sie selbst und den keine Aufklärung ihnen je wird ausreden können, die Götter zu versöhnen. Das ist die Wurzel aller Kulte.In diesem Sinne haben auch der Kult und das Opfer seinen Platz im AT gefunden, und zwar so deutlich und so entschieden, dass hier als beherrschend heraustrat, was bei den Heiden sozusagen mehr an den Rand gedrängt war und nur hin und wieder aufbrach. Gerade jenes leidenschaftliche Bemühen, Gott zu versöhnen, beherrscht das Leben des alttestamentlichen Gottes-volks. Hier weiß man, dass die Sünde, damit dass sie getan ist, nicht hinter uns liegt, sondern dass sie weiterlebt, dass Gottes Arm noch ausgereckt ist, dass solche Menschentat damit, dass sie geschehen ist, eine Wirklichkeit wurde (etwa Kains Bluttat), die als solche nun auch die Wirklichkeit unseres Lebens gestaltet, und dass darum Gottes Grimm und Zorn über eben dieser Wirklichkeit steht. Es ist undenkbar, dass Gott auf die Sünde, die Übertretung seines Willens, nicht reagiert, undenkbar, dass er schwiege, wenn sein Name missbraucht, seine Anrufung unterlassen oder wenn er gar verraten wird, um anderen Göttern zu dienen.

Es fällt auf, dass die Bibel unbedenklich vom Zorn Gottes redet, von seinen Gerichten und von seinem Grimm, beispielhaft im 1. Kapitel des Römerbriefs, in dem Paulus geradezu die Quintessenz der Zomesworte Gottes aus dem AT zusammengetragen hat. Dieser Zorn ist aber nichts anderes als das Verhalten Gottes zu der durch die Tat des Ungehorsams bestimmten Wirklichkeit des Menschen und der Welt. Wenn die Welt Gottes Welt ist, kann Gott neben sich und um sich nicht diese „Nichtigkeit“ [vgl. Röm 1, 21], diese auf den Nenner ,Sünde‘ zu bringende Größe dulden. Der Zorn Gottes ist Gottes Nein gegenüber der Zumutung, diese Wirklichkeit nun einfach auch als Wirklichkeit gelten zu lassen. Und selbst wenn wir Menschen sie gelten ließen – Gott kann und wird das nicht tun. Und eben das weiß in einer besonderen Weise, die nicht von den Tatsachen zur Ursache, sondern von der Ursache zur Tatsache geht, das AT: Es weiß, dass wir dahin müssen durch seinen Zorn [vgl. Ps. 90, 9], es weiß, dass die Gesetzgebung Leben und Tod bedeutet [vgl. Dtn 30] , es weiß, dass Gott in einem heiligen Volk leben will – und nur in ihm. Das ist die Größe des AT, dass es sich nicht begnügt mit der Harmonisierung und Versöhnung von Gott und Welt, sondern dass es weiß und herausarbeitet, dass Gott selbst versöhnt sein muss und dass sein Zorn alles, selbst das erwählte Volk und selbst die Stätte seiner eigenen Anbetung nicht schont. Zorn Gottes heißt im AT: dass es kein Mittel gibt, um vor Gott zu bestehen, wenn er Sünden anrechnen will [vgl. Ps 130, 3], dass das Mittel, den Zorn zu wenden, allein in Gott selber liegt.

Der gekreuzigte König

Nachfolgend die Kurzversion einer Rezension, die vollständig in Glaube & Denken heute 2/2014 erscheinen wird. Besprochen wird das Buch:

91blY7fUXyLDie Bibel überliefert uns eine Fülle von Begriffen, Bildern und Zugängen zum Versöhnungswerk von Jesus Christus. Gustaf Aulén sprach 1930 in seinem berühmt gewordenen Aufsatz von „drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens“ (Zeitschrift für Systematische Theologie, Jg. 8, 1930, S. 501–538). Der klassische Christus-Victor-Typus betont die Siegestat von Christus über die Mächte des Bösen. Der lateinische Typus der Versöhnungslehre hebt demgegenüber den Gerechtigkeitsausgleich hervor, der Gott gegeben wird. Der subjektive Typus der Versöhnungslehre unterstreicht, dass der völlige Gehorsam von Jesus Christus Vorbildcharakter für seine Jünger hat.

Seit der Aufklärung finden vor allem humanisierende Ansätze der Versöhnungslehre Anklang, so dass bevorzugt von der Liebe Gottes und dem Reich Gottes gesprochen und dabei das stellvertretende Sühnopfer heruntergespielt oder gar umgedeutet wird. Oft ist in der Verkündigung zudem eine Dichotomie zwischen der Betonung des Kreuzes einerseits und der Hervorhebung von Gottes Reich andererseits zu finden. Das führt schnell dahin, dass Jesus Christus entweder als Erlöser oder als Herr gepredigt wird. Die einen rufen die verlorenen Sünder zur Umkehr und vergessen, dass Jesus das Leben der begnadigten Sünder umgestalten möchte. Die anderen träumen von einer Transformation der Welt unter dem König Jesus, unterschlagen aber den persönlichen Ruf zur Vergebung und Umkehr, der nur ergehen kann, weil Jesus Christus am Kreuz stellvertretend für uns Sünder gestorben ist.

In seinem Buch The Crucified King zeigt Jeremy Treat, dass die beiden großen biblischen Themen Sühne und Reich Gottes unauflösbar miteinander verbunden sind und jede künstlich herbeigeführte Aufspaltung nicht nur am Schriftbefund vorbeigeht, sondern darüber hinaus zu einer theologischen Schieflage führt.

Die Untersuchung geht auf eine Dissertation zurück, die Treat am Wheaton College unter der Betreuung von Kevin Vanhoozer erfolgreich abgeschlossen hat. Er wollte die Frage klären, wie genau „die biblische und theologische Verbindung zwischen dem Kommen des Reiches Gottes und dem sühnenden Tod des Christus am Kreuz aussieht“ (S. 25). Wenn wir die Geschichte und Logik des Heilshandelns Gottes mit wachen Sinnen interpretieren – so Treat – kann die Antwort letztendlich nur Jesus, der gekreuzigte König, sein (S. 25).

Im ersten Kapitel (S. 53–67) wird das Motiv „Sieg durch Opferleiden“ im Alten Testament beleuchtet. Der Autor findet es beispielsweise im Protoevangelium (Gen 3,15), bei Abraham, im Exodus oder im Leben des Königs David. Das zweite Kapitel bietet eine detaillierte Studie über den leidenden Gottesknecht im Propheten Jesaja (bes. Kapitel 52–54). Die Menschheit hat die Herrschaft Gottes auf Erden nicht angemessen repräsentiert. Deshalb hat Gott einen Menschen aus der Linie Davids verheißen, durch den er in Ewigkeit regieren wird. Dieser messianische König ist Gottes Arm (53,1; 40,10); durch ihn kommt das neue Gottesreich (Jes 1–39), der neue Exodus (S. 40–55) und die neue Schöpfung (S. 56–66). „Das stellvertretende Sühneopfer des Knechts versöhnt Sünder mit Jahwe, initiiert aber auch den neuen Exodus und Jahwes Herrschaft auf der Erde, …“ (S. 85).

Obwohl Treat darauf hinweist, dass für Moltmann „das Kreuz weniger für die Sühnung von Sünden steht, als vielmehr das Kommen Gottes offenbart“ (S. 236), geht unter, dass seine Theologie des Kreuzes, falls man sie noch so nennen möchte, zunehmend in einer „politisch instrumentalisierten Eschatologie untergegangen“ ist (so urteilt: Michael Korthaus, Kreuzestheologie, 2007. S. 294). Die Leiden am Kreuz erlitt Jesus „in Solidarität mit anderen, in Stellvertretung für viele und in Vorwegnahme für die ganze leidende Schöpfung“ (Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 1989, S. 173). Die Leiden Christi „sind also nicht auf Jesus beschränkt, sondern haben universale Dimension“ (ebd.).

Mancher Leser wird sich hin und wieder fragen, was denn Treats „gekreuzigten König“ von N. T. Wrights „göttlichem König“ unterscheidet (vgl. N. T. Wright, How God Became King, 2012). Treat beantwortet die Frage auf S. 247 in einer längeren Fußnote. Nach eigener Aussage geht er (1) methodisch anders vor, da er biblische und systematische Theologie umfassender einarbeitet. Er verneint (2) Wrights Diagnose, demnach die Reformatoren für die Scheidung von Gottesreich und Kreuz verantwortlich sind, und nimmt die Moderne in die Pflicht. Schließlich räumt er (3) dem stellvertretenden Sühneopfer einen größeren Stellenwert als Wright ein. Die durch Jesu Tod mögliche gewordene persönliche Sündenvergebung will er nicht gegen die bedeutsamere politische Rückkehr aus dem Exil ausspielen. Von Wrights Eschatologie grenzt Treat sich nicht ab. Überhaupt werden eschatologische Fragen nur am Rande besprochen, so dass unklar bleibt, wie genau die Vollendung des Reiches Gottes nach Treat zu denken ist.

Das Buch, das neben einer umfangreichen Bibliographie ein Bibelstellenverzeichnis sowie Begriffsregister und Autorenregister enthält, ist aber insgesamt sehr lesenswert. Michael Horton schreibt in seinem Vorwort: „Es ist eine Sache, die Integration von biblischer und systematischer Theologie (unter anderen Dingen) zu verlangen, eine völlig andere, das auch wirklich zu tun“ (S. 18). Treat kombiniert exegetischen Betrachtungen mit biblischer und systematischer Theologie in vorbildlicher Weise. Sein Anliegen, unbiblische Dichotomien zu überwinden, ist nicht nur berechtigt, sondern wird im Einzelnen sorgfältig begründet.

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